Exerzitienvorträge 1891

      

2. Vortrag: Wie soll man Exerzitien halten?

Beim gestrigen Vortrag erklärte ich euch das Wesen des „Weges“: „Ego sum via“ („Ich bin der Weg.“) Ich zeichnete euch die Gefahren, in die man gerät, wenn man darunter zuerst und vor allem einen Zustand von besonderen Gnaden und Gunsterweisen versteht, mit denen Gott gewisse Seelen auszeichnet und die dem glücklichen Erwählten ein besonderes Siegel oder eine Auszeichnung verleiht… Ich zeigte euch in wenigen Worten die Gefahr einer solchen Auffassung, die theoretisch die Irrlehre streift und in der Praxis zum Abgrund führen kann. Der Weg, von dem die Gute Mutter sprach, ist mit Sicherheit etwas anderes und ganz anders wünschenswert: Die Einheit unseres Wollens mit dem Wollen Gottes, die Einheit unseres Herzens mit dem Herzen Gottes. Wir wollen dann das, was Gott will und genau in dem Punkt und der Weise, die ihm angenehm ist. Die Seele, die auf diesem Weg dahingeht, will das fest und wirksam und befindet sich ohne jeden Zweifel auf dem Weg der Heiligkeit. Immer, wenn eine Seele entschlossen ist, den Willen Gottes ohne Abstriche zu dem Ihrigen zu machen und total von ihm abzuhängen, führt sie auf Erden bereits das Leben der Seligen des Himmels. Wenn die Gute Mutter so schöne Dinge sagt, um Mut zu machen, auf diesen Weg einzuschwenken, dann täuscht sie sich nicht! Ihr werdet euch davon überzeugen, meine Freunde. Jede Seele, die sich großmütig dazu entschließt und diesem Entschluss treu bleibt, darf man als für den Himmel vorherbestimmt bezeichnen. Sie erfährt ohne Zweifel in allen Zufälligkeiten und Ämtern, die sie innehaben mag, besondere Hilfen Gottes. Wenn Gott sie mit natürlichen und besonderen Gaben bereichern will, dann erhält sie alles Nötige, um ihnen zu entsprechen. „Si scires donum Dei.“ (Anm.: „Würdest Du doch die Gabe Gottes erkennen!“) Sie versteht das und ahnt es.

Mit dem, was ich gestern gesagt habe, wollte ich euch nicht abraten, diesen „Weg“ zu gehen. Ich wollte euch lediglich die Klippe skizzieren, an der ihr zerschellen könntet, wenn ihr den Weg nicht unter dem richtigen Gesichtswinkel nehmt, der da ist: Vereinigung des Willens und des Herzens mit dem Willen und dem Herzen Gottes.
Und das sind, ich wiederhole es, die beiden sicheren Bedingungen für die Heiligkeit.

Ich kann euch nicht genug dazu ermuntern, diesen Weg zu gehen… Was habt ihr dafür getan? Nichts anderes als die Gebot Gottes und der Kirche zu beobachten, eure Satzungen und das Direktorium zu halten. Seid gewillt, im Inneren eurer Seele jederzeit den Willen Gottes, wie immer es ausgehen mag, zu empfangen. Mit Gott in Verbindung zu bleiben, und euch auf ihn unter allen Umständen stützen. Damit will ich euch keine Vorlesung in Theologie halten, sondern einen Fingerzeig geben oder vielmehr einen sicheren Weg aufzeigen, den ich eurer Seele damit aufschließe und dem es folgen heißt, will man das erreichte Ziel erreichen. Wir müssen uns alle ohne Ausnahme auf diesen Weg einlassen, damit wir auch die anderen nach uns ziehen. Denn dazu sind wir berufen. Bedenkt, dass immer, wenn eine Seele sich dazu entschließt und großmütig diese Verhaltensweise annimmt, sich in ihrem Inneren eine reale Umwandlung vollzieht, und ihre Heiligung kräftigt. Gewiss nicht eine wunderwirkende Heiligkeit, aber doch die echte und grundlegende. Das ist dann der gute und heilige Ordensmann, der pünktlich seine Regel hält, ohne Abstriche der Nächstenliebe praktiziert, die Demut, Abtötungen und alle Tugenden übt, die sich Gefolge der Gottesliebe einfinden. Wir bitten die Gute Mutter, uns diese Dinge einsehen, und praktizieren zu lassen.

