Exerzitienvorträge 1896 (August)

      

5. Vortrag: Geistliche Erbauung.

Und noch einmal, meine Freunde, sei es gesagt: Bringt diese hl. Tage zu einem guten Abschluss! Lasst uns nichts vergeuden von dem, was wir mit so viel Mühe und Sorge angehäuft haben. Ich sagte euch bereits gestern: Das Ende krönt ein Werk. Ist die Erntezeit da, und das Korn ist reif, wird es geschnitten. Bewahrt ehrfurchtsvoll und religiös bis zum Ende eure Treue zu den Exerzitienübungen, damit ihr ohne zu erlahmen ans Ziel gelangt. Es geht um die letzte Sprosse, die letzte Treppenstufe zum Ziel… Die kleinen Nichtigkeiten enthalten das große Ganze. In der Medizin haben die unansehnlichsten Dinge mitunter größere Wirkungen als die die großen Arzneien.

Schaut in die Natur, wie alles so unauffällig wächst, sich alles auf ein Ziel hinbewegt, ohne dass man aber eine eigentliche Bewegung bemerkt. Die geistlichen Dinge spielen sich in derselben Weise ab. Um eine gute Einkehr zu bewerkstelligen, heißt es auf die kleinen Dinge achten. Wir haben die Exerzitien gut begonnen, beenden wir sie ebenso gut. Ich erwarte mir von diesen Exerzitien viel. Sie verliefen in der Stille, Sammlung und Frömmigkeit. Jeder von uns wird im Laufe des kommenden Jahres das wiederfinden, was er hier gesammelt hat. Gott sucht unsere Seelen in all den Augenblicken heim, wo wir seiner am meisten bedürfen: „Woher kommst Du, Herr?“ … „Ich komme von den Exerzitien“, wird er uns antworten.

Unter den Pariser Arbeitern macht ein Sprichwort die Runde, desgleichen unter den Geschäftsleuten und Kaufleuten: Wenn das Gebäude in die Höhe wächst, klappt alles. Werden Bauten und Häuser errichtet, so bringt das Bewegung mit sich und beschäftigt alle Arten von Industrie und Handel. Das bringt Leben für Geschäfte jeder Art. Was aber für materielle Dinge Geltung hat,  gilt immer auch in den geistigen Belangen. Gott hat den Plan der irdischen Dinge entworfen nach dem Bild der geistigen…

Und es ist so wahr im geistigen wie im zeitlichen Bereich, dass alles in Ordnung ist, wenn nur der Bau voranschreitet. Rührt sich aber im Bauwesen nichts, hapert es überall.

Dieses Bauwerk ist aber unser Eigenheim, das Gebäude unserer Heiligung. Oder bedient sich der hl. Paulus nicht ständig dieses Vergleichs? „Fundamentum posui… si quis autem superaedificat aurum, argentum, ligna, foenum, stipulam…“ (Anm.: „Ich habe das Fundament gelegt… Wer aber Gold und Silber, Holz, Heu und Stroh dazu baut…“). Sämtliche Kirchenväter haben gewohnheitsmäßig diesen Vergleich gebraucht, um das Bemühen um die Heiligung der Mitmenschen auszudrücken, die man ja „erbauen“ soll. Wir müssen unser eigenes Haus bauen. Es sollte aber auch das Haus der Kommunität aufgerichtet werden. Wir haben zwar alle unser besonderes Bauwerk, verfügen aber auch über eine Stadt zusammen mit unseren Mitbrüdern. Führen wir dieses doppelte Gebäude aber nicht hoch, „klappt es also nicht im Bau“, auf die eine oder die andere Weise, dann klappt überhaupt nichts mehr. Um das Gute zu wirken, gilt es, ununterbrochen in uns das innere Leben aufzurichten, aufzubauen in uns das Leben unseres Herrn, durch das wir leben und aus dem wir ständig handeln, und ohne das wir nichts können. „Sine me nihil potestis facere.“ (Anm.: „Ohne mich könnt ihr nichts vollziehen.“).

