Exerzitienvorträge 1897 (September)

      

5. Vortrag: „Forma facti gregis: ex animo“ – „Seid Vorbilder für die Herde: Aus Neigung.“

Aus der Ansprache, die P. Pernin heute Morgen hielt, konntet ihr ersehen, wie stark er den Schatz betonte, der uns mit dem Lehrgut, das wir besitzen, anvertraut ist. Er ging von dem Prinzip aus, dass wir erst selber das Direktorium üben müssen, um Nutzen aus diesen Hilfsquellen, aus dieser vollkommenen geistlichen Strategie ziehen zu können. Er hat recht, P. Clemens, der Benediktinerpater, sagte mir das Gleiche: „Franz v. Sales ist der geschickteste Stratege des geistlichen Lebens.“

Wie oft haben wir schon diesen Einwand gegen unsere Seelsorgewerke hören müssen: Das Resultat, das ihr da erreicht habt, ist ja ganz gut für den Augenblick. Aber eines Tages werdet ihr auch die Rückseite der Medaille zu sehen bekommen! Wenn ihr auch für den Augenblick so glücklich seid, solche Erfolge zu erzielen, könnt ihr denn damit rechnen, dass dies anhält? Das ist sehr unwahrscheinlich bei eurem Mangel an den elementarsten Hilfsquellen…

Derlei Bemerkungen haben sicher, wenn man sich auf den natürlichen Standpunkt versetzt, eine gewisse Berechtigung. Wie kommt es aber, dass andere, von einer mächtigen Organisation gestützt, nicht die gleichen Erfolge haben wie wir mit unserem Nichts an äußeren Hilfsmitteln? Das ist das Geheimnis, und es liegt gerade im Lehrgut des hl. Franz v. Sales beschlossen.

Der erste Punkt dieser Lehre ist der folgende: Ihr wollt etwas unternehmen? Das ist gut. Um aber etwas zu erreichen, muss man selber erst tun, was man von anderen getan haben will. Merkt euch das gut, meine Freunde: „Forma facti gregis ex animo.“ (Anm.: „Seid Vorbilder für die Herde aus Neigung heraus.“). Zuerst muss man selber das Vorbild dessen sein, was man bei den uns anvertrauten Seelen erreichen will. Wenn ihr euch mit eurem ganzen Herzen daranmacht, Vorbild der Herde zu sein, werdet ihr Erfolg haben, und zwar mehr, als ihr erhofft habt!

Ihr seid der kleine Soldat des hl. Franz v. Sales. Er bewaffnet euch für den Kampf nicht mit unfehlbaren Offensiv- und Defensivwaffen, kommt euch nicht zu Hilfe mit einer Rüstkammer von äußeren Mitteln, mit einer großartigen Organisation und Geschicklichkeit. Er legt vielmehr in eure Hand ein kleines Büchlein, das Direktorium, und sagt euch: „Da habt ihr euren Führer und Anreger.“ (inspirateur). Wenn ihr übt, was darin gesagt ist, werdet ihr zuerst selbst das tun, was ihr von den anderen erwartet. Später lenkt ihr sie dann mit Leichtigkeit in euren Fußstapfen. Ihr seid Lehrer? Wie könnt ihr tüchtige Schüler heranbilden? Wenn ihr den Grundsatz verwirklicht: „Forma facti gregis.“ (Anm.: „Vorbild für die Herde“) zu sein… Eure Absicht ist ja löblich. Doch in der Lehre des hl. Stifters tut noch das Hilfsmittel das Geschäft, sondern vor allem der Arbeiter selbst. Er ist ganz sicher, dass er damit Erfolg hat. Ist er hochherzig, dann weiß er sicher, dass er den Sieg davon trägt. Wir wollen die anderen bearbeiten. Fangen wir erst damit an, an uns selber zu arbeiten. Wir wollen den anderen predigen. Tun wir erst selbst, was wir von den anderen erwarten. Und vor allem suchen wir nicht im erstbesten Buch, was wir den Gläubigen predigen wollen, sondern suchen wir es in unserem eigenen Herzen, in unserem Leben. Ihr wollt junge Menschen formen, ihr predigt Ordensfrauen Gehorsam, Abhängigkeit und Entsagung. Ihre Seelen profitieren aber von all dem, was ihr ihnen vortragt, genau so viel, als ihr selbst von diesen Tugenden bereits geübt habt. Jeder Priester kann zwar die Absolution erteilen: Das ist der feste und unveränderliche Teil des Bußsakramentes, der immer seine Wirkung hervorbringt. Alles Übrige aber, die inneren Gaben der Erleuchtung, des Opfermutes, alles, was zur Vollkommenheit und Heiligkeit gehört, woher kommt das? Ein Gutteil kommt ohne Zweifel vom persönlichen Wert des Beichtvaters.

