Exerzitienvorträge 1900

      

6. Vortrag: Unsere Studien.

Heute Morgen sprach ich zu euch über die Theologie der Guten Mutter. Ich bin der Meinung, um meine Worte gut zu verstehen, sollte jeder von euch die Lebensverschreibung der Guten Mutter haben. Jeder Oblate sollte sie zur Verfügung haben, jeder es lesen und wiederlesen. Es müsste für jeden ein „Gebrauchsbuch“ sein, wie man früher sagte. Unsere Gebrauchsbücher sind die Hl. Schrift des Neuen Testamentes, die Satzungen und das Direktorium, unsere Theologie und das Leben der Guten Mutter. Zu diesem Zweck müssten wir eine gewisse Anzahl von Biographien der Guten Mutter den Oberen unserer Häuser zur Verfügung stellen.

Wie sollt ihr nun dieses „Leben der Guten Mutter“ lesen? Wie eine gewöhnliche Geschichte? Dann wäre es nicht der Mühe wert. Lest es mit Aufmerksamkeit und Ehrfurcht. Lest jedes Kapitel, so wie man Trauben presst, um mit unserem hl. Stifter zu sprechen, um den Honig zu erhalten. Ich hatte nie den Gedanken beim Schreiben, etwas Außerordentliches zu leisten. Und im Übrigen bin nicht ich es, der es geschrieben hat, sondern ich sagte mir: „Liebe Gute Mutter, ich stelle mich neben dich. Gib mir Wort für Wort ein, was ich schreiben soll. Soll ich dies schreiben, soll ich das festhalten?“ Und lässt mich glauben, dass Gott mit der Lektüre des Buches einige Gnaden verbindet, das bestätigt man mir von allen Seiten, so dass ich der Sache fast fremd gegenüberstehe. Wenn ich mich überhaupt ans Schreiben machte, geschah es, weil Bischof de Segur mir eines Tages sagte: „P. Brisson, wer ist Ihr Beichtvater?“ – „P. Gilbert.“ – „Sagen Sie ihm von mir, er möge Ihnen die Absolution verweigern…“ Das hat er mir 50mal wiederholt… „Sie schreiben ja keine Lebensbeschreibung der Guten Mutter, man weiß doch nichts von ihr…“ – „Was sollte ich da machen?“ Ich habe dem Bischof gehorcht, aber mit Widerwillen… Und ich habe mir nichts eingebildet beim Schreiben dieses Buches. Mit 71 oder 72 Jahren macht man sich schwerlich noch etwas vor, nicht wahr?

Macht darum die Biografie der Guten Mutter zu eurer Lektüre. Nehmt sie zur Hand, lest ein Kapitel daraus und ihr werdet von Gott etwas bekommen. Was er euch geben wird, ist der Geist eurer Berufung. Wenn ihr euch nicht mit den Gedanken dieses Buches identifiziert, bringt es keine Wirkung hervor, ihr werdet nie Oblate werden, ihr werdet nichts sein. Wenn ihr dieses Buch lest, erhaltet ihr viel, so, wie wenn man das Wort Gottes liest, das Evangelium. Oder so, wie wenn ihr eure Satzungen und Regeln lest. Das wirkt wie das geschmackvolle Manna, das verschiedenartigen Geschmack hatte. Entsprechend dem, was eure Seele zurzeit eben braucht…

Was mir in den ersten Zeiten meines Aufenthaltes in der Heimsuchung stark auffiel, war, dass die Oberin sich immer auf den hl. Franz v. Sales oder auf die hl. Mutter Chantal berief: So ist es geschrieben, hieß es immer. Und wenn man das festgestellt hatte, blieb nichts mehr zu sagen übrig. Man lebte und ernährte sich von diesen heiligen Schriften. Und gerade das, meine Freunde, begründet die Einheit einer Kongregation. Wenn jeder sich auf seinen eigenen Geist verlässt, auf seinen Charakter und seine Stimmung pocht, auf das, was er mitgebracht hat, aus seiner Erziehung und seinen Spezialstudien, so bekommt man wohl eine Sammlung nebeneinandergesetzter Wesen, aber keine Einheit und Vereinigung. Was garantiert denn die Einheit einer Kommunität? Nicht die Einheit der Körper, sondern der Seelen, der Herzen und Geister. Und genau das brauchen wir hier bei uns.