Heute möchte ich, meine Freunde, ein Wörtchen über die Exerzitien sagen. In diesem Jahr wollten wir nicht wie in früheren Jahren allgemeine Exerzitien halten. Priestergenossenschaften, Männergemeinschaften machen für gewöhnlich keine Exerzitien. Sie halten alle sechs oder zehn Jahre ihr Generalkapitel ab, und das ersetzt die Einkehrtage. So halten auch die Jesuiten und die alten Orden gewöhnlich keine allgemeinen Exerzitien. Unsere Kongregation beginnt sich auszubreiten, und es würde bald unmöglich, eine so große Zahl von Ordensleuten zu versammeln. Das entspräche im Übrigen auch nicht unserem Gelübde der Armut. Wir wollen uns erinnern, dass dieses Gelübde zwar zunächst den verpflichtet, der es ausspricht, doch verpflichtet es in gleicher Weise auch die Kommunität selbst, das Haus, in dem der Ordensmann, der es ablegt, wohnt.

Man muss auch daran denken… Ein allzu guter Oberer, der zu leicht Unkosten genehmigen würde, würde sich schuldig machen, weil er ganz klar gegen die Absichten der hl. Kirche verstieße, die wünscht, dass ihre geistigen Familien die Armut üben. So erlauben die Jesuiten keine Vergnügungsreisen über die zum Dienst an der Gesellschaft erforderlichen oder die absolut notwendigen hinaus. Davon abgesehen glaubt sich der Obere gehalten, selbst für sich die Armut zu beobachten und die anderen strikte das Armutsgelübde halten zu lassen, und so überflüssige Ausgaben für Reisen zu vermeiden. Machen wir diesen Standpunkt auch zu unsrigem und handeln wir bezüglich der Exerzitien als Ordensleute, die ihre Einkehr für sich privat halten.

Der Weltklerus muss allgemeine Exerzitien machen. Der Bischof ist dafür verantwortlich, dass jeder Priester jedes Jahr seine Exerzitien macht. Er hält sich an diese Vorschrift. Er veröffentlicht alljährlich den Erlass für die Pastoralexerzitien und liefert damit seinem Klerus die Möglichkeit, sich wieder in diese hl. Übungen zu versenken. Das ist ein wahrer Hochgenuss für den armen Landpfarrer unsrer religionslosen Landstriche, der während eines ganzen Jahres alle Sonntage für leere Kirchen und Bänke gepredigt hat, wenn er einmal selbst gute Worte zu hören bekommt. Ich wurde immer gerührt beim Erleben solcher kirchlicher Exerzitien. Und für den Prediger ist es immer eine hohe Ehre und ein tiefer Trost. Man kann sich keine intelligentere, wohlwollendere und sympathischere Zuhörerschaft vorstellen als diese Priester. Es ist eins der schönsten Erinnerungen des Lebens. So ist es also eine schöne und heilige Sache, diese allgemeine Einkehr des Klerus der Pfarreien.

Für uns wird das mehr und mehr zu einer Unmöglichkeit. Einer der Hauptgründe dafür sind, wie gesagt, die bedeutenden Ausgaben, die diese Reisen verursachen. Und dann ist zu fragen, ob Allgemeinexerzitien für den Ordenspriester, für den Oblaten des hl. Franz v. Sales ebenso notwendig sind wie für den Weltklerus. Der Ordensmann hat seine Regel treu zu erfüllen, Tag für Tag und Stunde für Stunde. Hier findet er alles. Er besitzt Regel und Satzungen, hat sein Direktorium. Die möge er praktizieren. Das ist die ganze Ermahnung, deren er bedarf. Während der Exerzitien möge er über die heiligen Vorschriften nachdenken, und seine Seele damit nähren. Wozu noch viele andere Betrachtungen und Vorträge? Das findet er alles in den Ordensschriften, wenn er guten Willen hat… Ist er ein innerlicher und gesammelter Mensch? In seiner Beziehung zum Nächsten, ist er liebevoll, wohltätig, voll Eifer für das Heil der Seelen verzehrt? Das alles schuldet er den Mitmenschen, während er für sich selbst die Einsamkeit des Herzens pflegt.

