Exerzitienvorträge 1892

      

2. Vortrag: Bußgeist.

Die wesentliche Vorbedingung der Heiligkeit ist die Abtötung, die Vollkommenheit der Abtötung aber ist Buße (Bußgeist, Bußfertigkeit, Reue, Zerknirschung). Ein abgetötetes Leben führen ist ausgezeichnet, ein bußfertiges Leben führen aber ist vollkommener. Und da unser hl. Stifter wünscht, wir sollten nach der höchstmöglichen Vollkommenheit streben, ist es angezeigt, ja unumgänglich, diesen Weg der Abtötung und Buße zu betreten. Was die hl. Magdalena unserem Herrn so angenehm gemacht hat, war ihr Bußgeist. Was die Kirche zu Ehren des hl. Aloysius von Gonzaga singt, was sie uns in seiner Festoration beten lässt: „Qui innocentem non secuti, paenitentem imitemur.“ (Anm.: „Da wir seiner Unschuld nicht gefolgt sind, wollen wir diese Buße nachahmen.“), zeigt, wie hoch die Kirche den Bußgeist schätzt. Die Buße erhebt die Seele zu Gesinnungen jener der göttlichen Forderungen entspricht, die die erste von allen ist: Die Gerechtigkeit Gottes. Ein Leben der Buße ist zweifellos das, was uns Gott am nächsten bringt. Hier ist eine Täuschung nicht möglich: Alle, die in der Kirche große Dinge leisten, die einen tiefen Einfluss auf die Seelen ausüben, verdanken es ihrem Bußleben.

Wir haben vor einigen Wochen einen unserer Freunde, den hochwürdigen Herrn Bourbonne, Geistlicher der Heimsuchung von Paris. Ich stand in engem Kontakt mit ihm. Abbé Bourbonne  hat große und schöne Dinge gewirkt, hat eine große Zahl von Seelen zu Gott zurückgeführt, viele zu den schönsten Stufen der Vollkommenheit geleitet, war Seelenführer vieler Menschen. Wem verdankt er diesen Einfluss? Seinem harten und strengen Büßerleben. Ich traf ihn, als er das letzte Mal in Troyes war. Er ging zur Heimsuchung. „Was macht Gott zur Zeit mit Ihnen“, fragte ich ihn, als ihm die Hand drückte. „Oh, ich weiß es nicht recht“, antwortete er. „Ich versuche, etwas für ihn zu tun, ich führe ein Bußleben…“ Man spricht auch viel vom Herrn Harmel. Welches Leben führt er? Ich habe ihn besucht, sah sein Bett. Er schläft in einem Sarg, fastet alle Tage. Wenn er einen Vortrag zu halten hat, geißelt er sich vorher. Der Pfarrer von Ars zog die Seelen an. Das tat er sicher nicht durch seine Beredsamkeit, auch nicht durch lange Betrachtungen, da er sein ganzes Leben im Beichtstuhl und mit Katechismusunterricht zubrachte. Aber führte ein Bußleben. Können wir es genauso machen wir er? Nein, das entspräche nicht unserem Ordensgeist, wir leben nicht in entsprechenden Lebensumständen. Wir müssen arbeiten, unterrichten, Seelen führen. Darum müssen wir die Buße in unseren täglichen Beschäftigungen verlegen. Die Buße, die wir da tun können, kommt an Verdienst einem heroischem Tugendakt gleich. Was sagt Gott darüber? Was sagt unser Direktorium? Wir sollen Gott all unser Tun aufopfern und dazu alle Pein und Abtötung, die damit verbunden sind. All das heißt es im Geist der Buße annehmen. Dieses kleine Wort, dieser unscheinbare Gedanke schließt eine sehr hohe Philosophie ein. Diese Intention, wenn wir mit ihr ernst machen, versetzt uns in ein Leben der Buße. Tun wir also unsere Buße in diesem Gedanken des Direktoriums, in der inneren Einstellung, die es uns da angibt. Beschränken wir uns nicht auf gelegentliche Abtötungen, sondern führen wir ein echtes Bußleben.