Wie wächst dieses Haus aber empor? Nun, wie ein Haus, Schritt für Schritt. Es wird aber nicht wie ein Globus aus Glas in einem Augenblick aufgeblasen, sondern es beginnt mit dem Fundament. Dann fügen sich in beständiger Kleinarbeit Stein an Stein, ohne dass die Kontinuierlichkeit unterbrochen würde. Man legt einen Stein oder Ziegel hin, bedeckt ihn mit Mörtel, und legt auf diesen einen neuen Ziegel. Ließe man zwischen Ziegel und Mörtel Platz frei, würde das ganze Haus zusammenstürzen.

Dieser Vergleich ist exakt. Seht also, was uns zu tun obliegt von der ersten Handlung des Tages bis zur letzten, und jeden Tag unseres Lebens. Wir müssen wie Zement arbeiten, dem Zement des göttlichen Willens, des Wortes Gottes, des Direktoriums…

Ich habe sagen hören, es gäbe Oblaten, die das Direktorium nicht schätzen. Sie meinen: „Was ist denn das schon, das Direktorium.“ Nun, meine Freunde, ohne Direktorium gibt es hier ebenso wenig Oblaten wie es Chinesen gibt… Seid ihr denn Oblaten, weil ihr Unterricht gebt oder predigt oder Messe lest oder beichthört? Nein, was den Oblaten ausmacht, ist die beständige und ununterbrochene Übung des Direktoriums. Mit ihm zusammen baut ihr den innerlichen Menschen auf und lasst ihn wachsen, Schicht für Schicht. Ihr lasst ihn bis zum Himmel emporwachsen, dank einer ständigen Arbeit, einer unablässigen Aktion, von der der Wille niemals ablässt.

Ihr baut ohne Unterlass. Wacht man des Morgens auf, so wirft man seine Seele in Gott. Der Bau wächst weiter, wenn man seine Betrachtung macht. Ich beschwöre euch: Macht eure Betrachtung, wie ich es euch immer angeraten habe, indem ihr eure Pflichten im Lauf des Tages durchgeht. Macht diese Vorbereitung auf den Tag gewissenhaft. Der Hirt zählt am Morgen seine Schafe, und überlegt, wohin er sie führt. Der Gärtner entscheidet sich da, wohin er den Kohl pflanzt. Ihr seid Ordensleute und habt infolge dessen eine besondere Lebensweise zu führen, bedeutende und wichtige Funktionen auszufüllen. Und da solltet ihr nicht im Voraus denken? Ihr solltet doch nicht aufs Geratewohl oder wie eine Maschine drauflosgehen? … Ein Tagewerk muss unbedingt vorbereitet werden. Konntet ihr es aus diesem oder jenem Grund nicht bei der Betrachtung tun, nehmt euch gleichwohl die Zeit, einen schnellen Blick auf die Tagespflichten zu werfen und einen entschlossenen Vorsatz zu fassen. Stürzt euch nicht auf euer Tagewerk wie ein Bauer, der hinaus auf ein Feld geht, ohne zu wissen, welcher Art dieses Feld ist.

Eure Betrachtung solltet ihr fast immer mit dem Direktorium zusammen machen. Auf diese Weise werdet ihr dieses Büchlein kennen und lieben lernen, werdet es dann mit Liebe und Frömmigkeit üben… Ihr befolgt das Direktorium nur schablonenhaft? Wäre es nicht besser, es mit Lust und Liebe zu tun? Wo findet ihr das? In der Betrachtung. Betrachtet ihr mit dem Direktorium zusammen, dann gewinnt ihr Liebe zu ihm und schätzt es nach seinem wahren Wert ein. Eure Betrachtung bleibt dann nicht mehr trocken. Sie wird vielmehr zu einer Unterhaltung mit Gott und über intime und fesselnde Dinge, weil es sich ja um solche handelt, die ihr an diesem Tag ausführen sollt. Ihr sagt Gott ein kleines Wort ins Ohr wie einem Freund und er hört euch zu. Das Resultat wird sein, dass eure Handlungen im Verlauf des Tages nicht auf eine leichtsinnige Art getan werden, sondern überlegt und tief. Sie werden euch zu einer liebenswerten und angenehmen Sache.