In Zukunft planen wir daher für gewöhnlich unsere Jahresexerzitien in (privater) geistlicher Einkehr… Denn jährliche Exerzitien sind für den Oblaten des hl. Franz v. Sales wesensnotwendig, so wie für jeden Ordensmann und jeden eifrigen Christen. Unsere Satzungen schreiben uns im Übrigen formell fünf oder zehn Tage geistlicher Einkehr vor, das ist für uns eine Verpflichtung.

Wie sollen wir nun diese (private) Einkehr gestalten? Nach der Methode des hl. Franz v. Sales. Im Allgemeinen widmen wir ihr fünf Tage. Das scheint praktischer als zehn Tage, die wohl ein bisschen lang wären. Man könnte da müde und überdrüssig werden. Bei Exerzitien mit Vorträgen kann man leichter man leichter mehr als fünf Tag zubringen, weil es da mehr Abwechslung gibt, man neue Dinge hört, die die Aufmerksamkeit wachhalten. Für eine stille geistliche Einkehr genügen für gewöhnlich fünf Tage.

Am ersten Tag dieser Einkehr hält man seine Seele in Sammlung bei Gott. Man befolgt (Anm.: Hier ist im französischen Text ein Druckfehler, d. Üb.) so gut man es nur kann, an diesem ersten Tag sein Direktorium und die von der Exerzitienordnung vorgeschriebenen Übungen. Das sollte wie ein Tag der Treue sein, ein vollkommener Tag, wo man ganz treu seine guten Meinungen macht, möglichst vollkommen und liebend die einzelnen Übungen der Tagesordnung vorzunehmen sich bemüht und alle Vorschriften und Empfehlungen auf den Buchstaben genau nimmt. Und das Fundament, auf das man alles stellt, sei das Vertrauen und Empfehlungen auf den Buchstaben genau nimmt. Und das Fundament, auf das man alles stellt, sei das Vertrauen und die Hingabe an den Willen Gottes. So sagte ja auch unser Herr zu den Aposteln: „Venite seorsum, in desertum locum et requiescite pusillum.“ (Anm.: „Kommt abseits an einen entlegenen Ort und ruht ein wenig aus.“) So also sieht unser erster Einkehrtag aus.

Am zweiten Tag soll man sein Gewissen erforschen, und zwar ernsthaft und gründlich, nach der Methode des hl. Stifters. Da sollen wir die Gebote Gottes und der Kirche, die Satzungen und die Gelübde, das Direktorium und die Standespflichten, unsere persönlichen Leidenschaften, die diversen gefährlichen Gelegenheiten, in denen wir uns befanden, die verschiedenen Ämter, die wir ausgeübt, an uns vorüberziehen lassen. Nachdenken, einsehen, und zu sich selber sagen: So schlecht habe ich die Vorsätze gehalten, die ich Gott versprochen hatte. Dann bereitet man eine klare und bündige Beichte vor und beichtet in großer Zerknirschung… Das ist die Hauptbeschäftigung des zweiten und des dritten Tages, und man bemüht sich, das Direktorium weiterhin treu zu leben.

Der hl. Stifter sagt, dass die durch das Bußsakrament und selbst schon vor Empfang desselben infolge des Reueaktes, gereinigte Seele  im gleichen Augenblick so gestärkt und genährt ist, dass sie künftig in sich selbst die Kraft schöpfen kann, alle Heimsuchungen, Schwierigkeiten und Versuchungen zu bestehen, die über sie kommen mögen.

Nach der Beichte kann man an die Schwierigkeiten denken, die man mit dem Nächsten gehabt hat. Man fasst diesbezügliche Vorsätze und kräftigt seine Seele durch das Gebet. Innerlich und äußerlich wahrt man den Frieden und die Vereinigung mit unserem Herrn. Mit ihm zusammen denkt man an seine täglichen Beschäftigung, seine Schüler, seine Beichtkinder, die Mission (auch: Volksmission), die Gott uns anvertraut hat. Dann bereitet man mit Gott alles vor, was wir für das beginnende Schuljahr brauchen. Man häuft seine Vorräte an wie der Vater der Familie, der seine Ernte in den Speicher sammelt, damit er sie im entsprechenden Zeitpunkt jedermann austeilen kann. Und all das tut man im Geist inniger Vereinigung mit Gott.