Steigen wir hinab in unser Herz. Wer hätte keine Buße nötig? Wer kann von sich behaupten: „Ich schulde der göttlichen Gerechtigkeit nichts?“ Nicht einer kann das zu Gott sagen, wie auch keiner von uns mit Jesus fragen kann: „Wer kann mich einer Sünde zeihen?“ Es ist darum nur billig, wenn wir Buße tun. Leisten wir aber großmütige Buße, dann dürfen wir wissen, dass wir nicht nur der göttlichen Gerechtigkeit Genüge tun, sondern dass wir unsere Seele in den Stand der Heiligkeit versetzen. Wir befinden uns dann auf dem wahren Weg, dem sicheren Weg, wo wir uns nie täuschen können. Eine Ordensseele, die diesen Bußgeist in sich trägt, lebt in einer tiefen Sammlung, sie lebt mit Gott, und so allezeit auf dem Niveau, das ihr zukommt. Sie setzt ihren Fuß immer auf das richtige Terrain. Gott trägt sie in sich, und der lässt sie seine Gegenwart spüren. Er wirkt in ihr auf eine ganz besondere Weise.

Wie sollen wir nun Buße üben? Zunächst mit unserem Nächsten. Ihr, die ihr Lehrer seid: Tut es im Geist der Buße! Ihr habt eine schwierige Klasse, eure Schüler sind träge und gleichgültig. Jeden Augenblick muss man sie wachrütteln, sie machen euch ungeduldig. Behandelt da eure Schüler im Geist der Buße, tut Buße durch sie. Gott lässt das zu. Bedenkt, dass kein Blatt vom Baum fällt ohne seine Zulassung. Gott hat also diese schwierige Lage zugelassen. Als David auf der Flucht war, ging er seinen Weg unter den Verwünschungen des Semei und seiner Leute. Da sagte David zu seiner Begleitung, die diese Schurken züchtigen wollten: „Lasst sie, der Herr hat diese Worte gesagt.“ Denkt auch ihr so. Was sie da tun, kommt von ihrem schlechten Charakter, von ihrem Alter. Es kommt auch von ihrer Respektlosigkeit und ihrer Rachsucht. Vielleicht habt ihr sie einmal geärgert, was sie euch noch nachtragen. Es ist nicht wichtig. So sollt auch ihr die Dinge einfach im Geist der Buße annehmen, ohne auf den Beweggrund zu schauen. Ich sage nicht, das bitte ich wohl zu bedenken, ihr sollt euch den Launen der Schüler ausliefern und sollt ihren Charakter nicht zu bessern trachten. Ich sage bloß, ihr solltet innerlich mit Hilfe all dieser Zwischenfälle Buße tun, echte Sühne leisten für all das, was ihr gesündigt habt: „Mea culpa.“ (Anm.: „Durch meine Schuld“). Die begangenen Fehler verlangen eine Buße von Gott, da habt ihr sie.

Tut eure Buße auch bei den Schülern, die ihr zu beaufsichtigen habt. Das ist schon eine bedeutende Bußübung, die Aufsicht. Mitunter gibt es Novizen in St. Bernard, die sich durch diesen Dienst gedemütigt fühlen. Haltet ruhig in (unserer Schule) St. Bernard Aufsicht. Anderswo würde man euch vielleicht ganz andere zumuten. Z.B. in der Großen Kartause würde man euch die „Örtchen“ (franz. „lieux“) leeren lassen. Würde euch das weniger schwer fallen, die entsprechenden Eimer zu tragen? … Halten wir darum im Geist der Buße unsere Aufsichten.

Ihr habt ja für eure Sünden zu sühnen. Man kann kein echter Ordensmann sein ohne diesen Geist der Gerechtigkeit und Billigkeit gegenüber dem Herrgott, wenn ihr ihm nicht eure Schuld bezahlt habt. Dazu seid ihr verurteilt. Dem verdankt ihr aber auch eure Rechtfertigung und Heiligung, vergesst das nicht. Ich bitte euch: Gerade angesichts solcher Demütigungen, Kränkungen und Bitterkeit heißt es bußfertig sein. Wenn ihr euch so unter die Hand Gottes beugt und euch schuldig bekennt, wird euch alles zu einer Quelle großer Verdienste.

