Exerzitienvorträge 1891

      

1. Vortrag: Der Weg.

Wir haben die Übungen dieser Exerzitien auf eine geringe Zahl reduziert, um den Vorträgen, die ich euch zu halten habe, gewissermaßen mehr Feierlichkeit und größeres Gewicht zu verleihen: Mehr Feierlichkeit, weil ich mich in erster Linie an die Oberen der verschiedenen Häuser wende. Größeres Gewicht, weil ich wünsche, dass diese Vorträge die Grundlage abgeben für die Unterweisungen, die ihr den Patres und Fratres (Anm.: Brüder) erteilen werdet.

Jeder religiöse Orden hat zwangsläufig einen speziellen Schatz, aus dem er lebt und den er ausbeutet: Das ist der Anteil des Feldes, der dem Familienvater anvertraut wurde. Bei den Weltleuten, die im Handel, in der Industrie und im Bankwesen tätig sind, gibt es sehr verschiedene Beschäftigungen: Die einen kümmern sich um dies, die anderen um etwas anderes. Doch alle bewegen sich auf dasselbe Ziel zu: Nämlich Geld zu verdienen!

So hat auch jede Gemeinschaft ein Ziel: Seelen für Gott zu gewinnen, das Reich unseres Herrn auszubreiten, die Hl. Kirche zu unterstützen, zu trösten, auszubreiten. Überall, wo evangelischen Arbeiter tätig sind, wechselt auch ihre Arbeitsmethode, andernfalls würde ja ein und dieselbe Kongregation genügen. Darum hat jede Genossenschaft ihr besonderes „Talentum“, das ihr anvertraut wurde, einen besonderen Schatz, den sie ausbeuten muss.

Was ich euch sagen werde, meine Freunde, erscheint sehr notwendig. Unser besonderes „Talentum“, unser spezieller Schatz, ist der Geist der Guten Mutter Maria Salesia, der nichts anderes ist, wie wir sehen werden, als der Geist des hl. Franz v. Sales. Wenn wir existieren, dann nur als Folge dessen, was Gott dieser heiligen Ordensfrau geoffenbart hat. Dieser Geist ist unser Erbgut, unser Eigentum. Es ist von äußerster Nützlichkeit, dass wir genau wissen, worin diese Eigengabe besteht und wo ihre Grenzen liegen. Ich sage das, weil die Gute Mutter an sehr vielen Orten bekannt zu werden beginnt. Eine gewisse Anzahl von Kirchenmännern haben etwas von ihren so erhaben und manchmal so herrlichen Gedanken verstanden, sie haben ihre Lehre verkostet. Manche empfinden eine große Wonne an ihren Gedanken und Lehren. Mit einem Wort, die Gute Mutter beginnt bekannt zu werden und als Autorität zu gelten. In Rom sagte mir Msgr. Zitelli: „Sie können sich nicht vorstellen, welch großen Einfluss die Gute Mutter Maria Salesia auszuüben berufen ist…“

Darum ist es notwendig, den wirklichen Sinn der Worte der Guten Mutter genau zu bestimmen und ihren Geist genau festzulegen. Das möchte ich heute tun. Das Vertrauen zur Guten Mutter wächst, man spricht von ihrer Lehre. Es tut also not, die Ausdrücke und deren Grenzen zu fixieren, damit gewisse Grenzpunkte nicht überschritten werden, über die hinauszugehen die Klugheit Schaden litte und die Theologie vielleicht Gefahr liefe.

Stellen wir sofort fest: Die Gute Mutter hat nie für die Öffentlichkeit geschrieben, keine Bücher veröffentlicht, hat auch nie eine eigentliche Lehre verkündet. Ihre einzigen Schriften sind ihre Antwortbriefe an einige Personen, die sie um Rat angingen, dazu die sogenannten Briefe an Pater Regnouf.

In ihren Briefen an Personen, die Fragen an sie gestellt hatten, sagte sie ganz einfach ihre Gedanken. Sie antwortete immer klar und entsprechend der Lehre des hl. Franz v. Sales. Ihre sämtlichen Antworten hatten absolut keinen persönlichen Charakter. Sie schrieb nie auch nur das Geringste außerhalb der allgemein angenommenen Ideen, die jedermann kennt. Warum hat die Gute Mutter das getan? Ich weiß es nicht, bin aber dafür dankbar. Es wäre in der Tat für die Kanoniker des Seligsprechungsprozesses eine zu große Mühe gewesen, die Verzögerungen und Schwierigkeiten hervorgerufen hätte, wenn sie anders, in einem originellen und erhabenen Stil geschrieben hätte.

Dann gibt es unter ihren Schriften das, was man die Briefe an P. Regnouf nennt. Das sind nicht eigentliche Briefe, sondern Rechenschaftsberichte an ihren Beichtvater P. Regnouf und während einiger Zeit auch an mich.

