Ansprachen

      

25.  Ansprache zur Profess der Patres Lelievre, Petitot und von Vauberecy sowie zur Aufnahme ins Noviziat der PP. Vautrin und dreier anderer am 19.05.1891.

Liebe Freunde, Petrus und Johannes sagten zu den neu bekehrten Gläubigen: Habt ihr schon den Hl. Geist empfangen? Diese antworteten: Nein, sondern wir wurden nur getauft auf den Namen des Herrn Jesus. Dieselbe Frage richte ich jetzt an euch, meine Freunde: Habt ihr den Hl. Geist schon empfangen? Ihr werdet mir antworten: Wir sind getauft worden, haben die hl. Erstkommunion empfangen, wir sind gefirmt worden, sind also ganz und gar Kinder der katholischen und apostolischen Kirche. Und ich antworte euch wie die Apostel: Das genügt nicht für euch. Habt ihr den Geist der Berufung in den Orden erhalten, in den ihr eintreten wollt? Denn von jetzt an verlangt man von euch nicht mehr bloß, die strengen Pflichten eines Christen zu erfüllen. Man verlangt mehr: Nicht mehr bloß die persönlichen Opfer, die die christliche Nächstenliebe verlangt, was also jeder Christ sich auferlegen muss. Viel größere Opfer werden euch abverlangt, eine viel weiter gehende Hingabe. Ein Geist, eine Seinsart, eine Lebensform wird von euch gefordert, die man von den anderen nicht erwartet. Habt ihr all diese Qualitäten? Habt ihr den Hl. Geist empfangen? Wenn ihr aber all das nicht besitzt, seid ihr wenigstens entschlossen, es zu werben?

Der Ordensmann, das bestätigte mir, Seine Heiligkeit, Papst Leo XIII., ist für unsere Epoche notwendig. Schaut nur, welch geringe Erfolge die Anstrengungen für das Gute hervorbringen! Wie wenig Einfluss hat doch die gute Presse! Die christlichen Familien sind verloren inmitten gleichgültiger Massen. Der Familienvater ist dabei ein höchst ehrenwerter und gewissenhafter Mann, der alle seine Pflichten gegenüber Gott vollkommen erfüllt. Seine Gattin ist bescheiden und tugendhaft und hat alle häuslichen Qualitäten. Und seine Kinder wachsen heran, um ihn geschart wie Olivenschösslinge. Später werden sie in den Spuren ihrer Eltern voranschreiten. Aber: Diese Familien sind isoliert und umgeben von unglücklichen, leidenden und mutlosen Familien, ohne Hoffnung, hier unten und ewige Zukunft drüben. Das herrliche Beispiel, das sie vor Augen haben, rührt sie wenig.

So ist das Erscheinungsbild, meine Freunde. Das Gute erscheint ohnmächtig. Diese der Hoffnung erstorbenen Seelen sehen vor sich überraschend gute Beispiel und sagen sich doch nicht: Wie wär es, wenn ich auch so würde!

Schlechte Lektüre überschwemmt die Welt! Wer nimmt schon gute Schriften zur Hand? Niemand. Der Becher der Lust geht von einer Hand zur anderen, alle führen ihn zum Mund. Enthielte er das (ewige) Leben, würde niemand ihn auch nur mit den Fingerspitzen berühren. Das ist der charakteristische Zug unserer Zeit, in der wir leben. Und da sagte Leo XIII. zu mir: „Geben Sie mir Männer des Opfers, Männer des Opfers, selbstvergessene Ordensmänner bis zum Blutvergießen. Mit solchen kann ich das Angesicht der Erde erneuern.“ So sähe aber der Ordensmann des hl. Franz v. Sales aus. Er geht auf einen ihm unbekannten Menschen zu, tritt in eine Familie ein, aus der Glaube und Glück verschwunden sind. Er geht ganz einfach hin, doch sein Wort kommt aus tiefer Überzeugung. Man spürt bei ihm die Liebe, die im Herzen unseres hl. Stifters brannte.

Was suchte er denn in eurer Nähe? Seine persönliche Befriedigung? Nein, sondern euer Glück! Das spürt jedermann und versteht es. Und die Wirksamkeit dieses guten Ordensmannes ist so gesichert, dass ein Erfolg fast ausnahmslos gewährleistet ist.

Der gute Ordensmann und treue Beobachter seiner Ordensregel scheint von einer Atmosphäre umgeben zu sein, die seinen Zugang leicht und angenehm macht. Gott verleiht seiner Stimme den notwendigen Klang, den günstigen Ausdruck, die gewünschte Kraft.

Ihr seid, meine Freunde, im Plane Gottes und seiner Vorsehung der heutigen Gesellschaft notwendig. Teilen die alten Orden euer Privileg? Ja, in verschiedenem Maße. Jeder Orden wurde in einer Epoche geboren, wo er nötig war. Man zieht keine Kleider an, die am Nordpol vereist sind. In den eisigen Zeitläuften, in denen wir leben, braucht es etwas anderes als eine rein politische, eine vom persönlichen Vorteil diktierte Liebe oder den eitlen Wunsch nach Ehre und Ruhm. Diese Dinge sind kalt, wie Augustinus sagt. Die Dienste, die ihr der menschlichen Gesellschaft zu leisten berufen seid, sind ungeheuer groß. Wir haben bereits Proben davon abgelegt. Soeben erhielt ich einen Brief von unseren Missionaren am Oranjefluss. Ein seltsames Phänomen wird dort unter diesen wilden, halbzivilisierten, von protestantischen Vorurteilen durchtränkten Menschen sichtbar: Sie kommen zu unseren Patres und Schwestern: Wir sind zufrieden und glücklich, dass ihr da seid. Sagt uns bloß, warum… Da bleibt nicht viel zu predigen, um sie vollends zu bekehren und für Gott zu gewinnen.