Der hl. Martyrer Ignatius schrieb, er sei von zehn Leoparden umgeben, „quorum malitia doctrina mea“, ihre Bosheit ist meine Belehrung, meine Lektion. Sie zeigt mir, wie weit meine Geduld, Demut und Unterwerfung gehen muss. Das ist ein ausgezeichnetes Mittel für mich, Buße zu tun und mich abzutöten. Betreffs Aufsichten möchte ich euch sagen, dass ihr eure Schüler achten sollt. Alle heiligen Lehrer, die ich gekannt habe, besaßen diese Ehrfurcht vor ihren Schülern. Der ehrwürdige Herr Auger, der ein heiligmäßiger Mann war, zugleich aber auch etwas boshaft, verstand es, notfalls Pfeile auszusenden, die ihr Ziel nicht verfehlten. Er war dermaßen liebenswürdig, dass er mit seinem Schalk niemand verletzte. Er besaß die Ehrfurcht vor seinen Schülern in hohem Maße. Tat er das, weil er sich über diesen oder jenen Schüler einer Täuschung hingab, oder glaubte er, weniger Geist zu besitzen als sie? Nein, er war sich seiner Überlegenheit durchaus bewusst. Sein Motiv war höher: Er war ein bußfertiger Mensch. Er suchte vor allem und bei jeder Gelegenheit, seine Seele zu heiligen, und das tat er im Besonderen, indem er seinen Schülern Hochachtung entgegengebrachte.

Tut also Buße mit Hilfe eurer Schüler und tut es mit sämtlichen Menschen, mit denen ihr in Beziehungen steht. Seht darin den Willen oder die Zulassung Gottes, und sagt notfalls mit dem hl. Ignatius: „Quorum malitia doctrina mea.“ (Anm.: „Deren Bosheit ist für mich Belehrung.“). Ich muss mit ihnen ebenso weit gehen, wie sie gehen und halte mich nicht unterwegs auf. Das tu ich nicht aus Geduld, sondern aus Bußgeist. Ja, wir sind nicht bußfertig genug. Die Bücher, die heute geschrieben werden, sprechen wenig von der Buße. In den kleinen Büchlein der Frömmigkeit, blau oder grau eingebunden, die uns z.Z. überschwemmen, finden wir nie ein Kapitel über die Buße. Man besingt sehr den Marienmonat, den Monat der Blumen und Blüten. Das ist ja ganz schön, aber z.B. das Fastenopfer verschwindet. Die christlichen Familien kennen die Buße nicht mehr. Noch weniger kennt man sie in der Welt „comme il faut:“ Man veranstaltet Tänze, um die Armen zu unterstützen, doch die Buße versteht man nicht mehr. Der gute Kapuziner, der unsere Satzungen durchsehen musste, hat dagegen sehr lebhaft protestiert, und in unsere Satzungen ein Kapitel über die Buße eingefügt. Er hat eine Verpflichtung für uns daraus gemacht, Buße zu tun und darüber predigen. Die Buße, wie ich sie meine, ist dem Herzen Jesu so angenehm und köstlich! Die Bereitschaft, jeden Verzicht anzunehmen, um die Verzeihung unserer Sünden zu erlangen, nähert unser Herz ganz innig dem Seinen.
Tut des Weiteren Buße mithilfe der verschiedenen Ereignisse des Lebens, der Schwierigkeiten und Heimsuchungen. Wie oft hat mich der Anblick der geduldigen Buße gewisser Vorzugsseelen inmitten ihrer Trübsale erbaut! Vor einigen Jahren war ich in Rom im Kloster der Heimsuchung. Die Hälfte des Klosters war bereits von den Behörden beschlagnahmt worden, und jetzt wollte man auch die andere Hälfte konfiszieren. Da sagten mit diese guten Schwestern ganz ruhig: „Ohne das wären wir keine Bräute unseres Herrn, der während seines Lebens nichts hatte, wohin er sein Haupt legen konnte.“ Kein Wort der Bitterkeit gegen ihre Verfolger kam über ihre Lippen.

