2. Vortrag: Allgemeinexerzitien. Die Gelübde: Armut.
Exerzitien sind dazu da, den Ordensleuten Gutes zu tun, und darum müssen sie die ganze Aufmerksamkeit der Vorgesetzten besitzen, die ja vor Gott verantwortlich sind für den Lebenswandel ihrer Untergebenen. Wie soll man für die Untergebenen aber Exerzitien gestalten? Es gibt da Für und Wider gegeneinander abzuwägen. Allgemeinexerzitien halten (für die ganze Provinz), alle Ordensleute an ein und denselben Ort zusammenrufen, kann die brüderliche Liebe, die Frömmigkeit, den Glaubensgeist, das Vertrauen zweifellos entfachen. Es kann den Geist Gottes, den man so überfließend am Tag der Profess oder der Einkleidung empfing, wieder aufwecken und neu beleben. Das kann somit etwas Ausgezeichnetes sein. Doch lassen sich gegen diese Methode auch Einwände vorbringen. Wären alle Ordensleute vollkommen, dann wäre gegen Allgemeinexerzitien nichts einwenden. Leider sind sie es nicht, und gewisse Vorkommnisse erschüttern ein bisschen die Überzeugung, dass Exerzitien für viele Teilnehmer erfolgreich sind.
Ich könnte euch diesbezüglich gewisse Geschichten erzählen, angefangen bei den Oblatinnen.
Aber es ist zwar nicht liebevoll, über die Oblatinnen zu sprechen, doch in unserem Fall könnten wir einen Nutzen daraus ziehen. Wisst ihr, warum ich den Oblatinnen keine weiteren Allgemeinexerzitien mehr halten ließ? Und warum ich sie niemals einladen werde, sich solche Exerzitien halten zu lassen? Weil es damals, heute Gott sei Dank nicht mehr, zwei oder drei Querköpfe dort gab. Was taten sie während der Exerzitien? Diese Damen kamen in kleinen Zirkeln in irgendeiner Ecke zusammen und sind gegen unseren Pater losgezogen: Er hat die und die Maßnahme getroffen, das war die Mühe wert… Er unterdrückt die und die Schwester, versetzt sie einfach! … Seht ihr? Eine Schwester versetzen… Man könnte meinen, es handele sich darum, einen Pfarrer von einer in eine andere Pfarrei zu versetzen. Und derlei Bemerkungen regneten auch auf die Novizenmeisterin herab, auf die Oberin, auf die ganze Kommunität. Man blieb auch nicht auf halbem Weg stehen, sondern schloss auch die Gute Mutter mit ein. Unser Pater (Anm.: „P. Brisson!“) hat so allerlei sich eingebildet von wegen der Lehre der Guten Mutter… Was ist das denn schon? Viele Leute streiten darüber, über diese so genannte „Lehre“… Man macht viel Aufhebens von ihrer Heiligkeit, doch bislang hat man nicht viel davon gemerkt. Das waren so die Gespräche der Damen…
Diese labilen Geister konnten aber Schule machen. Und andere schwache Geister, die sie geschickt zu umgarnen verstanden, schlossen sich ganz natürlich ihnen an. Denn jede schlechte Ordensfrau neigt von Natur aus nach dieser Seite. Gott sei Dank ist die Gemeinschaft der Oblatinnen heute von dieser Geißel befreit, die zu einer großen Gefahr für ein Institut werden kann. Diese Damen sind ausgetreten, und die Oblatinnenfamilie hat einen guten Geist. Heute könnte man darum, wenn man wollte, so denke ich mir, ohne allzu große Gefahr zur Methode der Allgemeinexerzitien zurückkehren. Vor drei oder vier Jahre aber wäre es, wie gesagt, äußerst riskant gewesen.