In diesen Intimberichten legt sie Gewissensrechenschaft ab. Sie will da keine Lehre zum Ausdruck bringen und noch weniger Unterricht erteilen. Das ist es, was ich gesehen habe, was ich gefühlt und geglaubt habe… Mit dieser Rechenschaft gehorchte sie den Befehlen ihres Vorgesetzten, des Bischofs von Freiburg und Lausanne. Er hatte ihr aufgetragen, zur Zeit ihres Noviziates über alles, was in ihr vorging, Rechenschaft abzulegen. Und das tat sie pünktlich bis zu ihrem Tod. War der Beichtvater abwesend, tat sie es schriftlich, und der Tatsache, dass P. Regnouf lange Zeit krank war, verdanken wir diese Briefe. Auf diese Weise konnten viele und schöne Dinge bewahrt werden.

Ich sage noch einmal, das ist alles, was die Gute Mutter geschrieben hat.

Die Schwestern der Heimsuchung von Paris und Troyes, ganz erfüllt („einbalsamiert“) von den Worten der Guten Mutter während ihres Aufenthaltes unter ihnen, sammelten mit großer Ehrfurcht und schrieben sorgfältig alles nieder, was sie gesagt hatte. Aber ihr wisst, wie Ordensfrauen sammeln und schreiben: „Die Gute Mutter hat dies gesagt und sie hat das gesagt…“ Man glaubte in der Tat, ihr Wort und ihren Gedanken genau festgehalten zu haben. Vielleicht stimmte es einmal, ein andermal nicht… Es ist sicher, dass die guten Schwestern, die weder Theologie noch Theologie studiert haben, kaum sicher erfassen noch mit absoluter Strenge wiedergeben können, was Spekulationen und Überlegungen betrifft. Darum sind gewisse Seiten, die die Schwestern verbreitet und veröffentlicht haben, sicher sehr beachtenswert. Man kann sich aber nicht darauf berufen, um ihre Lehre daraus zu studieren. Die Gute Mutter hat nie gewusst, was man ihr da in den Mund legte, sondern wäre sehr ärgerlich geworden, wenn sie es erfahren hätte. Hatte sie einer Schwester etwas gesagt, und erbat man von ihr dann in der Gemeinschaft eine Erklärung dazu, so verweigerte sie eine Antwort. Dann pflegte sie zu sagen; „Ihr werdet das ein andermal verstehen.“

Ich besitze nicht das Heft, das die Schwestern von Paris niedergeschrieben haben. Doch hat man mir ganz besonders zwei Punkte genannt, die die Gute Mutter gesagt haben soll: 1. Jene Schwestern, die ihrer Oberin keine Rechenschaft ablegen wollen, kommen in die Hölle! 2. An einer anderen Stelle soll sie etwas gegen die Seelenführung durch den Beichtvater gesagt haben. Diese zwei Punkte können in Anbetracht des Dekretes, das soeben erschienen ist, ein bisschen peinlich erscheinen. Aber zum ersten datieren die zwei Stellen lange vor Erscheinen des Dekretes, also vor 1890. Und dann habe ich mich erkundigt: Der Kontext zeigt sehr klar, dass der genaue Text der Worte der Guten Mutter nicht präzise entspricht, was man ihr da in den Mund legt. Sie sagt ganz und gar nicht, dass die Heimsuchungsschwestern, die der Oberin keine Rechenschaft ablegt, in die Hölle kommt, sondern: Mangelnde Offenheit des Herzens ist bei einer Ordensfrau der Schlüssel zur Hölle. Wenn es nur der Schlüssel ist, so ist es eben nicht die Hölle selber. Wer den Schlüssel zu einem Gefängnis in Händen hat, sitzt deswegen noch nicht im Gefängnis. Ich bin überzeugt, dass die Gute Mutter sich da an eine bestimmte Schwester wandte, deren Fehler und Neigungen sie gut kannte, so dass sie ihr sagen konnte: Wenn Sie nicht Rechenschaft ablegen, sondern verschlossen bleiben wollen, können Sie eines Tages in die Hölle kommen. Das ist sicher nicht dasselbe als der ganzen Kommunität ganz allgemein zu sagen: Jeder, der keine Rechenschaft ablegt, kommt in die Hölle. Das hat die Gute Mutter nämlich weder gesagt noch gedacht.

Und was die Seelenführung durch den Beichtvater betrifft, so hat die Gute Mutter immer gesagt, für den Gewissensbereich sei der Beichtvater zuständig, für das Ordensleben die Oberin.

