22. Ansprache bei der Zulassung zum Noviziat der Patres Boney, Vauberecy und Krolikowsky am 09.02.1890.
- gehalten zu St. Bernhard -
Viele Seelen kommen zu mir, schreibt der hl. Franz v. Sales an die hl. Mutter Chantal, um zu erfahren, wie man Gott dienen muss. Helfen Sie mir durch Ihre Gebete, denn was den Eifer betrifft, so habe ich ihn mehr denn je.
Aber sehen Sie, fügt er mit reizender Einfalt hinzu, soviel Kinder werfen sich in meine Arme, dass ich die Kraft verlöre, wenn die Gottesliebe mich nicht stärken würde.
Die Güte des Heiligen zog ihm eine Menge Seelen zu. Die Klarheit und Sicherheit seiner Lehre erleuchtete und beruhigte sie. Als die Philothea erschien, war dies in der christlichen Welt ein Ereignis. Sie wurde in kurzer Zeit in sämtliche Sprachen übersetzt.
Der hl. Stifter hatte sich als ein unvergleichlicher Seelenführer entpuppt, und wie es scheint, als ein einmaliger Seelenführer. Bei ihm musste man in Zukunft die Lehre ebenso wie die Liebenswürdigkeit seiner Liebe borgen. Sein Tod machte der allgemeinen Bewunderung kein Ende. Wir wollen nur drei große Namen zitieren, die das 17. Jahrhundert beherrschen: Bossuet, Fenelon und Bourdaloue, drei so verschiedenartige Geister, aber so hochstehend, dass sie klar unterscheiden und sicher urteilen konnten. Was schulden wir doch dem hl. Franz v. Sales! So schreibt Bossuet uns an Schwester Cornuau. Wie dankbar müssen wir ihm sein, dass er uns die Regeln der Seelenführung gelehrt hat! Wie hoch ist doch die Lehre dieses großen Heiligen einzuschätzen! Mein ganzes Leben will ich sie mir zum Vorbild nehmen, da unser Herr selbst keine andere gelehrt hat.
Fenelon, getäuscht durch eine schlechte Ausgabe der „Geistlichen Gespräche“, glaubt sich auf die Lehre unseres Heiligen stützen zu können, um seine großzügigen, aber allzu phantastischen Theorien von der göttlichen Liebe verteidigen zu können. So geschickt im Übrigen in der Leitung der Seelen, rät er ohne Unterlass, die himmlischen Schriften des Bischofs von Genf zu lesen: Alles sei hier Erfahrung, einfache Praxis, Idee und Licht der Gnade. Da heißt es aber schon weit fortgeschritten sein, wenn man sich bereits an diese Natur gewöhnt hat.
Hören wir den so sorgfältigen abwägenden und klugen Bourdaloue: „Ich kann behaupten, ohne den Respekt allen anderen geistlichen Schriftstellern gegenüber zu verletzen, dass es nach der Hl. Schrift kein Werk gibt, das bei den Gläubigen die Frömmigkeit mehr genährt hätte als das des hl. Bischofs von Genf. Was ist es nun eigentlich, meine Brüder, was diese Lehre so universal und wirksam macht, dass die Gelehrten daran nichts unter ihrem Niveau und die Schwachen sie nicht zu erhaben finden, dass sie allen Situationen gerecht wird und es keine Veranlagung gibt, die davon nicht beeindruckt würde? Es ist jene unschätzbare Liebenswürdigkeit, die aus der Feder unseres hl. Bischofs Milch und Honig träufeln lässt. Da gibt es im christlichen Gesetz nichts Schwieriges, was sie nicht umfinge, und selbst darin wird er der Lehre Jesu Christi mehr gerecht, hat doch der Herr gesagt, sein Joch sei mild.
Nach derartigen Zeugnissen ist es nicht zu kühn zu behaupten, das 17. Jahrhundert habe ein so lebensfähiges christliches Leben bewahrt, dass es dem Jansenismus widerstehen konnte, vorzüglich dank der so reinen und wahren Lehre des hl. Franz v. Sales. Desgleichen kann man von unserem 19. Jahrhundert sagen, es habe zum wahren Glauben und der Sakramente zurückgefunden, weil die Schriften des sanften Bischofs von neuem einen fast universellen Einfluss zurückerobert haben.
