4. Vortrag: Die Liebe.
Setzen wir unsere Exerzitien fort im Schweigen und in der Treue zu unseren religiösen Pflichten. Die Gewissenserforschung hat während dieser ersten Tage euren Geist beherrscht. Denkt heute Abend und morgen daran, gute Vorsätze zu fassen. Wenn euch das besser nützt, schreibt sie euch auf. Würdet ihr aber keine fassen, wären eure Exerzitien doch recht gewagt und abenteuerlich. Fasst solche in den Punkten, die wir gemeinsam besprochen haben: Sie tragen ihre Gnade mit sich. Ich rate euch sehr, euch nicht zu zerstreuen und die göttliche Salbung sorgfältig in euren Herzen zu bewahren.
Der hl. Johannes hat Gott sehr gut definiert, so gut man das überhaupt kann: „Gott ist die Liebe.“ – „Deus charitas est.“ Und in seinem hohen Alter wusste derselbe Heilige immer nur zu wiederholen: „Liebet einander!“ Darum möchte auch ich euch heute Abend über diese Caritas sprechen, die ihr gegeneinander, gegen eure Mitbrüder, euer Amt, gegen euren Auftrag, gegen eure Schüler, gegen das Haus, das euch als Zuflucht dient und gegen den Willen Gottes tätigen sollt… Dieser Standpunkt der Liebe, ist das, was die Gute Mutter heilig gemacht hat. Sie liebte ihre Kommunität, sie liebte ihr Amt.
Die Anfänge der Oblatinnengründung waren ausnehmend mühsam. Ich verlor fast den Mut beim Anblick ihres Gehabens. Sie sprachen nachteilig übereinander. Darin erblickte ich ein ernstes Hindernis ihrer Gründung. Da kam mir der Gedanke, sie durch das Gelübde der Nächstenliebe zu binden. Ich habe es ihnen vorgeschlagen und fast alle haben es abgelegt. Von diesem Augenblick an konnte man eine große Veränderung bei ihnen feststellen, eine große Leichtigkeit, das Direktorium zu beobachten. Der wahrhafte Geist des Ordensstandes pflanzte sich ein. Es war eine komplette Umwandlung. Alle haben das zugegeben. Was würden nun wir, meine Freunde, Großes riskieren, wenn wir dasselbe täten? Gewiss liegt bei uns die Versuchung nicht darin, aufeinander eifersüchtig zu sein, den Mitbruder anzugreifen und fertig zu machen. Wenn aber unsere üble Nachrede nicht aus diesem Reservoire stammt, dann eben aus einem anderen, das kaum mehr taugt: Nämlich aus dem Mangel an Rücksichtnahme, an Ehrfurcht, an Herzlichkeit…
Verständigt euch darum mit eurem Beichtvater, um ebenfalls das Gelübde der Nächstenliebe abzulegen. Sicher werdet ihr anfangs dagegen verstoßen und es vergessen. Da genügt aber ein Akt der Reue, ein Akt der Gottesliebe, um die Nachlässigkeit zu tilgen und euch wieder mit Gott zu verbinden. Ein andermal werdet ihr dann umso treuer sein. So werdet ihr Schritt für Schritt dahin gelangen, diesen Fehler abzulegen, diese schlechte Gewohnheit zu verlieren: zu richten und ungünstig die Handlungsweise unseres Mitmenschen auszulegen. Versuchen wir es also einmal mit diesem Gelübde! Bei den Saiteninstrumenten gibt es immer eine Saite, die stärker und häufiger vibriert als die anderen. Bei uns sollte diese Saite eben die Nächstenliebe sein, die immer schwingt. Die Beweggründe, die uns veranlassen sollten, einander zu lieben, erscheinen beim ersten Anblick gewiss nicht sehr anreizend. Denn wer von uns darf sich schon anmaßen, genug Geist, Intelligenz und Vorteile jeder Art zu besitzen, um aus sich heraus die Liebe und Hochschätzung sämtlicher Mitbrüder zu beanspruchen zu können, ihnen in jedem Augenblick und immer zu imponieren? Niemand ist vollkommen. Zwangsläufig müssen wir dafür eine Grundlage und einen Stützpunkt suchen, der höher liegt als in unserer Natur. Wir müssen dafür zum Geber alles Guten emporsteigen, bis zu Gott, bis zum heiligsten Herzen unseres Erlösers.
