Ansprachen

      

33. Ansprache zur Aufnahme ins Noviziat der Patres Garnier, Poisson und Meraut am 06.11.1893.

Heute rufe ich all eure Aufmerksamkeit, meine Freunde, auf eine Lehre, die ihr vielleicht nicht ahnt, deren Wichtigkeit ihr aber gleich einsehen werdet. Diese Wahrheit ist, dass die ganze Vollkommenheit des Ordenslebens in den kleinen Dingen liegt.

In der Welt draußen kümmert man sich gewöhnlich nicht um Kleinigkeiten, um unbedeutende Akte. Gott aber handelt und urteilt anders. Denn gerade die kleinsten Dinge machen den wesentlichen und fast einzigen Schatz des Ordensstandes aus.

Wundert euch das? Wisst ihr nicht, dass gerade die unscheinbarsten Tatsachen und Vorkommnisse der Weltgeschichte die weittragendsten Folgen zeitigten? Nehmt nur die Bibel zur Hand, öffnet und lest sie: dann werdet ihr sehen, dass alles, angefangen vom „Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde“ bis zum „Maranatha“ (Anm.: „Komm, Herr Jesus Christus…“), das die Geheime Offenbarung abschließt, auf dieser Wahrheit beruht.

Sagt mir, was ist die Erbsünde, die tausend und abertausend Seelen in die Hölle stürzt und die Erde mit Sünden und Verbrechen bedeckt? Eine Frau nimmt da aus Neugier eine Frucht und isst sie. Das war doch fast nichts, oder? Es war nicht einmal eine Sünde der Leckerhaftigkeit, da Eva nach Belieben alle möglichen Früchte zu ihrer Verfügung hatte. Sie litt somit keinen Hunger. Es war eine ganz einfache, kleine Neugier. Und welche Konsequenzen hatte das? ... Das ist ein ganz einsichtiger Beweis.

Ihr werdet mir ohne Zweifel entgegenhalten: Aber Gott hatte doch verboten, an dieser Frucht sich zu vergreifen. Gewiss war das Verbot Gottes eine ernste Sache, doch die Tat an sich, vom Befehl Gottes abgesehen, konnte fast unbeobachtet übergangen werden.

Fahren wir fort: Das ganze Volk Israel war in der Wüste versammelt. Gott hatte ihm Moses als Führer gegeben. Gott hatte ihn trockenen Fußes durchs Rote Meer gehen lassen, und ihm das Gesetz am Berg Sinai übergeben. Dieser Wundertäter, dem Herzen Gottes so überaus teuer, muss alle anderen ins Gelobte Land führen, ohne es selber zu betreten. Warum das? Zur Strafe: Das Volk hatte gemurrt, weil es nicht zu trinken hatte. Und Gott sprach zu Moses: Schlag mit deinem Stab auf den Felsen Horeb, dann wird eine lebendige Quelle heraussprudeln! Doch beim Schlagen kommt ihm ein Zweifel: Wie soll ich da eine Quelle heraussprudeln lassen, wie soll ich einen Felsen öffnen? Er schlägt ein zweites Mal, und die Quelle tritt tatsächlich hervor. Aber Gott sagt zu ihm: Du wirst das Gelobte Land nicht betreten. Du darfst es zwar sehen, aber nicht betreten. Und das, weil dieser dem Herzen Gottes so teure Mann einen Augenblick unentschlossen war und zwei Mal statt bloß ein einziges Mal gegen den Felsen gehauen hatte. Wer von uns hätte noch nicht solche Augenblicke der Unentschlossenheit erlebt?

Später litt das Volk Gottes eine schreckliche Hungersnot, weil der Regen ausblieb. Elias beginnt zu beten und ruft den Himmel an. Der aber blieb verschlossen. Der Prophet besteigt den Berg Horeb, und als er mühsam eine Wüste durchquert, ruft er aus: Ist es nicht besser, dass ich sterbe, als dass ich das ganze Volk zugrunde gehen sehe? O Gott, gib mir ein Zeichen, dass mein Gebet erhört wird. Er betet mit dem ganzen Volk, und das Zeichen erscheint: Ein unscheinbares Wölkchen, nicht größer als eine Fußspur eines Menschen, lässt sich in der Ferne beobachten, ein Nichts. Elias aber hat Vertrauen und kündet dem Volk das Ende der Hungersnot an. Die unscheinbare Wolke verdichtet sich, bedeckt den ganzen Himmel, und ein reichlicher Regen fällt zur Erde. Hätte er angesichts solch eines unbedeutenden Zeichens gezweifelt, was wäre wohl geschehen? Und die Wichtigkeit solch unbedeutender Dinge finden wir in der ganzen Bibel des Alten Testamentes auf jeder Seite bestätigt.