Kardinal Pie von Poitiers scheut sich nicht, mit all seiner unbestreitbaren Erfahrung und Autoritäten, folgende Zeilen niederzuschreiben: Nirgendwo, wo sich in diesen letzten Zeiten bei Menschen eine heroische Heiligkeit gezeigt hat, die die Kirche auf die Altäre bereits erhoben hat oder demnächst erheben wird, bei Priestern ebenso wie bei Gläubigen mit hervorragendem Wissen und Tugend, in der Welt wie im Kloster, kann man in Abrede stellen, dass die Bücher des hl. Bischofs von Genf einen tiefen Einfluss ausgeübt haben, und dass der überaus lebhafte und reine Glanz all dieser Seelen ein Strahl des Lichtes und der Wärme ist, die von ihm ausgehen.“ (Brief an Papst Pius IX.).
Lässt sich dieser christliche Einfluss, dessen Überlegenheit so hoch und klar strahlt, aber noch weiter ausdehnen? Kann man diesen Geist, der dem Geist Jesu Christi so wesensverwandt ist, in alle Ränge der christlichen Gesellschaft hineintragen? Wir glauben es und sind davon überzeugt.
Bis jetzt hat man sich damit begnügt, die Werke des Heiligen neu herauszugeben, Auszüge davon zu liefern, seine Gedanken und Grundsätze zu verbreiten. Wir sprechen nicht von den gewissenhaften und manchmal sehr bedeutenden Studien, die, besonders seit seiner Erhebung zum Kirchenlehrer, in unserem Jahrhundert immer eifriger betrieben wurden. Seine Lehre muss immer besser gekannt werden, und das wird sie nur, wenn sie jeden Tag angewandt wird. Der hl. Franz v. Sales hat mit seinen Satzungen voll wunderbarer Weisheit, Diskretion und Güte den Schwestern der Heimsuchung etwas gegeben, was meines Wissens kein anderer Ordensgründer getan hat: Ein Direktorium, das ganz durchtränkt ist von seinem Lehrgehalt, seiner Liebenswürdigkeit und seiner Gottesliebe. Er führt die Seelen auf einem sicheren und leicht gangbaren Weg, wie die Kirche in seinem Festoffizium sagt. Warum sollten die Christen in der Welt nicht von dieser Hilfe, und dieser Leistung profitieren? „Niemand“, sagt Benedikt XIV., „kann diese Lektüre vornehmen, ohne sich ganz von der Gottesliebe und dem Wunsch nach Heiligkeit erfüllt zu sehen!“
Was sollen wir nun sagen von der beständigen Anwendung der Lehre unseres Heiligen, die in jedem Augenblick unserer Existenz von uns gelebt wird? Was er selbst praktiziert hat als Student zu Paris und Padua, als Propst des Genfer (Dom- )Kapitels, als Missionar im Chalabis, als Bischof inmitten der Arbeiten einer ausgedehnten Verwaltung, wird hier von jedem seiner Schüler wiederholt, im gleichen Geist und mutvollen Schwung praktiziert, der ihn selbst jeden Augenblick zu Gott geführt hat. Das ist das Leben, von dem der hl. Paulus sagt: Ein Leben mit Christus, verborgen in Gott. Geschäfte, Beziehungen zur Welt, Sorgen um die eigene vermögen sie ebenso wenig auszutrocknen und zu vermindern wie die Versuchungen des Reichtums, die Prüfungen des Arm-Seins oder Krankseins. Der Geist bleibt überall frei, weil die Seele im Frieden ist. Gott ist gegenwärtig und man lebt und handelt in seinem väterlichen Blick. Seinen Willen will man ja erfüllen. Jesus Christus wird der unsichtbare und geheimnisvolle Gast, der diese Vereinigung mit Gott vollendet. Sämtliche ganz gewöhnlichen und notwendigen Handlungen des Lebens empfangen hier ihr belebendes Prinzip, so wie auch alle Übungen des Ordensstandes zu ihrer Bedeutung gelangen und den belebenden und befruchtenden Atem spüren. Man lebt für Gott und nicht für sich, man ist auf Erden, die Gedanken aber verweilen im Himmel. Man verhandelt mit den Menschen, indem man sich jedoch gleichzeitig mit Christus befasst.