Wie sollen wir das bewerkstelligen? Indem wir von dem Grundsatz ausgehen, dass Leben und Lehre der Guten Mutter die Regel unseres Denkens, Urteilens, Handelns, Prinzip unserer Frömmigkeit, unseres klösterlichen und apostolischen Lebens sein muss.

Bedenkt wohl, dass die Lehre der Guten Mutter nichts anderes ist als die Lehre des hl. Franz v. Sales. Die Gute Mutter war in Wahrheit die Tochter ihres seligen Vaters. Sie hat ihn in bewundernswerter Weise verstanden, seine Gedanken wiedergegeben und ausgelegt. Wenn wir sie hören, hören wir den hl. Stifter, hören wir einen Kirchenlehrer. Sie sagte nie, bedenkt das: Ich sage dies, ich erkläre das, sondern: Unser hl. Stifter hat das oder das gesagt. Die Worte der Guten Mutter sind die vollständigste Erklärung und bedingungsloseste Anwendung der Lehre des hl. Stifters. Und aus diesem Grund müssen wir uns mit seinem Leben und seinen Schriften nähren, müssen daraus sozusagen unsere tägliche Lektüre machen. All das solltet ihr auswendig wissen, so wie euch das Evangelium inne ist. Dann besitzt ihr einen Wissensschatz, verfügt über einen Lehrreichtum sondergleichen… Soll das heißen, dass ihr nur das lesen sollt und nichts anderes? Nicht im Geringsten, aber es sollte eure Grundlage, euer Fundament sein, die Luft, die ihr atmet, der Punkt, von dem alle Bewegung ausgeht. Und das wird euch dann auch zum Zielpunkt, auf den hin alle eure Hilfsmittel, alle Anstrengungen eures Verstandes, all eure Studie und Arbeiten abzielen.

Ihr sollt aber nicht nur die Gute Mutter studieren. Jeder muss vielmehr auch das studieren, was Gott und seine Pflicht ihm zu studieren auferlegen. Und was ist das? Die Theologie zuerst. Wir sollen wenigsten drei Stunden wöchentlich diesem Studium widmen. Das ist so vorgeschrieben und unsere Pflicht. Bemüht euch aber auch, meine Freunde, den wirklichen Geist der Theologie zu ergründen. Sie darf nicht bloß eine trockene und verknöcherte Wissenschaft sein, sondern eine lebendige, die in euer tägliches Leben eingreift und eure Katechesen, Predigten und Exerzitienvorträge befruchtet, sowie die Seelenführungen, die man euch anvertrauen wird… Ich möchte sehr gern meine theologischen Hefte aus dem Großen Seminar, meine Vorlesungsnotizen besonders von der Dogmatik wiederfinden. Professor Sebille wusste diesen Kurs außerordentlich packend und praktisch zu gestalten. Ich erinnere mich, welch wunderbarer Kurs er uns über den Traktat der hl. Eucharistie hielt. Wir waren begeistert und tief beeindruckt: „Nonne cor nostrum ardens erat in nobis?“ (Anm.: „Brannte nicht unser Herz in uns?“). So eine lebendige, konkrete und praktische Theologie hat man gern. Das ist die richtige Art zu unterrichten, zu studieren und zu verstehen. Und außer der Theologie studiert auch die Hl. Schrift! Lest eure Bibel mit Aufmerksamkeit, nachdem ihr den hl. Geist um sein Licht angefleht habt. Die Hl. Schrift ist die Basis, die Substanz, sogar das Leben der Theologie. Lest die Hl. Schrift unter dem Gesichtspunkt, den ich euch für die Theologie angegeben habe: Um daraus Nahrung zu schöpfen für euch wie für die Seelen, die Gott euch schickt. Lest sie so, dass ihr damit eure wie ihre Seelen nähren könnt. Sehr nur bei Bousset, dem hl. Bernard, dem hl. Johannes Chrysostomos nach: Was findet man am meisten in ihren Predigten? Die Hl. Schrift vor allem anderen. Nehmt die „Betrachtung über das Evangelium“ von Bousset oder seine „Elévations sur les Mystères“: Was trifft man da sonst noch außer den Stellen der Hl. Schrift? Fast nichts. Bousset liest den Bibeltext, eignet ihn sich an, lässt sich von ihm inspirieren und sieht wie in einer strahlenden Vision, was der Text ihm sagt. Und das nicht nur, weil er ein Genie ist, sondern auch und vor allem weil er ein Heiliger ist, weil das Gebet ihn erleuchtet hat. Darum sagte der Papst zu M. Brunetiere: Bousset passt in jede Zeit.