Öffnen wir jetzt das Evangelium: was bedeutet das Wort, das Jesus auf der Hochzeit zu Kana an seine Mutter richtet? Jesus nahm zusammen mit seinen Jüngern an der Hochzeit teil. Der Wein wurde schließlich knapp. Da wendet sich die hl. Jungfrau an den Herrn mit den Worten: „Sie haben keinen Wein mehr.“ – „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“, war seine Antwort. Doch schon nach wenigen Augenblicken ruft er den Speisemeister, lässt ihn sechs Steinkrüge füllen, die sich da für die Reinigung vorfanden. Sie sind nicht sehr groß, diese Krüge. Ich sah einen davon in Aachen, wo solche aufbewahrt sind (Anm. des Übersetzers und des Bearbeiters: „Wenn das kein Schreibfehler ist, wäre es ein Hinweis, dass P. Brisson einmal im Deutschen Reich gewesen sein muss!“). Einige Minuten genügten offenbar, um die Stunde der Macht Christi anbrechen zu lassen. Betrachtet Jesus in den verschiedensten Umständen seines Lebens. Stunde für Stunde folgt er den Voraussagen der Propheten und erfüllt sie. Pünktlich befolgt er gleichsam seine Regel, sein Direktorium. Beobachtet ihn in seinem Leiden vom Ölgarten bis nach Kalvaria, und lest bei Jesaja nach und den Propheten: die geringsten Einzelheiten hat er genau entsprechend den Prophezeiungen erfüllt. Und das „consummatum est.“ (Anm.: „Es ist vollbracht.“), das letzte Wort, das aus seinem Herzen und seinen Lippen aufsteigt, ist Ausdruck der exaktesten Wahrheit. Begreift ihr jetzt den Wert eines einzigen Wortes, der kleinsten Handlung? Das ist etwas, ein Wort im Stillschweigen gesprochen, oder ein noch so kleiner Verstoß gegen die hl. Regel! Eine überlegte und gewollte Übertretung bedeutet den Verlust von göttlichen Gnadengaben. Das ist wie Eva, die von der verbotenen Frucht isst, oder Mose, der zwei Schläge gegen den Felsen Horeb führt. Woher kommt es denn, dass überall in unserer Umgebung der Glaube so geschwächt erscheint? Ich bin überzeugt, dass dies nicht von schwerwiegenden Vergehen herrührt und von Todsünden, sondern von solch nichtigen Kleinigkeiten, die ich euch da genannt habe. Noch einmal, alles in der Hl. Schrift, vom ersten bis zum letzten Wort, bestätigt diese Lehre.

Oder nehmt die hl. Gotteswissenschaft her: Was ist schon unser Herr im heiligsten Sakrament? Ein bisschen Brot, das ihr mit dem Gesichts und dem Tastsinn erfasst. Oder was stellt schon der Tropfen Wasser vor, den wir zur Taufe benutzen? Und doch, ohne diesen Tropfen keine Taufe! Ohne dieses Stückchen Brot, das der Priester zum Altare trägt, keine Eucharistie!

Diese Wahrheit heißt es begreifen, meine Freunde. Was immer ihr unternehmen möget, vernachlässigt ihr die kleinen Dinge, dann erreicht ihr nichts. Gewiss stellen diese kleinen Verstöße keine Materie von Sünden dar. Gibt es aber ein Sakrament ohne Materie? Nun gut, die Materie des Ordenslebens sind eben diese kleinen Dinge und sonst nichts.

Was ich euch da sage, mag euch sonderbar erscheinen. Ich will keine Texte zitieren, aber ich bringe euch hier das ganze hl. Buch, die ungeschmälerte Lehre zum Bewusstsein und sage euch: Nehmt und lest und zieht die Konsequenzen daraus. Wenn ihr unseren Herrn liebt und wahrhaft ihm gehören wollt, müsst ihr ihm dienen, wie er es will und liebt. Tut darum gern, wie er es getan hat. Gebt euch ihm hin aufs Wort und zum gewünschten Zeitpunkt. Und würde euch dieses Wort den Tod kosten, nehmt es ohne einen Abstricht an, denn so hat auch unser Herr getan.

Diese Wahrheit beruht ja auf der Liebe, die wir gegen Gott hegen sollen. Gott sollt ihr ja aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und aus all eueren Kräften lieben. Übergeben wir uns darum ganz und ungeteilt dieser Liebe. Die wahre Liebe begreift, will und sieht voraus.
Sagen wir zu Jesus: „Herr, wir möchten dich lieben, mit einer unbegrenzten Liebe, wie sie deiner Liebe entspricht…“ Erbitten wir diese Gnade von unseren Stiftern und der Guten Mutter Maria Salesia. Hättet ihr bloß, wie ich es konnte, ihre Briefe, ihren Willen, ihre Gewissenhaftigkeit, ihr ganzes Leben gesehen! Wie vortrefflich sie diese Lehre verstand: dass es die Treue zu den kleinsten Vorschriften ist, die die echte Liebe zu unserem Herrn charakterisiert.

Ihr, meine lieben Freunde, wollt in unsere Kongregation eintreten. Erbittet darum von unserem Herrn als besondere Gnade, dass ihr den Wert der kleinen Dinge begreift, die hier auf Erden die großen Dinge und noch viel größere im Himmel vorbereiten.