So vermeidet ihr die täglichen Fehler und Nachlässigkeiten, geschieht doch dann alles aus Liebe.

An Festtagen oder solchen, wo die Gnade Gottes euch anrührt, haltet eure Betrachtung mit dem, was der gute Gott euch gibt, oder indem ihr die Festgeheimnisse auf euch wirken lasst… Oder ihr habt eine Mühsal, eine Verdrießlichkeit zu bestehen, eine Schwierigkeit mit einem Mitbruder, mit einem Schüler, macht eure Betrachtung darüber. Oder ihr empfindet einen Widerwillen, den oder jenen Gehorsam auszuführen. Warum geht ihr damit nicht unter die Augen Gottes? Es würde sich lohnen. Bittet ihn um Hilfe und Unterstützung. Oder ein Geburtstag, ein Gedenktag naht: Der Tag eurer ersten hl. Kommunion, eures Eintritts in den Orden, eurer Gelübdeablegung, eurer Priesterweihe… Oder der Gedenktag eines Familienfestes, einer Familientrauer… Bringt das in die Betrachtung ein und redet darüber mit Gott, das bietet Gegenstand für eine ausgezeichnete Betrachtung.

Seht nur, wie da unser Gebäude mehr und mehr in die Höhe wächst: Ein Stein auf dem anderen, die ganze Mauer nimmt Gestalt an. So bereiten wir langsam aber sicher die Vollendung unseres geistigen Gebäudes vor. Das gilt für alle unsere Übungen. Die hl. Messe, z.B.: Nehmt das Direktorium zur Hand und bereitet euch mit ihm auf das Messopfer vor. Haltet bei dem oder dem Punkt der Vorbereitung inne und beschäftigt eure Seele damit. Man soll ja nicht zum Altar gehen wie zu irgendeiner anderen Handlung. Feiert es gut, das hl. Messopfer, dann seid ihr gute Ordensleute. Die gut gefeierte Messe ist eine mächtige Hilfe, ein Glück, eine Glückseligkeit. Die frommen Gläubigen, die uns umgeben, spüren das. Sie ist eine Kraftquelle für den Zelebranten und eine Erbauung für jedermann. Man wird über eure Haltung, eure Sammlung, eure ganze Art zu beten und zu feiern erbaut sein. Nehmt die so schönen und heiligen Gedanken des Direktoriums von der hl. Messe tief in euch auf. Habt ihr darüber betrachtet, dann kommen die Gedanken darüber wieder in Geist und Herz zurück.

Bei allen Handlungen eurer Seelsorge, bei den Beichten z.B. bedient euch immer und jederzeit eures Direktoriums. Geht in den Beichtstuhl mit der Vorbereitung, die euch unser hl. Stifter im Direktorium einflößt. Die Seelen, die euch nahen, spüren die Gegenwart Gottes in euch, fühlen, dass der da spricht, in Wahrheit im Namen Gottes redet. Alle Seelen werden auf eure Gedanken eingehen und euren Weisungen folgen. Ihr entzündet in ihnen das heilige Feuer der Gottesliebe.

Das gilt für alle heiligen Verrichtungen, aber auch für alle gewöhnlichen und materiellen Beschäftigungen, Unterricht erteilen, beaufsichtigen, eigenes Studium betreiben. Warum die Aufsichten nicht dazu benutzen, um zu Gott zu gehen? Warum nicht dies alles mit ihm zusammen bewältigen und von seiner Unterstützung profitieren? Seid keine einfachen Lehrer und Studienaufseher. Vielleicht glauben einige, ich lege so viel Gewicht auf das Geistliche, so dass ich die nötigen Ermahnungen vergesse, dass jedermann gewissenhaft seinen Unterricht erteilt, seine Aufsichten und alles Übrige erledigt… Nein, meine Freunde, ich sage es wieder und wieder: Erfüllt gerade hier wie unser hl. Stifter gewissenhaft, ja leidenschaftlich gut jede Pflicht des gegenwärtigen Augenblicks. Wer seine Arbeit nur halb verrichtet und nicht sein ganzes Herz hineinlegt, wozu ist er schon gut? Er taugt nur, die Sache zu verderben und nichts Gediegenes zu leisten.