Lest das Evangelium die Seelen, die ihr zu betreuen habt, für eure Schüler. Wenn ihr Beichte hört, predigt, Katechismus unterrichtet, erinnert euch, dass ihr in der Hl. Schrift das göttliche Licht findet. Wir nutzen die Hl. Schrift nicht genügend aus. Ich sprach eben von Bossuet, vom hl. Bernard. Seht auch den hl. Franz v. Sales, besonders in seinen Predigten. Nehmt alle die hl. Kirchenväter her.

Studieren wir, aber machen wir ganz praktische Studien, sonst schaffen wir nicht viel Guts. Der faule Schreiner wetzt unaufhörlich die Zähne seiner Säge, die Schneide seines Hobels, aber er gebraucht sie nicht. Wozu dienen ihm dann die Werkzeuge? Sammeln und gebrauchen wir alles, was wir studieren, im Sinn unserer Theologie für uns, für unseren Vorteil für uns wie auch zum Vorteil der uns anvertrauten Seelen, der Seelen unserer Schüler, derer, denen wir das Evangelium predigen, auch in unseren Seelsorgewerken. Für wen müht sich denn der Familienvater? Doch für seine Kinder. Studiert also unter diesem Gesichtspunkt, dann studiert ihr auf eine fesselnde Weise. Euer Studium sollte immer praktische sein!

Unsere Standespflichten, unsere Lehrerfunktionen verlangen meist, dass wir uns nicht auf die Theologie und die Hl. Schrift beschränken. Jeder einzelne muss vielmehr bemüht sein, dass seine beruflichen Studien ernst und fruchtbar betrieben werden. Angenommen, ihr müsst lateinische und französische Grammatik unterrichten. Es macht euch aber nicht viel Freude. Dann tut es eben aus Liebe zu Gott. Ihr sollt je gut beherrschen, was ihr unterrichtet, so wie wir überhaupt alles, was wir tun, gut tun sollen. Und Gott wird die Mühe segnen, die ihr euch gebt. Er wird seine Gnade dazugeben. Gott rettet die Fruchtbarkeit, die er mit der Materie der Sakramente oder auch der Sakramentalien verbindet. Ihr sollt ja durch eure Arbeit und eurer Hände Werk, so trocken sie an sich auch sein mögen, Gott den Seelen vermitteln, die er euch schickt. Studiert darum gründlich eure klassischen Schriftsteller und eure Mathematik unter diesen Gesichtspunkten. Dann seid ihr auch nicht versucht zu sagen, eure Studien würden euch das Herz austrocknen, euch zerstreuen und daran hindern, das Direktorium zu üben. Euer Geist würde nach links und rechts abgelenkt, und könne nicht bei Gott verweilen. Ist das eine Wahnvorstellung, was ich euch da vortrage? Nein, das ist unsere Verhaltensregel, unsere Art vorzugehen. Das muss die Basis all unserer Studien und Handlungen sein. Das ist das Brot, mit dem ihr euch nährt, und womit ihr die anderen nährt. Das ist das Wasser eurer Zisterne. So wie Papst Clemens VIII. zu Franz v. Sales am Tag seines Bischofsexamens in Rom sagte: „Bibe aquam de cisterna tua…“ (Anm.: „Mein Sohn, trinke das Wasser deiner Zisterne…“)… und die Wellen deines Brunnens. Mögen deine Quellen nach draußen fließen und ihre Wasser auf die öffentlichen Plätze ergießen. Verbreitet diese fruchtbaren Wasser auch ihr inmitten der Menschen und öffentlichen Plätze. Was immer ihr an Wissen und Kenntnissen gesammelt habt, belebt sie, strahlt sie aus und verteilt sie! Das sei keine theoretische Denk- und Betrachtensweise, sondern unsere Lebensregel! Das ist kein Gedanke im leeren Luftraum, sondern eine Tatsache, etwas Greifbares. Studiert also so, meine lieben Freunde, dann spürt ihr in euch die Gnaden des Pfingstgeistes sich erneuern! Flammen werden dann auf euch niederfahren wie auf die Köpfe der Apostel. Dieselben Flammen vom selben Hl. Geist. Sie erfüllen mit Leben alles, was immer ihr lehrt.