Wie gelangen wir zur dieser Entblößung unser selbst? Durch tägliches Bemühen, demütig, langsam, aber beständig.
Und wie erreichen wir dieses Leben der Vereinigung mit Gott, ohne Furcht vor Entmutigung und Anmaßung? Indem wir unserem hl. Stifter Schritt für Schritt folgen. Mutlosigkeit, die sich so leicht auf die Seele niederschlägt, offenkundige Erfolgslosigkeit unserer Anstrengung, in der Versuchung stets neues Fallen, Unruhe, die unser Gewissen erschüttert, Schwachwerden, das uns überrascht, all das verdrießt den besten guten Willen. Da lehrt uns Franz v. Sales die passendste Gymnastik für den Kampf, stützt unseren Mut, klärt unsere Zweifel auf, hält tausend Geheimnisse bereit, uns von dem Fall wieder auf die Beine zu bringen und uns wieder aufzumuntern.
Die Selbstsicherheit, die uns Illusionen vorgaukelt, findet in ihm einen erbitterten Gegner. Die Phantasie, die unsere Träume vergoldet und unsere Anmaßung erhöht, wird bei ihm niemals Meisterin. Sie spielt eine gewisse Rolle als Hilfskraft für das gesunde Urteil, das sich in der Schule dieses liebenswürdigen Heiligen so gut entfaltet. Er liebt das Alltägliche, aus dem man sich leicht erheben kann, wünscht einen bescheidenen Kampf, wertvoll im Licht des eigenen Nichts, will unsere Kleinheit, die Gottes wegen geliebt wird, sowie willige Annahme der Führung des Hl. Geistes.
Zwei Wachposten stehen am Eingang unserer Seele: Die Demut und die Gottesliebe. Keine Möglichkeit bleibt da der Einbildung, in unseren Geist einzuschleichen, keine Möglichkeit auch der Niedergeschlagenheit, unser Herz zu erobern. Sollte es Überraschungsangriffe geben, werden die Wachposten schnell munter. Die Seele findet zu sich selbst zurück in aller Einfachheit, die auf Gott schaut und ihm dient und in der Hochgemutheit des Herzens sich zu ihm emporschwingt.
Das Direktorium, das auf diese Weise unser Leben durchdringt und es bei all seinen Aktionen leitet, es ohne Unterlass erleuchtet und bei den verschiedensten Umständen stützt, macht die Aufgabe eines Gewissensführers erstaunlich leicht und vereinfacht auf wundersame Weise seine Pflicht. Die Seelen brauchen da keine besonders gearteten Geist, keine speziellen Methoden und keine neuen Frömmigkeitsübungen anzunehmen. Unter der Anleitung dieses Geistes, so weit und licht wie er ist, sind sie einzig der Barmherzigkeit des Hl. Geistes ausgeliefert, der sie anregt und lenkt. Sie behalten ihr eigenes Wesen und werden durch keine fremde Aktion in ihrer Entfaltung auf Gott hin gestört. Denn wie alle Wesen haben die Seelen ihren eigenen Charakter, ihre besondere Physiognomie und Schicksale. Sie handeln, regen sich aber nicht auf, und werden von Gott geführt.
Um es kurz zu fassen, wollen wir einen Vergleich gebrauchen, der unserem Heiligen vertraut war: Er lässt uns Platz nehmen im Schatten eines Baumes, der Blüten und Früchte trägt. In der gleißenden Hitze des Tages, in der Ermüdung wild erregter Zeiten genießen wir in Frieden die Frische des Schattens, bewundern die Blüten, die sich entfalten, ihren Duft und ihre Schönheit, pflücken die Früchte, die uns nähren und tränken. Der Baum mit seinem schützenden Schatten, seinen reizenden Blüten und köstlichen Früchten ist Jesus Christus, die erquickende Ruhe unserer Seele, die herzerweiternde Freude, die Stillung unseres Hungers und Durstes nach dem Göttlichen und Unendlichen.
Wenn wir das Direktorium zur Hand nehmen, um es nie mehr aus der Hand zu legen, und in das der hl. Stifter seine ganze Weisheit und das Beste seiner Seele gelegt hat, dann können wir mit ausrufen: Es lebe Jesus! Es lebe Jesus! Ja, Herr, lebe und herrsche in unseren Herzen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen!