Nehmen wir nun einmal an, was ja möglich wäre, dass das gleiche bei den Oblaten vorkäme: Dass verschrobene Geister, schlechte Ordensleute, und die gibt es überall, von der Zusammenkunft der Exerzitien profitieren, um gegen die Autorität, unseren Pater, die Verwaltung, die getroffenen Maßnahmen, gegen den und jenen Sturm liefen… Da würden gemeinsame Exerzitien zu einer großen Katastrophe. Unsere Patres kommen da von allen Seiten zusammen, um sich auszuruhen in Gott, und siehe da, es herrscht dort eine Epidemie. Gewiss würden nicht alle angesteckt, viele aber würden krank, und mehrere würden sterben. Das ist die Gefahr allgemeiner Exerzitien. Darum bitte ich den P. Lambert, der mich bei der hiesigen Kommunität, darauf achtzugeben. Ich lege das auf sein Gewissen und verlasse mich auf ihn. Er möge sorgfältig achtgeben, ob es solche Sondergrüppchen gibt, die abseits ihre Gespräche führen. Ich rechne übrigens sicher damit, dass Gott so etwas nicht zulässt. Darum ziehe ich es vor, die Oblatinnen private Einkehrtage (solitudes) halten zu lassen. Bei ihnen geht das leichter als bei uns. Sie haben ihre Novizenmeisterin, ihre Oberin. Denen legen sie leichter Rechenschaft ab, ihnen öffnen sie sich lieber als es Männer, als es Priester. Der Mann braucht keine so direkte Seelenführung, er stützt sich etwas stärker als die Frau auf sein Urteil und seinen freien Willen. Er ist es gewohnt, die Seelen der anderen zu führen und hat es nicht gern, wenn man ihn einzeln führe. Später, meine Freunde, wenn wir von unserem Ordensgeist tiefer durchdrungen sind und das Wesentliche unseres Ordenslebens mehr beherzigt haben, kann man sehen, ob es vorzuziehen ist, die Allgemeinexerzitien durch individuelle Einkehrtage (Einzelexerzitien) zu ersetzen. Die Zukunft wird zeigen, was zu tun ist.
Wie dem auch sei, ich wollte euch auf die Gefahr aufmerksam machen. Ich bitte euch, darauf achtzugeben. Denkt im Angesicht Gottes darüber nach. Sollte sich einer von euch (zum Kritiklastern) geneigt fühlen, und könnte sich nicht entschließen, da Abhilfe zu schaffen, der möge fortgehen und nicht bei uns bleiben. Es wäre der Tod. Man lässt keinen Leichnam inmitten von Lebenden. Du bist ein Leichnam, wenn Du Dich in einem solchen Zustand befindest. Ich übertreibe nicht. Man kann kleine Unzufriedenheiten haben mit dem Oberen. Die Vorgesetzten sind nicht intelligenter und auch nicht vollkommener als die anderen. Aber sie haben Autorität, und diese kommt von Gott. Ihr habt Gelübde abgelegt, und diese heißt es halten. Für viele bilden diese Gelübde eine leichte Last. Ihr wisst aber, dass unsere drei Gelübde, die der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams für uns das 11., das 12. und das 13. Gebot Gottes bedeuten. Diese drei zusätzlichen Gebote verpflichten uns nämlich ebenso schwer wie die anderen, so stark wie das 1., das 2. und das 3. Gebot. Die Verpflichtung unserer Gelübde hat kein anderes Gewicht und bewegt sich exakt in denselben Grenzen. Öffnet eure theologischen Bücher. Ihr habt sie alle studiert oder tut es zurzeit. Schlagt darin nach und ihr werdet mit Erschrecken feststellen, was die hl. Theologie, besonders der hl. Thomas von Aquin über die Gelübde lehren. Der hl. Thomas war dabei doch ein weitherziger und in seiner Moral gütiger Theologe. Verbietet er doch, die Irrlehrer zu belästigen, um sie zum wahren Glauben zurückzubringen. Er erlaubt nur gütige und versöhnliche Mittel und lehnt jeden Zwang ab. Fragt also diesen milden Heiligen, was er über klösterliche Armut, Keuschheit und Gehorsam denkt. Da erfahrt ihr dann, welch schreckliche Dinge er über die Verpflichtung der Gelübde sagt.