Auch den vierten Tag verbringt man damit, sein Jahr mit Gott vorzubereiten. Der fünfte Tag aber wird der Erholung gewidmet mit Danksagung für die empfangenen Gnaden und einem kindlichen Vertrauen in die Hilfe, die Gott für uns bereithält. Das ist der große Tag der Segnungen Gottes über unsere Seele, die nun für die Zukunft rein und von großmütigen und heiligen Entschlüssen belebt ist.

Wählt diese Methode für euch, meine Freunde, und gebt sie auch weiter an jene, die ihr Exerzitien machen lasst.

Fügen wir noch hinzu, dass wir täglich etwas aus dem hl. Stifter sowie unseren hl. Ordensschriften lesen sollen. Das wird immer in der Exerzitienordnung nahegelegt. Ferner lesen wir einige Seiten des Evangeliums und der Apostelgeschichte. Seid ihr Prediger oder Missionar, dann lest vor allem in der Apostelgeschichte. Dort findet ihr Dinge, die eurer Seele in wunderbarer Weise bekommen, Kapitel des Seeleneifers, der Ermutigung und des Gottvertrauens. Welch herrliche Beispiele gibt doch der hl. Paulus in seiner Predigttätigkeit, und in seinen Leiden! Lest immer wieder diese Seiten, bis ihr sie auswendig wisst und sie in die Praxis überführt. Lest auch das Evangelium des hl. Johannes, seine Briefe, die des hl. Paulus und noch viele andere Seiten. Dann wird das Wort Gottes eurer Seele zur Grundnahrung werden. Alles wird in euch von Gott und seiner Gnade durchtränkt, nicht um außerordentliche Wirkungen hervorzurufen, aber gleichwohl nachhaltige und tiefgehende Wirkungen in euch wie den anderen hervorzubringen. Ihr habt dann gelernt, wie man in der Seelsorge vorgehen muss, seid eingeweiht in die beste Art, in eurem Stand und Amt Erfolg zu haben, wenn ich so sagen darf. Habt dann die Richtung der aussichtsreichsten Straße entdeckt. Das wird euch stützen, die Prüfungen allesamt zu bestehen. Ihr seid wohl vorbereitet, in jeder Lage genau zu reagieren, wie es sein muss. Notiert euch dann einige Gedanken, die euch aufsteigen, in euer kleines Notizbuch, oder schreibt die Seitenzahlen in euer Direktorium, dass ihr sie jederzeit bei euch habt. In der Versuchung wird euch das kleine Wort, das ihr jetzt wieder lest, zur Stärkung dienen.

Wir sind verpflichtet, die Exerzitien auf diese Weise zu machen. Nur so machen wir es sie gut. Wir, die wir den Glauben haben und überzeugt sind, dass es einen Himmel, eine Hölle und ein Fegefeuer gibt. Wir, deren Leben für gewöhnlich von Todsünden freibleibt, wir brauchen nicht so viele Betrachtungen und Überlegungen anzustellen. Haben wir das Unglück gehabt, in der Vergangenheit Gott schwer zu beleidigen, so erwecken wir in uns eine echte Zerknirschung und verharren in dieser Gesinnung. Und das holen wir mit der Gnade Gottes aus der Tiefe unseres eigenen Herzens. Um das zu erreichen, stellen wir keine tiefschürfenden Überlegungen an, da wir ja ganz kleine und einfache Menschen sind. Wir bemühen uns, das Unglück, Gott beleidigt zu haben, sowie die Notwendigkeit, ihn nicht mehr zu enttäuschen, tief zu fühlen. All das ist unsere ureigene Sache und wir finden es mit Gottes Gnade in uns selbst. Das steht nicht in den Büchern der Theologen und Kanzelredner. Werdet euch dann darüber klar, was ihr im vergangenen Jahr verloren und wie viel ihr gewonnen habt. Das sind die Exerzitien, die uns aufgegeben sind.