Gott liebt diesen teuren Nächsten, den wir am liebsten verwünschen würden und den er uns zu lieben heißt. Hat er ihn doch mit Gnaden überhäuft. Fragt das Herz unseres Herrn, warum er sein Blut für ihn vergossen hat. Warum er ihn zu den Sakramenten, zu seiner Erkenntnis und seiner Liebe ruft, warum er will, dass er Verdienste sammle für den Himmel. Herr, wenn du ihn so sehr geliebt hast, muss ich ihn doch auch lieben. Fürchten wir nicht, in unserer Betrachtung solche liebenden Gebetsübungen einzuflechten. Die Liebe zu Gott versteht sich von selbst, sie entspringt unserer Natur. Doch die Liebe zum Nächsten ist ganz und gar übernatürlich: „Mandatum novum do vobis, ut diligatis invicem.“ (Anm.: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt.“). Das ist ein neue Gebot, das Gebot der Liebe des Erlösers, seiner Zuneigung, seines Herzens. Denkt daran, meine Freunde: Die Segnungen Gottes kommen an dem Tag über uns, wo wir uns aufrichtig lieben. Ich sage es noch einmal: Nicht jeder von uns kann sich einbilden, alles zu haben, um sich beliebt zu machen. Beginnen wir deshalb, selber zu lieben, indem wir uns auf das Herz des Erlösers stützen: Seht nur, wie sie einander lieben! Versucht es mit diesem Gelübde und legt großes Gewicht auf diesen Punkt bei euren guten Vorsätzen. Hier kann man sich keiner Täuschung hingeben: Entweder lieben wir jemand, oder wie lieben etwas. Ist es nicht unser Mitmensch, dann sind wir es selbst, den wir lieben, ist es Egoismus. Der Kern eines Lebens in Gott ist die Liebe. „Et vidit quod esset bonum.“ (Anm.: „Und er sah, dass es gut war.“). Sein göttlicher Sohn ist das Ziel seiner Liebe. Zweifellos ist das „Wort Gottes“ das Licht. Doch zeugt er es in Liebe…
Unser Wert liegt in unserem Herzen. Was macht jemand zu einem großen Künstler, zu einem großen Maler? Ist es nur die Einbildungskraft? Nein, sondern auch das Herz, die Liebe, die er für seine Kunst, für das Werk seiner Hände aufbringt. Alles Große hat hier seine Quelle. Wo keine Vaterlandsliebe mehr vorhanden ist, gibt es auch kein Volk mehr. Wenn Vater und Sohn sich nicht mehr verstehen, hört das Familienleben auf.
So lasst uns den festen Vorsatz fassen, unsere Mitbrüder zu lieben. Und zu diesem Zweck bedient euch des Mittels, das ich euch da an die Hand gebe. Lieben wir unsere Mitbrüder, aber auch unsere Schüler, und zwar mit einer tiefen und echten Liebe. Kommt diese Liebe von Gott, wirkt sie Wunder. Ein Mann von großem Wert, der aus Plancy stammt, Herr Lenfant, sagte mir hierüber etwas ganz Beachtliches: „Sie haben Gott viel Dank abzustatten“, sagte ich zu ihm, „dass sie ein guter Christ geblieben sind.“ -- „Wissen Sie“, gab er zurück, „was mich christlich erhalten hat? Eines Tages nahm mich Herr Fournerot im Großen Seminar zu einem Spaziergang im Garten beiseite. Wir spazierten eine Viertelstunde hin und her, ohne ein Wort zu sagen. Erst am Ende bemerkte ich in seinem Blick ein so tiefes und himmlisches Wohlwollen, dass ich davon ganz gerührt war. Und es war dieser Blick, der mich daran gehindert hat, mich von Gott bei den verschiedenen Gelegenheiten meines Lebens zu entfernen, weil sein Blick mir verriet, wie sehr dieser Priester, der ein Heiliger war, mich liebte und das Heil meiner Seele wünschte.“ Nun, meine Freunde, wenn es in euren Herzen etwas Ähnliches gäbe zugunsten eurer Schüler? Wenn wir so mit unseren Schülern von Herz zu Herz in Verbindung stünden? Das geschieht bei der hl. Messe, bei der Betrachtung, bei der Vorbereitung auf den Tag: „Mein Gott, da ist ein Junge, der mehr Verstand und guten Willen bräuchte! Gib sie ihm!“ Sprecht so zu Gott über eure Schüler, und ihr werdet einen ungeheuren Einfluss auf ihre Seelen ausüben.