Studieren ist etwas Heiliges und Geheiligtes, das Schaffen der Gelehrten also. Man wirft uns vor, wir wüssten nichts, wir betrieben keine theologischen Studien. Im Allgemeinen wissen wir vielleicht nicht weniger als viele andere. Was wir in Bälde in Rom organisieren wollen, wird uns auf das gewünschte Niveau erheben. Dann wird man leicht feststellen können, ob die Oblaten etwas von der Theologie verstehen, wenn unsere jungen Patres, die wir nach Rom zur Erlangung eines Doktors der Theologie schicken, zurückkehren und uns Theologieprofessoren liefern werden. Sie sollen, wie ihr wisst, in unserem dortigen Wohnsitz studieren und die nächsten Nachbarn des Papstes sein. In der Einfachheit der Armut werden wir neben dem gemeinsam Vater wohnen (offenbar: Albano bei Castel Gandolfo).

Das also sollt ihr mit der Gnade Gottes tun, meine Freunde. Fasset darum Mut und geht zu Gott mit aller Hochherzigkeit, allem Schwung und aller Fröhlichkeit eures Herzens. Die Gute Mutter wollte nicht, dass wir uns Gott als sehr ferne vorstellen. Wir müssen, sagte sie, uns um ihn drehen, wie ein Kind sich um seinen Vater bewegt. Er ist uns ja nahe und schaut uns an, beobachtet alles, was wir tun und reden. Unsere Vereinigung mit ihm muss innig und vollständig sein, so dass, wenn die Versuchung lockt, sie nichts über uns vermag. Dann fühlt man sich unterstützt und gehalten, man trägt sein Herz hoch und in Freude getaucht, weil Gott in gewisser Weise die Verantwortung über unser Tun und Lassen übernimmt. Gott übernimmt die Last von allem. Wir gehen sicher voran, weil wir ja Hand in Hand mit ihm dahin schreiten.

Ich beschwöre euch, liebe Freunde, macht selber diese Erfahrung! Studiert und arbeitet auf diese Weise. Ahmt die Bienen nach, sagt Franz v. Sales. Die Bienen fliegen auch auf hässliche Blumen, auf dornige Disteln, die uns in den Finger stechen, und verstehen doch, daraus Honig zu saugen. Wenn Gott dabei ist, dienen auch die trockensten und dürrsten Studien wie alles andere und mehr als alles andere dazu, uns und die anderen zu heiligen. Gehen wir auf diese Weise an unsere beruflichen Studien heran, an unsere Theologie, unsere Hl. Schrift und das „Leben der Guten Mutter“. In all diesen Dingen muss man Gott zu wünschen und ihn den Seelen in unserer Umgebung weitergeben. So verwirklichen wir den Wunsch der Guten Mutter: „O wie schön das sein wird!“ Bislang hat man so Schönes nicht erlebt!

Meine Freunde, ich meine, so wird es bald bei uns beginnen. Was der gute Gott euch während dieser Exerzitien gibt, rührt mich aufs Tiefste. Ich sehe, dass die Kongregation in Rom die nötige Festigkeit, innere Sicherheit und Gediegenheit erhält. Sie wird sich an den Quellen des Erlösers tränken. Sie wird dort ihre Lebenskraft und Aktionsfähigkeit schöpfen. Sie wird voll und ganz auf den Weg einschwenken, von dem die Gute Mutter sagte: „Das möchte ich gern noch sehen…“ Wie schön wird das sein. Amen.