Seien wir auch bußfertig mit uns selbst, indem wir uns selbst ertragen und ständig an uns arbeiten. Es ist manchmal schwer, sehr schwer, in unseren Erbärmlichkeiten, Schwächen und Mutlosigkeiten auszuharren. Da brauchen wir Liebe und Geduld auch mit uns selbst. Der hl. Stifter will, dass wir die Schwächen unserer Seele im Geist der Buße annehmen, selbst unsere Fehler, der Mangel an Verstand und Gedächtnis. Demütigen wir uns da unter die Hand Gottes, die gegen uns nicht freigebig scheint. Üben wir die Buße auch, indem wir die Versuchung annehmen. Die Versuchung fällt uns schwer, demütigt und entmutigt uns. Sie wirft uns aus unserem Gleichgewicht, aus dem festen Stand. Was überwindet die Versuchung? Der Kampf? Das ist nicht immer ausgemacht. Im Gegenteil, manchmal zeugt der Kampf neue Versuchungen. Was sie überwindet, ist ein bußfertiges Herz. „Cor contritum et humiliatum non despicies.“ (Anm.: „Ein zerknirschtes und gedemütigtes Herz wirst Du, oh Gott, nicht verschmähen.“). Tun wir also auch mit den Versuchungen Buße. Dazu haben wir häufig Gelegenheit. Demütigen wir uns unter die Hand Gottes. Die meisten Versuchungen kommen von unseren Untreuen gegen Gott, von den schlechten Gewohnheiten, die wir uns zugelegt. Geduldig die körperlichen Leiden, Kranken und Schmerzen ertragen, hielt man schon im Alten Testament für Buße. Hiob tat sie auf seinem Misthaufen.

Das christliche Gesetz geht weiter, vor allem die religiöse Doktrin. Wir haben diese Peinen und Leiden verdient. Geben wir es ruhig zu. Tun wir darum Buße für unsere Sünden. „Aber welche Sünden habe ich denn begangen, um so streng bestraft zu werden?“ Ihr dürft nicht über Gott zu Gericht sitzen. Du hast noch ganz anderes verdient. Und was Gott dir schickt ist immer noch sehr gut. Bedenke die Überlegungen der Theologie: Dir selbst überlassen, bist du unfähig, der göttlichen Gerechtigkeit Genugtuung zu leisten, dich zu rechtfertigen. Da Gott sich mit dem wenigen, das er dir schickt, begnügen will, ertrage es im Geist der Buße.

Üben wir uns im Geist der Buße schließlich auch in den eigentlichen Bußakten, die unsere hl. Regel von uns abverlangt: Vergessen wir nicht die kleine Abtötung bei jeder Mahlzeit. Diese Praxis bringt Gnade ein. Es ist ein echtes Sakramentale, bewirkt Verzeihung unserer Sünden, erwirkt uns auch die Gnade einer großen Gewissenhaftigkeit und Treue zu unseren Verpflichtungen. Sie hilft uns, unsere Sinnlichkeit und Leckerhaftigkeit zu überwinden. Stört uns etwas bei unserem Essen, in unserer Kleidung, in unserem Mobiliar, müssen wir auf dies und jenes verzichten, was hindert uns, dies im Geist der Buße anzunehmen? Mit dem allein schon können wir Heilige werden. Unser hl. Stifter will, dass wir uns allein mit dem, was unvermeidlich ist, heiligen. Unsere ganze Buße ist in den Worten enthalten: Auf eine heilige Weise das leiden, was wir zwangsläufig leiden müssen. Folgen wir der hl. Magdalena, die auf dem Berg von St. Baume Buße tat (Anm.: „La Ste. Baume: Wallfahrtsort zu Ehren der hl. Maria Magdalena in Südfrankreich, d. Übersetzer.“). Machen wir die Buße zu unserer Herzenssache. Unterlassen wir keine unserer Bußübungen. Auch jene nicht, die Gott zusätzlich schickt. Dazu jene, die Rom uns auferlegt.

Wenn Gott uns allen die Gnade schenkt, die Lehre von der Buße gut zu verstehen und zu praktizieren, sind wir auf dem guten und wahren Weg und werden heilige Ordensmänner.