Liebt diese Seelen und achtet in ihnen das Abbild Gottes! … Vielleicht wird dieser Junge euch eines Tages durch seine Fähigkeiten und Tugenden überflügeln. Behandelt ihn mit Zuvorkommenheit und Ehrfurcht. Glaubt nicht, euer Zeugnis von Hochachtung und Vertrauen bliebe umsonst, oder, wenn ihr in einer Pfarrei in der Seelsorge stündet, würde euer Bemühen wirksamer sein als hier bei euren Schülern… Ihr werft so in die Furchen einen Samen, der unfehlbar aufkeimen wird, weil er in eine wohlvorbereite Erde fällt.
Und eure Schüler werden euch dieses Wohlwollen belohnen, seid davon überzeugt. Seid darum gegen sie großmütig, weitherzig. Unter ihnen gibt es welche, die Geist haben und bei denen ihr einen kleinen Fehler, eine Wunderlichkeit, eine schwache Seite viel zu wichtig nehmt… Verzeiht ihnen diese kleinen Schlagfertigkeiten, sie sind dafür empfänglich, weil sie merken, dass ihr verstanden habt, es war nur Spaß, ein Leichtsinn ohne Bosheit. Sie werden an euch hängen, euch schätzen und lieben lernen, wenn sie sehen, dass ihr ihren witzigen Einfall mit echter geistiger Überlegenheit, mit einem weiten Geist und Herz aufgenommen habt.
Gewinnt also gerade jene lieb, die euch unangenehm erscheinen könnten. Es versteht sich von selbst, dass da jede Art von Schwäche in diesen Zuneigungen sorgsam vermieden werden muss, alles, was sie sie rein natürlich und sinnlich machen könnte. Spürt man solch eine schlechte Empfindung, muss man sofort kurz abschneiden, beten, seinen Beichtvater um Rat fragen, welche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen sind, um sich von derlei Tendenzen nicht beherrschen zu lassen. Solche Schwächen ziehen sich unweigerlich, wenn man sich nicht unterdrückt, das Verderbnis des Kindes nach sich. Das ist das Gift der sinnlichen Zuneigung, ein Narkotikum, das alle Fähigkeiten der Seele wie des Herzens lähmt. Ein zweifaches Gift, das die Seele des Kindes wie des Lehrers tötet… Wenn wir solch eine Neigung bei einem unserer Mitbrüder bemerken, dann müssen wir den Mut aufbringen, ihn liebevoll darauf aufmerksam zu machen. Und er hat hoffentlich so viel Intelligenz und Urteil, dass er solch eine Mahnung nicht verübelt, die ja immer ein bisschen demütigt. Habt ihr ihm dadurch doch einen echten Dienst erwiesen. Liebt also eure Schüler!
Sodann sollen wir auch unsere Arbeit lieben. Gehört nicht zu denen, die alles gezwungen tun. Ihre Liebe bleibt immer unschlüssig, sie sind immer auf der Suche… nach etwas, was sie nicht haben können. Diese Gesinnung kommt im Grunde von ihrem Egoismus. Ihr seid Aufseher, Lehrer. Liebt also eure Aufsicht und euren Unterricht, liebt eure Klasse.
Als ich zum Priester geweiht wurde, bat ich Gott, mir nie ein Seelsorgeamt zu geben, mir die Verantwortung für Seelen zu ersparen. Ich fürchtete mich vor Verantwortlichkeiten… Habt ihr ebenso gebetet, dann dürft ihr Gott danken, dass er euch vor mehr Seelsorge bewahrt hat. Was ihr derzeit in beschränktem Umfang ausübt, bietet keine weitere Gefahr. Es verlangt nur eine durchschnittliche Tugend. Das ist gar nicht so schlecht, sich zu beschneiden und seine Tätigkeit auf einen kleineren Kreis einzwängen, statt sie auszudehnen… Damit will ich nicht sagen, man solle das Predigtapostolat oder Pfarrseelsorge etc. nicht gern ausüben. Wenn unser Herr aber nicht mehr verlangt, sollen wir ihm dafür danken.