Auch jene Patres, die nicht hier anwesend sind, sollen ihre Exerzitien schon dieses Jahr auf Weise machen.

So wie der Obere verpflichtet ist, jedem Untergebenen die Möglichkeit zu erhalten, seine Gelübde zu beobachten, so ist er auch strikte gehalten, dafür zu sorgen, dass jeder Oblate seines Hauses Exerzitien macht. Er ist somit verantwortlich, dass jeder seiner Mitbrüder die private Einkehr in der angezeigten Weise macht. Er wird nicht zulassen, dass unruhige und unkluge Geister sich in andersartige Überlegungen und auf andere Wege verirren. Jeder Obere muss, das ist eine strenge Vorschrift unserer Satzungen, sich darum kümmern, dass jeder Ordensmann Exerzitien hält. Er möge die Mittel an die Hand geben, notfalls selbst die Lesungen angeben und die empfohlene Methode ihnen ins Gedächtnis zurückrufen.

Der Obere sollte sich auch darüber Klarheit verschaffen, ob der Ordensmann die Verpflichtungen der Exerzitien wirklich erfüllt, ob er beichtet und bei wem. Für jeden seines Ordensleute soll er die günstige und passende Zeit erübrigen. Er kann auch, wenn er es so für besser hält, zwei oder drei auf einmal in die geistliche Einkehr schicken. Hat er eine sehr kleine Kommunität, dann kann er alle auf einmal Einkehr halten lassen, wenn er das für gut findet. Doch sollte es immer eine wirkliche Einkehr sein.

Hält er einige Bemerkungen und Empfehlungen für nützlich, so kann er einen oder zwei Vorträge halten. Er darf aber keine gepredigten Exerzitien halten oder halten lassen. Denn jeder Prediger hat seine eigenen Ideen und lässt die teilnehmenden Ordensleute Exerzitien machen wie er es für gut findet… Wer soll bei uns Herr und Meister sein? Die hl. Regel, sie ist unsere Exerzitienmeisterin. Und diese sagt, der Obere sei nur da, um darüber zu wachen, dass die Satzungen gut beobachtet würden. Er darf infolge dessen keine Entscheidungen treffen, die die hl. Regel in ihrem Sinn verdrehen. Er muss sich an den Buchstaben halten, sie selbst beobachten und so auch die anderen lehren. Nicht nach seinem Belieben darf er sie auslegen. In den vorgesehenen Fällen darf er für kurze Zeit davon dispensieren. Aber er darf sie nicht (subjektiv) auslegen, sonst wäre er der Meister, während unser Herr doch allein Meister genannt werden will: „Quia magister unus est Christus“ (Anm.: „Weil einer nur euer Meister ist, [nämlich der] Christus.“)

Haben die Regel und die Satzungen gesprochen, dann muss das Gesagte aufs Wort ausgeführt werden. Niemand ist berechtigt, sie auf diese oder jene Weise auszulegen. Den Sinn des Wortlautes der Satzungen ist Sache des Generalkapitels allein. Und damit eine Abänderung durch es authentisch sei, bedarf es der Ermächtigung des Hl. Stuhles. Bis dahin heißt es sich an den halten: „Nil innovetur nisi quod traditum est.“ (Anm.: „Es möge nichts Neues eingeführt werden, was nicht überliefert wurde.“).

Darin erschöpft sich die Rolle des Oberen eines jeden Hauses. Sie ist genau umrissen, und der Obere ist strikte gehalten, sie zu erfüllen. Er steht dafür vor Gott gerade. Er hat es zu verantworten, wenn die Exerzitien anders gehalten würden, genauso wie er es zu verantworten hätte, wenn sie überhaupt nicht gemacht werden. Die Oberen sollen während der Einkehrtage viel beten, während der hl. Messe sich damit beschäftigen und zwar vor Gott.

Ich möchte nicht zu lange sprechen, meine teuren Freunde.
Aber ich möchte doch bei Gelegenheit der Exerzitien noch ein Wort hinzufügen über die Seelenführung.