Hört mir gut zu, meine Freunde, aus all dem ergibt sich ein Gesamtresultat, das uns allein eigen ist und sich nicht im gleichen Maße anderswo findet. Es schafft um uns eine Atmosphäre wie ein beständiges Joch, das auf unseren Schultern liegt… Wir werden uns nie ganz unbelastet und frei fühlen, sondern es bleibt immer etwas zu tun, eine Aufgabe zu erfüllen übrig. Auf Schritt und Tritt fühlen wir, dass wir uns nicht selbst gehören. Wir tragen etwas wie ein „talentum plumbi“, einen „Bleibrocken“, mit uns herum, den der Ordensmann einfach tragen muss. Er muss der getreue Gefährte dessen sein, der gesagt hat: „Tollite iugum meum super vos.“ (Anm.: „Nehmt mein Joch auf euch.“). O glückselige Ketten, rief der hl. Paulus aus… Wie wünschte ich, ich könnte sie euch tragen lassen, nicht jene, die meine Hände und Füße binden, sondern jene, die meinen Geist, mein Herz, meinen Willen, mein Benehmen, ja mein ganzes Sen einengen und es ganz in Frieden tauchen. Dieses Joch drückt unsere Schultern nicht nieder, sondern es macht sie im Gegenteil stark, so dass sie tapfer alles tragen können, was Gott über uns zulässt, alles was der Nächste uns antut. Selig der Mann, sagt die hl. Schrift, der von Jugend an das Joch getragen hat! Und ich wiederhole: In unserem Oblatenleben gibt es ein Joch, das sich immer und allzeit fühlbar macht… Man spürt, dass man Gott gegenüber nie ganz frei ist. Es geht hier nicht um die Furcht vor der Sünde und vom rechten Weg abzubiegen, man schreitet nicht „cum timore et tremore“ (Anm.: „Mit Furcht und mit Schrecken“) voran, sondern das Gefühl einer kindlichen Furcht und Ehrfurcht begleitet uns überall hin. Es schützt uns in der Versuchung und bewahrt uns vor dem Fall. Glückselig, wer so in seinem innersten Empfinden das Joch des Herrn trägt! Das ist eine große Gnade! Mit ihr besitzen wir die wahre Freiheit, die Freiheit der Heiligen so ausgedehnt, wie sie nur immer auf dieser Welt vorkommen kann. Gott ist nicht grausam, sondern gut. Ihr gebt euch ihm ganz hin. Fürchtet nichts! Er weiß euch dafür etwas anderes zurückzugeben: „Bonum est viro cum portaverit iugum ab adolescentia sua.“ (Anm.: „Gut ist es für den Mann, wenn er von Jugend auf sein Joch getragen hat.“). Ihr seid der Arbeiter, der bei jedem Wetter sich abmüht, bei Regen, bei Sonnenschein, bei Kälte und Wärme, er baut immer weiter an seinem Haus. Und das Gebäude wächst in die Höhe…

Wenn aber, wie das Sprichwort sagt, der Bau nicht weiter-geht, dann klappt es nirgendwo mehr, und das ist fatal. Gott entzieht euch seine Liebe, weil auch ihr nicht mehr das liebt, was euch zu tun obliegt. Weil ihr nichts mehr hervorbringt, was Wert hat. Niemand versteht euch mehr, niemand ist mehr mit euch. Ihr seid allein und habt den ganzen Verdruss und die ganze Angst einer unerträglichen Lage zu ertragen.