Liebt also eure Arbeit. Denn der verrichtet sie gut, der sie gern tut. Verlangt der hl. Stifter nicht, man soll leidenschaftlich gut seine Arbeit verrichten? Haltet darum einen gediegenen Unterricht, bereitet ihn mit Glauben und Herz vor. Es ist doch so schön, sich der Aufgabe hinzugeben, zu der wir bestimmt sind. Und wie das? „Per gratiam Dei.“ (Anm.: „Mit der Gnade Gottes.“). Tut die Arbeit, die Gott euch auferlegt gern, dann tut ihr sie auch gut. Liebt sie auf vollkommene Weise, dann versteht ihr sie auch vollkommen. Bringt zu eurer Beschäftigung euer Herz mit, dann verrichtet ihr sie nicht seelenlos wie eine Maschine. Gott tut ja auch alles, was er tut mit Liebe: „Deus charitas est.“ (Anm.: „Gott ist die Liebe.“), und wir wollen ich auch hierin nachahmen.
Wir wollen also allezeit eingedenk sein, dass Gott die Liebe ist und wir deshalb unsere Mitbrüder, unsere Schüler und unsere Arbeiten lieben sollen. So setzten wir übernatürliche Akte und erreichen unser Ziel. Seid ihr als Ökonom mit einem materiellen Dienst betraut? Dann liebt auch das Materielle, das euch anvertraut ist. An eurem Tun sollte man euer Herz wie eure Intelligenz erkennen können. Damit verfügt ihr über ein übernatürliches Mittel, Erfolg zu haben.
Wir wollen den Entschluss fassen, unser Herz durch den Kontakt mit Gott zu erwärmen. Wie Salomo lasst uns Gott um ein Herz weit wie das Meer bitten… Salomo erscheint uns als der weiseste und intelligenteste der Menschen. Warum? Weil er ein so weites Herz hatte. Beobachtet ihn nur in dem Streit der beiden Frauen oder beim Bau des Tempels, wo er alles mit so großer Perfektion machte. Und aus welchem Grund? Weil er das liebt, was er unternimmt, sowie weil er den liebt, für den er es tut. Lasst uns darum immer das lieben, was wir in den Angriff nehmen, dann tun wir es auch gut. Nie sah ich, dass die Gute Mutter ihr ganzes Herz an ihre Arbeit hängte, ob in der Leitung ihrer Schwestern oder was immer es war. Und warum das? Weil ihr Herz jederzeit in Berührung stand mit dem Herzen Gottes.
Wir wollen Gott also dieselbe Bitte vortragen wie Salomo. Der hl. Stifter sagt: „Unser Herz soll einem Magneten gleichen…“ Nehmt einen Magnet zur Hand, und in die andere Eisenfeilspäne und fügt zu der bereits vorhandenen Menge an Eisenspänen ganz allmählich weitere Späne hinzu. Es wird euch gelingen, den Magnet ausschließlich ein bedeutendes Gewicht tragen zu lassen, weit höher als das, wozu er zu Beginn imstande war. Fügen doch auch wir unserem Herzen unaufhörlich weitere Körnchen und Stückchen an Gewichten zu. Verlocken und ködern wir es ohne Unterbrechung, wir werden es schließlich zu einer ungeheuren Liebeskraft stärken können.
Fügt euren guten Vorsätzen auch den zu, Gott um das Geschenk eines weiten Herzens zu bitten, das sich auf alles erstreckt. Bleibt nicht gleichgültig, gegen das, was auch immer Gott uns schickt. Der hl. Bernard sagte zu seinen Mönchen: „Am Anfang meines Ordenslebens sah ich nur all die Arbeiten, Mühsale, Schwierigkeiten und Heimsuchungen, die Gott mir bereithielt. Da machte ich aus all dem ein Bündel und drückte es an mein Herz, indem ich es mit den Mühen und Leiden meines Erlösers vereinigte.“ Wie der hl. Bernard sollten auch wir alles Schwere gegen unser Herz drücken.