Durch die Gelübde ist man Ordensmann. Unser hl. Stifter wollte ja einen Orden gründen, der sich allein auf das Gelübde der Liebe stützt. Es hätte dort keine weiteren Gelübde gegeben, und dies eine wäre das schwerste von allen geworden. Der gute Heilige täuschte sich nicht, sondern zielte auf das Vollkommenste ab. Er sah ein, dass dies zu vollkommen war. Allzu wenige Seelen hätten diese Gelübde in seiner ganzen Fülle halten können. Für meinen Teil wüsste ich nicht, ob ich mich je dazu hätte entschließen können, ein der-artiges Gelübde zu geloben. Die drei Gelübde schließen das Wesen des Ordenslebens ein: Ohne ihre exakte Erfüllung gibt es keinen Ordensmann, oder vielmehr nur einen schlechten. Sie verpflichten uns ebenso streng wie die Gebote Gottes: Sie verpflichten strenger als die Gebote der Kirche. Von gewissen Geboten der Kirche können wir selbst entschuldigen, ohne dass jemand intervenieren müsste: z.B. sind wir verhindert oder krank, oder ist es uns unmöglich zu beichten, dann sind wir allein durch diese Tatsachen schon dispensiert, zur hl. Messe zu gehen, zu fasten, das Abstinenzgebot zu halten, zu beichten oder zu kommunizieren. Aus uns selbst jedoch können wir uns nicht von Pflichten entbinden, die mit den Gelübden verknüpft sind. Dazu bedarf es einer Erlaubnis der Vorgesetzten. Unsere Gelübde verpflichten uns andererseits so wie die Gebote Gottes selber, die zu jeder Zeit, „semper et pro semper“ (Anm.: „Immer und für immer.“) gelten. So müssen wir auch jederzeit gehorsam, arm und keusch sein. Es gibt kein Dispensmotiv, so wenig wie für die Gebote Gottes. Von der und der bestimmten Übung der Armut und des Gehorsams können wir befreit werden, doch dürfen wir das nicht aus eigener Vollmacht tun. Trotz dieses Dispenses in einem bestimmten Punkt besteht die Verpflichtung, Armut und Gehorsam zu üben, jederzeit weiter. Wir gehorchen, zwar nicht mehr durch Einhaltung der dispensierten Vorschrift, wohl aber kraft der Angleichung an den uns dispensierenden Oberen.
Das erste unserer Gelübde ist das der Armut.
Üben wir sie gern, die Armut. Die klösterliche Armut besteht bei uns in kleinen Verzichten, sie lebt von Nichtigkeiten: Verzichte und Opfer von geringer Wichtigkeit, dafür aber häufig und immer wiederholt, die uns jeden Augenblick des Lebens begleiten. Bringen wir diese Opfer mit großmütigem Herzen und liebevoll. Schauen wir auf die wirklichen Armen, wie sich verhalten und verzichten, und machen wir es ebenso. Betrachten wir unseren armen Herrn selbst und tun wir, wie er getan, und aus Liebe zu ihm.
Wir werden unsere Gelübde aber nur dann ernst und voll erfüllen, wenn wir sie fromm erfüllen. Wir sind ja keine Maschinen und verzichten auf die Dinge dieser Welt nicht einfach aus Freude am Verzicht: „Voluntaria oris mei beneplacita fac, Domine.“ (Anm.: „Die Freiwilligkeiten meines Mundes mach wohlgefällig, Herr.“). Mit unserem Herzen sollen wir handeln, mit einem liebenden Willen. Was ich auf dem Gebiet der Armut tue, Herr, tue ich für dich und mit dir, ich vereinige mich mit dir in deiner Armut.
So, meine Freunde, soll man die Armut verstehen. Was sie uns bringt an Mühen, Verspottungen und Leiden, wird dann für uns leichter zu ertragen, die Armut wird praktisch und angenehm. Seien wir in den unbedeutendsten Dingen losgeschält. Spart eine Briefmarke, ein Blatt Papier, pflegt eure Kleider. Nehmt die Unannehmlichkeiten eures Amtes auf euch, die Verzichte, die das Gemeinschaftsleben mit sich bringt, was uns in unserer Beköstigung, in unserer Bekleidung gegen den Strich geht. Nehmt alles an aus Liebe zu unserem Herrn und in Vereinigung mit allem, was er an Ähnlichem und noch viel Schmerzlicherem auf sich genommen hat! Wenn man anfängt, an der Armut herumzudeuteln, zu berechnen, ist man erbärmlich… Dann übt man sein Armutsgelübde wie eine Maschine, die zwar im vorgeschriebenen Augenblick zur Stelle ist, aber ohne Einsicht und Herz handelt.
Die Armut verpflichtet uns, nichts als eigen zu besitzen und nur die Dinge zu gebrauchen, die allen zur Verfügung stehen. Braucht man etwas Besonderes, kann nur der Gehorsam es gewähren. Aus uns können wir nichts besitzen und über nichts verfügen. Weder die Verwaltung noch der Gebrauch unserer Güter steht uns mehr zu. Sie gehören uns nicht mehr, mag auch das bürgerliche Gesetz sie unter unserem Namen laufen lassen.
Arm sein heißt: Nichts ausgeben und seine Bedürfnisse und Forderungen beschneiden. Was Eigentum der Gemeinschaft ist, gehört uns nicht persönlich. Alles, was wir jenseits des strikt Notwendigen ausgeben, müssen wir vor Gotten verantworten. Lest nach, was die geistlichen Schriftsteller und Theologen darüber sagen. Rom ist in diesem Punkt der Armut strenger als es jemals war. Es scheint, die Kirche will dieses Gelübde zurzeit bis zum Äußersten einengen.