Im anderen Fall denkt daran, dass ihr jedes Mal, wo ihr eure Freiheit hingegeben habt, wahre Meister und Könige seid. Fahrt darum fort zu bauen und zu erbauen. Eure Mühseligkeiten und Schwierigkeiten sind der Hammer und die Feile, die die Bausteine bearbeiten. Sind die Maurerkelle, die den Zement und Mörtel glattstreicht und einen Stein mit dem anderen verbindet. Unter diesen Bedingungen und mit unablässigem und beständigem Bemühen baut ihr euer geistiges Gebäude auf. Haben wir das bislang so gehalten? Und noch etwas rufe ich euch oft ins Gedächtnis zurück… Verzeiht mir. Ich scheue nicht, darauf zu bestehen: Verstündet ihr bloß den ungeheuren, ich sage sogar, den unendlichen Wert der tausend Kleinigkeiten, die euch im Alltag begegnen und die im eigentlichen Sinn der Zement unseres Gebäudes sind! … Eine kleine Widerwärtigkeit, ein kleiner Zwang, ein kleines Opfer, eine kleine Treue gegenüber Gott, ein kleines Nichts, das, unbemerkt von anderen, vorüberzieht… das ist die Tugend der Tugenden, ist die Tugend eines guten Oblatentums. Es ist in der Tat der Zement unseres geistigen Gebäudes.

Neben dieser Pflicht, dass jeder von uns sein eigenes geistiges Gebäude aufrichtet, obliegt uns noch eine andere ernste Verpflichtung, eine wichtige Funktion, fast noch wichtiger als die erst genannte, ich meine unserer Kommunität gegenüber: Wir müssen nämlich auch das Haus und die Stadt der Gemeinschaft, des Ordens, die Stadt Gottes aufbauen, wie es der hl. Augustinus sie nannte.  Genau dieser Gedanke war es, der ihn dazu bewog, eine Regel aufzustellen: Hatte er doch um sich eine gewisse Anzahl von Priestern geschart, mit denen er ein gemeinsames Leben führte und eine Art Kongregation bildete. Auch hatte er eine Genossenschaft von Ordensfrauen gegründet. Und er sagte, nach dem Bild des Gottesstaates habe er diese irdische „Städte“ geformt. Sein schönes Buch vom Gottesstaat zeigt uns, wie alle Tugenden beitragen zum Zweck, den Gott sich vorgenommen hat: Nämlich zur Erbauung und zum Gedeihen der Kirche dieser Erde. Wir müssen darum auch an unser aller Gebäude, an dem der Kongregation der Oblaten des hl. Franz v. Sales arbeiten. Ist unser Haus nicht gut gefügt, nicht von Mauern bewehrt, so bleibt es allen Winden ausgesetzt: Man wird es bestehlen und ausplündern, und die entfesselten Fluten werden seine Wände einreißen. Es gilt darum, dass wir eine feste und uneinnehmbare Stadt aufrichten.

Was macht aber eine Stadt aus? Ihre Bürger, die sich zusammentun und ihre Kräfte, Interessen, Ideen und Ziele vereinen… Das erst formt eine Stadt. Ich scheue mich nicht zu behaupten, dass die Oblaten in dieser religiösen Hinsicht ebenso begünstigt sind wie irgendwer sonst. Die Oblaten sind gute Kinder. Ich kenne keine Kommunität, in der die Nächstenliebe so stark und lebendig im Herzen verwurzelt ist wie bei uns. Ich bin sicher, dass keiner unserer Patres einen Feind unter den anderen Patres hat, dass kein einziger diesen oder jenen seiner Mitbrüder anschwärzt oder versucht, ihn in seinem Tun auszustechen… Gibt es das denn anderswo? Leider Gottes ja. Es ist eine große Gnade, die Gott uns hierin erweist!