Wir sollen beichthören und auch geistlich führen all die Seelen, die die göttliche Vorsehung uns schickt und die der Gehorsam uns anvertraut. Für diese Seelen, die uns um Beichte und Seelenführung angehen, brauchen wir Regeln, Verhaltensweisen, damit wir sie in der Praxis zur Vereinigung mit dem Willen Gottes bringen, und sie so die Fülle der Gnaden empfangen, die Gott ihnen bestimmt hat. Man muss sie lehren und unterstützen, den Willen Gottes sowie die Verfügungen der göttlichen Vorsehung über sie zu beobachten und sie zu lieben. Die wichtigste Empfehlung, die ich den Vorgesetzten und all jenen, die Exerzitien machen lassen, gebe, ist, dass sie für die Exerzitanten beten. Ebenso ist es für uns eine wesentliche Pflicht, für die Seelen zu beten, die wir beichthören und zu leiten haben. Wir müssen darüber hinaus allgemein für alle jene beten, die zu uns kommen… Müssen wir da für jeden im Einzelnen beten? Ja, wenn es möglich ist. Habt ihr aber einen aufreibenden Seelsorgedienst, wird es schwer fallen, diese oder jene Seele im Besonderen im Geist präsent zu haben. Was wir aber tun müssen, ist, niemals in den Beichtstuhl zu gehen, ohne für sie gebetet zu haben, die sich an uns wenden…

Das Apostolat des Beichthörens ist sehr fruchtbar. Es verpflichtet uns, in beständigem Gebetsgeist zu verharren. Meine Freunde, um ein guter Beichtvater zu werden, gibt es keinen anderen Weg. Würde ein Arbeiter außer seiner Arbeitszeit niemals an seine Arbeit denken, dann würde er sie nie liebgewinnen und damit nie ein guter Arbeiter werden. Steigt ein Lehrer ohne Vorbereitung auf die Kanzel, hält seinen Unterricht mehr schlecht als recht, gleichgültig ob seine Schüler ihm zuhören oder nicht: Der Unterricht ist für ihn ja gehalten, glaubt ihr denn, seine Schüler würden bei der Prüfung bestehen? Ganz gewiss nicht… Ihr macht euch ans Beichthören nun ebenso nachlässig und ohne Einstimmung und ohne Gebet für die Beichtkinder, glaubt ihr da, ihr würdet Erfolg haben? Ganz gewiss nicht.

Um die Seelen im Beichtstuhl für Gott zu gewinnen, ist eine Vorbereitung vonnöten, ist etwas Unerlässliches beizutragen. Das werdet ihr einsehen, sobald ihr selbst über die nötige Erfahrung verfügt. Was aber immer und vor allem anderen nottut, ist das Gebet für die Beichtkinder. Betet vor allem, solange ihr darin verweilt, während ihr Anklagen derer entgegennehmt, die ihr beichthört oder geistlich führt. Setzt euch ein für sie und vertretet ihre Sachen vor Gott mit aller Hingabe. Dann werden euch die nötigen Erleuchtungen zuteil und Gott wird auf eure Lippen die Worte legen, die ihr ihnen zu sagen habt.