Ihr predigt, ermangelt aber der erforderlichen Bedingungen: „Cymbalum tinniens“, eine „tönerne Schelle.“… Ihr wollt eure Schüler zur gewissenhaften Befolgung der Hausordnung erziehen: Seid erst selbst regeltreu und exakt in eurer Arbeit. Arbeitet selber… Tut das, dann habt ihr einen mächtigen Einfluss auf den Willen eurer Schüler: „Forma facti gregis ex animo.“ Seid Vorbild für eure Herde nicht in der Einbildung, sondern in eurem Inneren, in eurem Herzen: „ex animo“. Wir müssen nur dieses eine aus den Exerzitien mitnehmen, dann wird es ein ausgezeichnetes Schuljahr werden.

Habt ihr dann etwas unternommen, und man sagt euch: Aber ihr habt ja gar nicht dies und das Mittel angewandt, so könnt ihr antworten: Das ist schon möglich, schaut aber das erreichte Resultat an. Staunt man nicht über das, was ein hl. Vinzenz v. Paul geleistet hat? Betrachtet man aber ein bisschen sein Leben, die Liebe, mit der er allem Elend begegnete, dann versteht man: Was dieser Heilige im Grund seines Herzens und im Innersten seines Lebens war, das hat er nach außen projiziert und hat so Wunder gewirkt.

Man spricht viel vom Herrn Harmel, dem großen Industriellen von Valdes-Bois und seinen großartigen Werken. Ich kenne ihn sehr genau. Er schläft auf hartem Boden und fastet, etc. So hat er alles in sich, was er braucht, um seine unternommenen Werke zum Gelingen zu bringen… Der hl. Stifter war sich klar, dass äußere Hilfsmittel zweifellos notwendig sind, im Übrigen sind es die einzigen, die man überhaupt feststellen und beurteilen kann: „Ecclesia non iudicat de internis.“ (Anm.: „Die Kirche beurteilt nicht das Innere, das Gewissen.“)… Er hat aber sehr wohl erkannt, dass unter diesem Äußeren die Seele der Kirche, das lebendige Leben, die „forma gregis“ verborgen ist…

Nehmen wir uns darum vor, uns an die Stelle unserer Schüler zu versetzen. Um sie zu studieren, müssen wir erst uns selbst studieren. Ebenso an die Stelle unserer Beichtkinder. Wir predigen ihnen die Geduld, seien wir zuerst selbst geduldig und gütig. Dann erst stehen wir auf der Höhe unserer Berufung und Gott verleiht unserem Mühen eine unvergleichliche Fruchtbarkeit.

An einem der letzten Tage sprach ich euch von den Versuchungen des Oblaten. Ich muss hinzufügen, dass die Oblaten ein enormes Arbeitspensum zu erledigen haben. Unsere äußere Lebensweise weist zwar keine großen Härten auf. Ist es aber keine enorme Arbeit, alle unsere Verpflichtungen zu erfüllen, und gut unser Direktorium zu halten? „Das ist eine Kette“, sagt der hl. Paulus, „die wir von morgens bis abends tragen müssen, von abends bis morgens.“ Und hier liegt auch der Grund, warum wir so leicht zur Mutlosigkeit versucht werden. Aber halten wir durch: „Sustinite Dominum.“ (Anm.: „Haltet den Herrn aus.“). Haltet den Herrn und seinen Willen aus, dann gibt er uns alle notwendige Kraft. O meine Freunde, lieben wir unsere Berufung! Seht nur, wie vernünftig sie ist: Gott gibt uns ein Zeichen, er ruft uns, und wir gehen mit großmütigem Herzen, mit dem ganzen Einsatz unseres Wollens und unserer Freiheit wie unserer Liebe zu ihm. Wie der hl. Franz v. Sales den Menschen doch gut verstanden hat! Wie gut er erkannt hat, welch großen Vorteil man aus uns ziehen kann. Und das ohne Rücksicht auf ein äußerlich greifbares Beispiel oder Zeichen hin, sondern ganz einfach und einzig auf den göttlichen Willen hin. Wir lassen uns nicht fortreißen durch ein zündendes Losungswort, sondern gehen spontan und freiwillig zu Gott.

Während dieses Schuljahres seid versichert, dass es für euch wie für die anderen ein fruchtbares Jahr sein wird, wenn ihr euch treu erweist dem Abschiedswort, das ich da an euch richte. Möge die Gute Mutter von unserem Herr auf euch den Segen herabziehen, jenen Segen, den Gott den Patriarchen erteilt hat: „Ich gebe euch den Segen des Himmels und der Erde…“ Einen Segen also, der sich auf alles erstreckt, damit wir auf Seiten des Himmels wie der Erde jederzeit alle notwendigen Mittel finden, um zu dem Ziel zu gelangen, das wir uns vornehmen. Amen.