Vielleicht aber gibt es irgendwo anders etwas, was ich Individualismus nennen möchte… Jeder hält sich in diesem Winkel, in seinem Schneckenhäuschen zurück. Unsere Genossenschaft scheint keine große Bedeutung zu haben. Man weiß kaum, so scheint es, dass sie existiert… Ich frage mich, ob dies nicht aus eben dem genannten Grund der Fall ist… Oh, ich sage dies nicht, um euch unangenehme Dinge vorzuwerfen. Beachtet wohl, dass ich „Wir“ gesagt habe, ich zähle mich folglich auch dazu. Ich greife mich an erster Stelle an. Wir müssen auf diesen Individualismus sehr Acht haben, meine Freunde. Wie aber diesem Übel abhelfen, das wirklich existiert? Nun, wir müssen hier vorgehen, wie wir es für unser eigenes geistiges Gebäude tun: Versuchen wir gut zu verstehen, was wir (der Gemeinschaft gegenüber) zu tun haben, was Gott und das klösterliche Leben von uns erwarten. Und dann wollen wir uns mit ganzer Seele ans Werk machen und unseren Willen und unser Herz einsetzen.

Gegenüber der Kongregation dürfen wir uns nicht gleichgültig verhalten, vor allem nicht niederreißend. Schenken wir ihr gern unser Herz und unsere Liebe. Wir sollten uns nicht nur dafür erwärmen, was wir sind und leisten, sondern sollten Interesse zeigen für alles, was in der Kongregation geschieht, sollen uns ihre Lehren und ihre Werke zu Herzen nehmen. Mit einem Wort, wir sollen uns erwärmen für die Stadt Gottes, in die er uns berufen hat, für unsere Genossenschaft, damit wir so auf dieser Erde das Bauwerk aufrichten, zu dessen Bau wir gesandt wurden. Wir bauen es ja nicht nur allein, um uns darin zu bergen, sondern auch alle verwundeten Seelen, alle Kranke, alle kleinen Kinder, die um Brot bitten, zu bringen: Der Bursche, der von seinem Weg abgewichen ist, das Mädchen, das in Gefahr schwebt, irre zu gehen, all das ist Bauwerk, dessen Sorge uns anvertraut ist… Entziehen wir uns dieser Verpflichtung, kommt das Gericht über die inneren wie äußeren Versäumnisse.

Eine ganz klare Sache also: Meine Freunde, wir müssen zum Allgemeinwohl beitragen. Es gibt eine Doktrin unserer Genossenschaft und es gibt ihre seelsorgerlichen Unternehmungen. Es gibt ihre Interessen, und es gibt eine Ehre der Kommunität. All diese Dinge sollten wir beachten und für sie offen sein. Unseren Einsatz schulden wir vor allem ihren Seelsorgewerken, d.h. jeder bringe sein Herz bei zu dem, was ihm anvertraut ist und was im Bereich der Arbeit liegt, die der Gehorsam ihm übertragen hat. Das ist gut so. Doch der Mann neben uns? Darf er seinen Nachbarn vollkommen ignorieren? Kann er dessen Arbeit unberücksichtigt lassen, sich von ihm lossagen, ihn links liegen lassen? Bei Gelegenheit sogar seine Arbeit niederreißen? …

Schaut euch die Jesuiten an: Mag dieser oder jener wenig leisten, mag er irgendwer sein… Er findet allezeit Stütze und Billigung bei allen seinen Mitbrüdern. Was er getan hat, ein Buch, das er geschrieben, eine Predigt, die er gehalten, ein Werk, das er betreibt… Alles ist gut, immer nur sehr gut. Ist diese Art zu verwerfen? Gewiss nicht. In einer Familie liebt man den Vater, die Mutter, die Schwester, den Bruder. Da sagt man zu euch: Euer Vater ist ein unredlicher Mann, euer Bruder ein elender Schuft. Werdet ihr da beipflichten? Eure Schwester ist ein leichtfertiges Ding, eure Mutter taugt zu nichts Ordentlichem! Werdet ihr all das durchgehen lassen, ohne Beweis zu fordern, ohne Untersuchung, mit freudigem Herzen? … Ihr habt einen Bruder, der sicher kein großes Licht ist. Man greift ihn an. Werdet ihr ihn nicht verteidigen so viel ihr könnt? Ein anderer Bruder von euch ist sehr begabt. Man sucht ihn herabzusetzen, zu vernichten… Man sagt euch leise oder laut dies und das über ihn… Man will eure Familie zugrunde richten, euer Haus unmöglich machen. Ihr seid außer euch und beschämt den Verleumder und die Verleumdung…