Wie hörte denn der hl. Pfarrer von Ars Beichte? Er war gewiss ein Heiliger. Überseht aber nicht, wie innig er für seine Beichtkinder gebetet hat und welche Erleuchtungen er dadurch empfing für die Seelenführung! Ein guter Pfarrer erzählte mir, dass er ihn aufgesucht und bei ihm gebeichtet hatte. „Ich hörte kaum, was er mir sagte…verstand ein Wort von seinem Beichtzuspruch, erstickte aber fast vor Aufregung, mich zu Füßen eines Heiligen zu wissen.“ Plötzlich sagte nichts mehr, und dann hörte ich, diesmal ganz klar, die Worte: „Sie haben zu dem und dem Zeitpunkt bei der und der Gelegenheit eine Sünde begangen und haben sie jetzt nicht klar eingestanden.“ „Das stimmte, ich hatte diese Sünde seit langem vergessen…“ Wo schöpfte der Pfarrer von Ars dieses Wissen und diese Erleuchtung im Beichtstuhl? Sicher in seiner Heiligkeit, aber auch in den unablässigen Gebeten, die er für seine Beichtkinder verrichtete. So lasst uns auch nach dieser Methode viel für jene beten, die zu uns kommen! Denn das war auch die Methode des hl. Franz v. Sales, des hl. Bernard und aller Heiligen. Und die Methode der Heiligen ist gut und führt zu guten Resultaten. Mögen die Oblaten also nie beichthören, ohne viel für ihre Beichtkinder zu beten, vor, während und nach der Beichte. Eine so vollzogene Beichte bringt all jene Früchte hervor, die die Theologen aufzählen. Alles, was sie ansagen, findet Erfüllung in der Seele. Sie wird in Zukunft die Kraft besitzen, der Versuchung zu widerstehen, der Gelegenheit aus dem Weg zu gehen und alles zu tun, was ihr möglich ist, um Gott die Treue zu halten. Beachtet wohl, meine Freunde, dass ich euch damit gleichzeitig das Mittel an die Hand gebe, um selber heilig zu werden. Diese Methode bringt große Früchte hervor, zwingt euch aber auch selber, euch zu heiligen. Das eine steht in engem Zusammenhang mit dem anderen. Ich begegnete in diesen Tagen, es war gestern, ausgezeichneten und frommen Leuten aus Villeneuve-au-Chemin. Ich hatte P. Lambey gesagt, er möge mir zwei oder drei jener guten Töchter der früheren Pfarrei des Curé Cardot herbeibringen. Ich fragte sie aus, und sie erzählten mir, wie es der Herr Pfarrer machte, wie er zum Abendgebet sprach, wie er vor allem für seine Pfarrkinder betete und wie er sie beten ließ. Da stellte ich fest, dass Pfarrer Cardot in seiner Pfarrei etwas sehr Gutes und Solides und Wichtiges gewirkt hatte, indem er selbst eng mit dem lieben Gott zusammenarbeitete und unaufhörlich bei Gott für die Seelen seiner Pfarrkinder eintrat. Für jede Seele im Besonderen sorgte er sich und versuchte, von Gott jeder einzelnen Seele das nötige Licht zu erbitten für seine Absichten, damit jede wenigstens einen Teil der Gnaden erhalte, die Gott für sie reserviert hatte, sowie die Hilfsmittel, deren sie dringend bedurfte. Und ich sagte mir: Das Gute wurde erzielt, und vollzieht sich noch in dieser Pfarrei als Frucht so vieler Schweißtropfen, Mühen und Gebete. Ich wurde gerührt beim Gedanken an diesen heiligen Mann. Ich begriff, was die Heiligkeit eines Priesters in den Seelen, die er leitet, an Wirkungen hervorbringt. Ich verstand weiter, welch wirksames Heiligungsmittel für den Priester selbst das Gebet für die Seelen vorstellt!

Legt darum großes Gewicht, meine lieben Freunde, auf dies grundlegende Werk der priesterlichen Seelsorge: Die Seelenführung! Denn damit führt ihr die Seelen wirklich zu Gott. Ihr führt sie, indem ihr sie gleichsam bei der der Hand nehmt, auf einem sehr schwierigen Weg voran. Der Pfad ist rau und glatt, gewiss, aber an seinem Ende steht der Himmel. Wie viel falsche Schritte kann er tun, der arme Mensch! Lässt Du ihn im Stich, stürzt er unweigerlich in den Abgrund und ist rettungslos verloren. Stützt und unterstützest du ihn hingegen, wirkt er sein ewiges Heil. Beichte und Seelenführung, das darf man nicht als ein Allerweltsgeschäft betrachten, eine Funktion, eine langweilige und ermüdende Mehrbelastung, die wie alles andere doch zu nichts führt… Schaut die Gute Mutter an, seht nur, wieviel es ihr kostete, eine Seele von der Sünde wegzuziehen, zum christlichen Leben zurückzuführen. Bedenkt nur, was sie alles tat bei Gott für das Heil dieser Seelen! Sie machte sich sozusagen eins mit den Seelen, die sich ihr anvertraut hatten, häufte auf sie ihre Sorgen, ihre Gebete, ihre Abtötungen, ihre liebende Hingabe, und sie hatte stets Erfolg.