Wenn ihr also gegen die Armut fehlt, verletzt ihr die Lehre des Geistlichen Lebens.
Wir leben nicht arm genug. Es fehlt uns am Gefühl für das Armsein. Was mich am meisten im Leben erbaut hat, war, als ich das erste Mal die Heimsuchung von Troyes betrat, der Anblick dieser religiösen und so wirklichen Armut. Alles war hier wie bei den wirklichen Armen: alte Schränke für die Wäsche, alte Möbel in der Ökonomie, alte Truhen in der Speisekammer, einige alte Körbe. Und dabei gab es hohe Damen, geboren im Schoß reicher Familien. Die Übung einer so großen Armut fällt Frauen sehr schwer und ist darum sehr verdienstlich: Dieselben Kleider, dieselbe Wäsche gebrauchen… Damit bildet man aber echte Arme heran, die das Armsein leidenschaftlich lieben. Diese kleinen Armutspraktiken sind auch keine Kindereien. Darin besteht vielmehr das klösterliche Leben, oder es bildet wenigstens einen wichtigen Teil davon. Entweder ist man Ordensmann oder man ist es nicht. Die Armut verpflichtet uns, wie gesagt, ebenso wie die Gebote Gottes und der Kirche. Gebraucht ein Ordensmann Eigentum der Gemeinschaft außerhalb der hl. Regel, außerhalb des Gehorsams und der Erlaubnis, dann ist das wie wenn er stiehlt. Die Schwere des Verstoßes ist hier nicht geringer als bei einem Diebstahl. Lest nur nach bei den Gottesgelehrten, sie sagen alle dasselbe.
Diese Verpflichtung hat ihre raue und wundreibende Seite. Man kann aber damit fertig werden, wenn man es macht wie der hl. Stifter oder die Gute Mutter: Die Armut mit dem Herzen üben, mit der Liebe zu unserem Herrn. Das müssen wir durch betrachten. Denn die Armut liegt nicht mehr in unseren Sitten und Gebräuchen verankert. Früher, als die Sitten noch christlicher waren, verstand man auch die klösterliche Armut besser.
Wenn Herr Chappuis Geld an seine Töchter (ins Internat nach Fribourg) schickte, fügte er ausdrücklich hinzu, es sei der Oberin auszuhändigen, damit diese darüber verfüge. So dachten und handelten damals die Gastwirte. Sie hatten Verständnis für das klösterliche Leben. Ich erinnere mich auch jenen spanischen Königs, bei dem sich ein Abt beschwerte über Quälereien und Erpressungen seines Lehensherrn. „Sie sagen durchaus Richtiges“, rief er aus, „ja Sie sagen ja noch gar nicht genug.“ Und indem er mit dem Finger auf die eleganten Schuhe des Mönches zeigte, die schwerlich mit dem Armutsgelübde übereinstimmten, sagte er: „Er stiehlt Ihnen alles, selbst das notwendige Leder, um derbe und solide Mönchsstiefel zu machen…
Wisst ihr, dass die klösterliche Armut wie ein fortwährendes Sakrament wirkt, das auf euch die Gnade Gottes herabzieht? Sie gibt uns die Möglichkeit, Gott jeden Tag etwas zu schenken, bringt uns in innerste Verbindung mit ihm. Wir leben dann sein Leben, setzen unsere Schritte in die Spuren seine Füße, tun das gleiche wie er während seines irdischen Aufenthaltes, als er seine Tage predigend und seine Nächte betend verbrachte und nichts hatte, wohin er sein Haupt legen konnte.
Zum Schluss noch ein Wort über das Gelübde der Keuschheit.