Warum aber das für eure geistliche Familie nicht das tun, was ihr jeden Tag tätet und tut für eure irdische Familie? Was ihr jedem Mitglied eurer natürlichen Familie ersparen würdet, tut das doch auch für eure Mitbrüder! Das ist so einfach, dass man es gar nicht besonders betonen muss. Was jeder unserer Mitbrüder vor unseren wie vor fremden Augen tut, darf uns nicht gleichgültig sein. Wir müssen uns dafür interessieren, müssen es mit Liebe durch unsere Mitarbeit fördern, so wir es können. Wir dürfen es, wenn immer möglich, sogar gut finden… Ist die Sache aber tatsächlich nicht gut, darf man ihm durchaus diskret einen guten Rat geben. Niemals aber dürfen wir es uns zum Ziel machen, in Grund und Boden zu verdammen, was er getan hat. Schenkt euer Interesse, eure Hochachtung, Zuneigung und Mitarbeiter allem, wenn man euch darum bittet, was in der Kommunität geschieht.

Was die materiellen Interessen der Kommunität betrifft, vergessen wir nicht, dass wir keine Engel sind, sondern dass eine Gemeinschaft Mittel und Hilfsquellen zum Leben braucht. Beachten wir die Lehre der Kirche in diesem Punkt. Die materiellen Dinge, die einer Ordensgemeinschaft gehören, sind heilig, sind Eigentum Gottes selbst.
Daran darf man sich nicht vergreifen. Das ist so wahr, dass in den alten Orden die materiellen Hilfsquellen fast als für das Ordensleben wesentliche Dinge betrachtet wurden. Darum betrachtet die Regel des hl. Benedikt den Mönch, dessen Kloster zerstört wurde, als seiner Gelübde enthoben, nach dem Grundsatz: „Ubi deficit locus, deficit monachus.“ (Anm.: „Wo kein Kloster, da kein Mönch.“). Wenn das Kloster verbrannt wurde, gibt es vor dem Gesetz keinen Mönch mehr.

Die materiellen Dinge sind somit in einem gewissen Sinn für das klösterliche Leben wesentlich, stellen einen bedeutenden Teil, eine Basis des Ordenslebens vor. Daraus folgt, dass wir großes Interesse hegen müssen allem gegenüber, was zum Materiellen einer Kommunität zählt. Um das müssen wir uns sorgen und kümmern nicht weniger als für den guten Ruf des Klosters. Wir tragen die gleiche Verpflichtung dem Materiellen wie dem Geistigen gegenüber. Das heißt gut verstehen: Wir müssen uns im Maße unserer Kräfte und unseres Einflusses für alles einsetzen, was wir erwerben und erhalten könne, für alles, was ihr im Rahmen von Ehrbarkeit und Liebe empfangen könnt. Jeder soll seinen Teil, sein kleines Stück zum Familienhaus beisteuern. In einer Arbeiterfamilie benimmt sich ein Kind, das nicht arbeitet, das nur ans Ausgeben dessen denkt, was die anderen erwerben, verachtenswert. Es besudelt den Ehrenschild der Familie. Ich übertreibe nicht, wenn ich hier auch nicht auf Einzelheiten eingehen möchte… Was ließe sich alles über die Sparsamkeit ausführen, die ein jeder im religiösen Geist betätigen kann. Über die herzliche Sorge, um der Kongregation das Nötige zu verschaffen. Über die Zuneigung, die man ihren Interessen entgegenbringt. Die Kongregation ist ja unser Daheim, ist unser Haus, sind wir… Man kann kein treffenderes Wort für die Sache finden als: Das ist unser Daheim, das sind wir.