Tun wir dasselbe in den Volksmissionen und Exerzitienvorträgen, in unseren Seelsorgewerken, in der Beichte der Schüler wie der Weltleute, an den Vortagen der hohen Feste… Aber man hat so wenig Zeit in diesen Tagen. Man hat viermal so viel Arbeit als man erledigen kann: Was ist da zu machen? Nun, man formuliert seine allgemeinen Absichten, hält sein Herz eng vereint mit Gott, betet für das kleine wie das große Beichtkind, das vor uns kniet, und während der ganzen Beichte oder Sitzung erneuert man die Vereinigung seines Willens und Herzens mit dem Willen Gottes. Bei der Betrachtung und der hl. Messe des folgenden Morgens kommt man darauf zurück. Auch an den folgenden Tagen und jedes Mal, wenn man sich daran erinnert, erneuert man sein Gebet…

Meine Freunde, man soll von sich sprechen, ich dürfte das also nicht sagen. Aber es ist wahr, absolut wahr, und darum will ich es auch verraten: Ich habe nie für eins meiner Beichtkinder gebetet, ohne dass Gott ihnen ausnehmende Beweise seines Schutzes gegeben hätte… Ohne, dass er ihnen besondere Erleuchtungen zuteilwerden ließ. Macht es ebenso. Betet noch besser als ich, dann wird Gott euch noch besser erhören als mich… Soll das heißen, dass eure Beichtkinder alle Heilige werden? Leider nein. Aber alle, für die ihr beim Beichthören so gebetet habt, werden eine besondere Gnadenwirkung erfahren. Und alle Priester, die so handeln, werden von Gott noch größere Tröstungen erlangen als ich. Gott wird euch noch besser erhören, weil ich besser gebetet habt als ich…

Am Vorabend hoher Feste seid ihr mit Arbeit überhäuft und vor Ermüdung wie gebrochen… Opfert das auf für die Seelen, die zu euch kommen. Werft dann und wann einen Blick auf Gott, und die Seele eures Beichtkindes wird die Wirkung dieser Opfergabe, dieses Aufblicks zu Gott erfahren. Sie wird nicht von euch gehen, ohne zu spüren, dass Gott dem Beichtvater für sie Gnaden und Erleuchtungen gegeben hat. Diese Gnaden werden unfehlbar der Seele zuteil, die Gegenstand eurer Sorge und eures Gebetes gewesen ist.

Denkt an diese Seelen, ich wiederhole es, bei der Hl. Messe, in der Betrachtung und beim Beten des Breviers. Ihr wisst vielleicht nichts zu sagen und zu tun bei der Betrachtung. Ihr nehmt dann vielleicht die „Nachfolge Christi“ zur Hand, um einen Gedanken und eine Anmutung zu schöpfen… Die Nachfolge Christi ist zweifellos ein sehr gutes Buch. Aber nehmt lieber kein Buch, sondern nehmt ein sprechendes und lebendes Buch zur Hilfe: „Mein Gott, die und die Seele ist recht schwach und sehr versucht. Rette sie! Hilf ihr wieder auf die Beine…“ Oder: „Da ist dies Kind: Behüte es, segne es mit deinen Segnungen, dass es dich besser erkenne und dich auch bei den anderen bekannt mache (Anm. d. Üb.: „Druckfehler im französischen Text“).“ Wenn ihr das während der Betrachtung gemacht habt, meint ihr dann eure Zeit verloren zu haben? Ich glauben, Gott könnte euch dasselbe sagen wie dem hl. Thomas von Aquin: „Bene scripsisti de me, Toma. Quid vis ut faciam tibi?“ (Anm.: „Du hast über mich geschrieben, Thomas. Was willst Du, dass ich Dir tun soll?“)

Ihr habt damit das Geschäft Gottes trefflich besorgt, das Geschäft auch der Seelen, und damit gleichzeitig euer Eigenes. Mit den Erbärmlichkeiten der anderen macht ihr euer Glück, wie die Israeliten mit der Beute und dem Elend Ägyptens… Betet für die und die Seele in Gefahr oder im Begriff, ihren Glauben zu verlieren. Ihr Elend wird euer Elend vermindern, während Gott sie mit der Frucht eurer Arbeit bereichern wird.