Was wir in den fernen Ländern unserer Missionare feststellen, das erleben wir aber auch hier in der Ausübung unserer hl. Seelsorge bei unseren Gläubigen hier. Die Seelen, die wir mit der Lehre des hl. Franz v. Sales und der Guten Mutter nähren, gewinnen Vertrauen zu Gott und wollen ihm treu bleiben. Täglich begegnen wir Seelen, die verstehen, dass Gott das höchste Gut ist, dass es für die Seele ein Glück ist, ihm zu dienen, dass Tugend und Heiligkeit keine außerordentlichen Dinge sind, sondern sich leicht in das Leben des Alltags integrieren lassen: Es lässt sich ohne allzu große Anstrengung leben, wenn man zum Himmel blickt, auf unserer Erde zwar wie alle anderen, aber mit der Sicherheit des Friedens und der Freude des glückseligen Lebens gestärkt dahingeht. Das sind die Dienste, die ihr der Menschheit zu erweisen berufen seid. Dazu ist es aber erforderlich, dass ihr euch treu erweist in dem, was unser hl. Stifter und die Gute Mutter uns lehren, und was ich selbst euch nahebringe: Denn das ist unser Glaubenserbe. Die Fabel erzählt das Wort eines Greises an seine Kinder: Ich lasse euch ein äußerlich recht bescheidenes Erbgut zurück, doch ein Schatz verbirgt sich darin. Ich verrate aber nicht, wo. Nehmt den Pflug und pflügt die Erde um, dann findet ihr den Schatz. Nun, die Kinder gaben sich Mühe, stoßen aber nicht auf den verborgenen Schatz. Doch eine reiche Ernte belohnt ihre Mühe, und darin finden sie den wirklichen Schatz.

Bewahrt darum, meine Freunde, treu, was man euch im Noviziat lehrt. Die Lehre und das Direktorium, die euch da überliefert werden, bedecken nur einen kleinen Horizont. Aber ich sage euch wie der Greis: Es liegt in diesem Flecken Erde ein kostbarer Schatz verborgen. Er kann euch reich machen, kann eure Einsamkeiten inmitten eurer Umwelt bereichern. Bearbeitet darum fleißig dieses Erbgut, das euch da hinterlassen ist, und sucht nicht anderswo herum. In den Lehren, die man euch anderswo vorsetzt, findet ihr vielleicht großartige und herrliche Dinge. Lasst sie links liegen. Bearbeitet euren kleinen Acker und habt Vertrauen, denn dieses bescheidene Feld wird euch eine über alle Erwartung hinaus reichliche Ernte einbringen.

Ich erinnere mich, äußerst gerührt worden zu sein durch das Wort einer Oberin der Heimsuchung, der Mutter Paula-Serafina, die sich im Amt der Oberin mit der Guten Mutter abwechselte. Sie sagte es mir im Augenblick ihres Sterbens. Sie hatte einen lebhaften und intelligenten Charakter und war hoch begabt. Es scheint, dass sie sich im Geist der Heimsuchung immer etwas beengt fühlte. Davon sprach man mitunter hinter vorgehaltener Hand. Sie gestand mir also im Augenblick ihres Todes: Unser Herr hat das Hundertfache in dieser Welt jenen versprochen, die sich ihm überlassen und ihm aus ganzem Herzen dienen. Was er mir geschenkt hat, übertrifft alles, was man ausdrücken kann…

Wenn ihr, meine Freunde, treu seid, werdet ihr in diesem Leben viel Gutes wirken und im Augenblick des Sterbens voller Glück sein. Gott hat das Hundertfache versprochen, ihr aber werdet noch ganz anderes dazu erleben, wie man es in keinem anderen Orden erfährt. Wieviel Ordensleute pressen beim Sterben ihre müden Arme auf ihre bedrückte Brust und fragen sich: Habe ich wohl den Willen Gottes im Leben erfüllt? Bin ich der Liebe oder des Hasses Gottes wert? … Wenn euch der Tod ruft, könnt ihr sprechen: „Herr, da bin ich, ich gehe ohne Bangen zu Dir. Ich bin zwar ein armer, erbärmlicher Sünder, doch fürchte ich nichts, weil ich immer versucht habe, Deinen Willen zu tun. Ich gehe zu Dir wie ein Kind zu seinem Vater.“

Meine Freunde, diese Gewissheit lohnt wahrhaftig die Mühe, sich Gott auszuliefern. Solch gesicherter und großartiger Lohn, der Friede und Heiterkeit der Seele während des Lebens und besonders im höchsten Augenblick des Todes wiegen überreich etwas Anstrengung und Mühe auf. Das bedeutet, Gott im Himmel umfangen und ihn auf die Erde herab holen, sowie jene, die um uns sind, an diesem Schatz und dieser himmlischen Freude teilnehmen zu lassen. Seid also frohen Mutes und seid entschlossen, in jedem Augenblick von Gott bereit erfunden zu werden und zu ihm zu sprechen: „Herr, da bin ich.“