Das Gelübde der Keuschheit hat zwei Seiten, eine negative und eine positive. Die negative verbietet die Akte, Gedanke und Worte, die der Tugend der Keuschheit entgegenstehen. Darüber müssen wir ein hinreichend aufgeklärtes Gewissen haben. Wir kennen die Dinge, die erlaubt sind und die anderen, die dem 6. und 9. Gebot Gottes widersprechen. Dazu sind wir infolge unseres Keuschheitsgelübdes noch strenger verpflichtet. Bewahren wir Mut in den Versuchungen. Gott verlässt niemals, wenn man sein Vertrauen in ihn setzt. Diese heimlichen Kämpfe sind manchmal schrecklich. Die Natur scheint den entschlossensten Willen mit sich fortzureißen. Gott aber ist da, wenn wir zu ihm unsere Zuflucht nehmen. Ohne dass wir ihn sehen, wohnt er unserem Kampf bei. Von jenseits der Mauer ermuntert er uns in unseren Anstrengungen, nur sehen und hören wir ihn nicht. Wir tappen im Dunkeln, die Finsternisse scheinen vom Herzen zum Geist emporzusteigen. Wir verstehen nichts mehr von dem, was wir da tun. Wir sind nur noch ganz voll von der Versuchung und vom Bösen. „Domine, salva nos, perimus.“ (Anm.: „Herr, rette uns, wir gehen zugrunde.“). Muss uns das erschrecken? Nein. Wo warst du, Herr? Ich war da… Mit dem Aufschrei deines Herzens zu Gott, wird dieser dich nie verwerfen. Er ist dein Vater und hat Mitleid mit seiner Kreatur. Es genügt, ihn zu rufen, dass er komme: „Ecce venio.“ (Anm.: „Siehe, ich komme.“). Er vergisst uns nicht, wenn er auch ein bisschen zu zögern scheint. Dass der Mut uns nie fehle, wenden wir uns auch an Maria und bitten sie. Sagen wir auch zu ihr: „Meine gute Mutter, ich bin sehr heftigen Versuchungen ausgeliefert, ich, der ich dich doch lieben möchte. So viele andere, die dich nicht zu lieben wünschen, entgehen solchen Prüfungen, und mich lässt du im Stich!“ … Jeder hat ein kleines Mittelchen, das ihm der Beichtvater geraten oder Gott eingegeben hat, um den Angriffen der Versuchung zu entgehen. Machen wir davon Gebrauch. Das hat immer Wirkung, wenn wir es mit Glauben und Vertrauen tun: Eine intensive Arbeit, eine Ablenkung, ein angenehmer Gedanke, ein fesselndes Studium…
Sollen wir uns fürchten vor Versuchungen? Sie sind zwar mühselig, aber welches ist ihre letzte Wirkung? Je mehr du versucht wurdest, umso mehr ist Gott mit dir und ruft dich zur Heiligkeit. Er hat dich gestärkt in der Anfechtung. Willst du wissen, welchen Grad von Tugend und Gottesliebe du erreichen kannst und Gott von dir erwartet? Er entspricht aufs Genaueste dem Grad an Heftigkeit, mit dem die Versuchung sich gegen Dich entfesselt hat. Und dieser Grad ist auch exakt die Summe an Gutem, das Du den Seelen erweisen kannst. Jener Priester bringt den Seelen den meisten Nutzen, der am meisten versucht wurde. Er hat widerstanden, er hat gesiegt. Er verfügt über die nötige Erfahrung und das Wissen, um die Seelen vor Schaden zu bewahren, sie zu verstehen, und zu unterstützen. Sein mühseliger und siegreicher Kampf hat ihm über das Herz Gottes Rechte verdient, die andere nie haben können.
Fürchtet also nichts und erschreckt nicht: Je mehr ihr versucht werdet, umso reicher wird eure Ernte in der Kirche Gottes ausfallen. Die Seelen kommen zu euch. Ihr habt die Kraft, sie zu befreien. Als die Ägypter und Israeliten Steine von sechs oder acht Metern Länge und fünf oder sechs Metern Breite auf die Höhe der Pyramide hievten, bedurfte es ungeheurer Anstrengungen. Seht aber auch das Resultat: Nach vierzig Jahrhunderten sind sie immer noch da. Hätten sie wie Hiob Häuser aus Lehm oder ohne Fundament auf weichen Sand gebaut, so hätten Wind, Regen und Sturm sie seit langem davongetragen.
Ich sprach soeben von den Maschinen. Die Versuchung ist die mächtigste Maschine, die die wirksamste und sicherste Wirkung hat. Wir wollen morgen vom zweiten Teil des Gelübdes der Keuschheit sprechen.
Ich lenke von neuem, meine Freunde, die ganze Aufmerksamkeit und Bemühung eures Gewissens auf die Verpflichtungen unserer Gelübde. Habt Furcht vor euren Gelübden, Furcht, sie nicht zu erfüllen. Wir müssen über sie beim Jüngsten Gericht Rechenschaft ablegen. Halten wir sie aber treu, ist uns die Freundschaft Gottes sicher. „Iam non dicam vos servos.“ (Anm.: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte.“): Mit euren Gelübden seid ihr nicht mehr Knechte, sondern meine Freunde. Ihr steht nicht mehr unter meinen Befehlen, vielmehr stehe ich euch zu Befehl. Was mein himmlischer Vater mir ins Ohr des Herzens sagt, sein Geheimnis, seine Liebe, das offenbare ich euch, es wird euer Anteil für immer.