Schließlich, meine Freunde, müssen wir sogar unser Herz und unsere Liebe dem Orden und seinen Mitgliedern schenken. Lieben sollen wir ihre Lehren, ihre Denkart, ihre Art zu urteilen, zu handeln, zu reden. Glücklich müssen wir uns fühlen, dass wir Oblaten sind. Haben wir doch, wie ich schon tausend Mal gesagt habe, ein ganz besonderes Charakteristikum, haben eine ganz spezielle geistliche Ausbildung, haben eine unvergleichliche Gabe Gottes. Machen wir darum einen ernsten Versuch, das in die Wirklichkeit zu überführen, und ihr könnt dann selber die Resultate feststellen.

Ja, heute will ich ein ganzer Oblate sein! Will tun, was zu tun ist und Gott von mir will… Ihr werdet sehen, was Gott euch alles gibt, was ihr empfangt für euch und für die anderen… Ihr werdet nämlich alles erhalten, was ihr wollt. Versucht es nur, und ihr werdet sehen, ob ich hier übertreibe.

Ja, gewinnt eure Arbeit und eure Kongregation lieb, denn durch die Liebe allein kann man schon etwas schaffen und kann große Dinge vollbringen. Was stellte schon das griechische Volk vor? An Bevölkerung ebenso viel wie zwei oder drei französische Regierungsbezirke. Was hat Griechenland aber in der Literatur und das Kunst so groß gemacht? Ganz einfach die Liebe zum Vaterland. Sucht nur, ihr werdet nichts anderes finden. Reist man jetzt durch dieses Land und fragt sich, wie konnte solch ein ausgetrockneter Bach, solche Ruinen, die weder Gestalt noch Aussehen haben, wie konnte solch dürrer, steiniger, ausgebrannter Boden einstmals solch einen kraftvollen und wohlklingenden Ton all jenen einflößen, die von ihm sprechen… Das kann nicht vom Boden kommen, nicht von den Früchten der Erde, nicht vom Reiz des dortigen Lebens… Wo finden wir die Antwort darauf? Im Herzen der Kinder Griechenlands. Sie liebten ihre Heimat, und für diese haben sie ihre unsterblichen Meister der Kunst hervorgebracht, als die Besten der Welt. So solltet auch ihr, meine Freunde, eure Kongregation lieben, dann seid auch ihr unter den Besten. Wenn ihr im Gegenteil die Kongregation nicht oder nur wenig liebt, gleichgültig ihr gegenüber seid, werdet ihr bald nicht mehr existieren und nichts wird übrig bleiben. Der Wert der Genossenschaft liegt immer im Maße eurer Liebe zu ihr beschlossen. Legt das Thermometer auf euer Herz, und die angezeigte Temperatur zeigt auch die Vitalität euer Seelsorgewerke. Nicht ein Millimeter Unterschied besteht zwischen eurer Zuneigung und dem realen Wert der Kongregation.

Die Liebe zur Genossenschaft, die Liebe zu ihren materiellen Interessen und Unternehmungen, das ist das Gebäude, das langsam, Stein für Stein, emporwächst, und das immer im Sinn des Plans, nach dem es ins Leben gerufen wurde. Wäre es nicht bereits ein schöner Erfolg, wenn dieser Bau, diese Stadt, nichts anderes täte als euch schützen, euch vor Schnee und Regen bewahren? Diese hl. Stadt öffnet ihre Tore aber auch vielen anderen: Kindern, jungen Burschen, jungen Mädchen, verheirateten Frauen und Männern… Frauen und Männer, die böse Geschäfte getrieben haben, vielen gefallenen, verdorbenen, entweihten, vom Sturm ruinierten Seelen. Öffnet sich unsere Stadt nicht ganz weit, um sie alle aufzunehmen? Ist sie nicht eine vortreffliche Zufluchtsstätte in der Ordnung der göttlichen Vorsehung, so wie es früher Zufluchtsstädte in Israel gab? Ich hab es oben ausgeführt, unter welchen Bedingungen wir unser doppeltes Gebäude aufrichten.