Lasst uns jetzt zu dem zurückkehren, was man recht uneigentlich als die Briefe der Guten Mutter bezeichnet. Ich bedaure diese Benennung. Es handelt sich dabei um ihre Rechenschaftsberichte an den kranken und abwesenden Beichtvater, nicht also um ein Buch mit irgendwelchen Lehren. Wer fände es erstaunlich, wenn die Gute Mutter oder eine fromme Seele, die ihrem Beichtvater in ihr Inneres gewährt, die Dinge nicht immer mit der letzten Genauigkeit und in ganz exakten Ausdrücken sagt? Welche Folgerungen müssen wir daraus ziehen? Niemand ist berechtigt, sich auf einen Rechenschaftsbericht zu stützen, um daraus eine vollständige Lehrformel abzuleiten. Die Lehre der Guten Mutter war die des hl. Franz v. Sales. Ich betone das, meine Freunde, so stark, weil bereits eine Anzahl ordensfremder Priester die Lehre der Guten Mutter zu verbreiten beginnt, und das übrigens mit gutem Erfolg und zur Erbauung der Gläubigen. Viele Menschen sprechen von ihr, viele Seelen wollen hier ihre Nahrung holen. Darum ist es notwendig, ihre Lehre genau zu bestimmen, und noch einmal, ihre Lehre dieselbe wie des hl. Stifters.

Die Gute Mutter war mit einer ganz bemerkenswerten Intelligenz begabt. Ich konnte das vierzig Jahre lang feststellen. Ich habe sie während dieses Zeitraumes fast jeden Tag gesehen. Ich hörte sie sprechen und sah sie handeln. Als Seelenfreund hatte sie unter anderem den Herrn Beaussier, der ein heiliger Priester war. Dieser schätzte die Briefe der Guten Mutter über alles, schrieb sie auf den Knien ab und nährte sein Herz und seine Seele damit. Wenn er mitunter gewisse Folgerungen daraus ziehen wollte, die nicht richtig waren und nicht dem Gedankengut der Guten Mutter entsprachen, wenn er eine kleine Eigenkonstruktion neben dem Bau errichten wollte, ärgerte sich die Gute Mutter. So sagte sie mir im Jahre 1871, als Herr Beaussier sie in Troyes besuchte: Er geht mir auf die Nerven…! Ich sage euch das, meine Freunde, damit ihr erfasst, wie diese Frage anzufassen ist. Die Gute Mutter empfing in ihren Betrachtungen Vieles und ich glaube, dass dies vom lieben Gott kam. Die ersten Male sprach ich mit dem Herrn Chevalier (seinem Moralprofessor) darüber: „Die Gute Mutter spricht immer im Namen Gottes. Muss man ihr Glauben schenken?“ – „Das können Sie machen, was Sie wollen“, war seine Antwort… „Es besteht kein Zweifel, dass sie eine Ordensfrau ist und dass sie manchmal Kenntnisse hat, die von Gott kommen scheinen…Herr Sebille, der Dogmatikprofessor, will sie nicht besuchen, weil er überzeugt ist, dass sie alle seine Sünden kennt. Darum wagt er nicht mehr, vor ihr zu erscheinen…“

Meine Freunde, ein Wort, dass die Gute Mutter mir hundertmal wiederholt hat, lautet: „Was Gott mir gibt, ist die Wirkung der göttlichen Liebe. Er verfolgt mit diesem Geschenk eine Absicht. Infolgedessen werdet ihr die Wirkung dieser Wirkung (l’effet de l’effet) erleben. Ihr werdet das Licht bekommen als Folge der Gnade, die mir mitgeteilt wird. Das Geschenk, das der Erlöser mir gemacht hat, ist mir persönlich übergeben worden. Daraus, dass ich die Gnaden Gottes empfange, folgt nicht, dass ein anderer sie wie ich empfängt. Gott sendet mir Erleuchtungen und Gnaden. Sie müssen aber eine Wirkung hervorbringen. Und zwar seid ihr es, die sie fruchtbar machen sollt. Ihr nehmt zweifellos in gewissem Ausmaß daran teil, doch die Sache selbst wird nicht euren Händen überliefert. Die erste Gabe ist nicht mitteilbar.“ Oft und oft kehrte ein Wort auf den Lippen der Guten Mutter wieder, in ihrem ebenso wie in ihren Briefen: Der Weg. Was ist das, der Weg? Was heißt, auf dem Weg sein?

Einige fromme Damen finden bei der Lektüre der Schriften der Guten Mutter und ihrer Lebensbeschreibung, dass der „Weg“ sehr schön sei… Sie stellten sich vor, er bestehe in einer Folge von außerordentlichen Gunsterweisen Gottes, die der Seele einen seltenen Grad von Vollkommenheit mitteilen, eine unvergleichliche Heiligkeit. Nach ihrer Hypothese wäre der Weg eine Art außerordentlicher Gabe Gottes, an einigen Seelen verliehen, die sie in einen Zustand besonderer Heiligkeit und Würde versetzen, weit größer als jene, die der Allgemeinheit der Gläubigen verliehen wird.

Ich denke, meine Freunde, dass die Gute Mutter die Dinge nie in dieser Weise verstanden hat. Ich will euch den Grund dafür nennen: Wenn der „Weg“ darin bestünde, wie soll man unterscheiden, ob die und die Seele sich auf dem „Weg“ befindet? Welches sind die Erkennungszeichen? Denn schließlich muss es Erkennungszeichen geben. Nehmt einen Menschen an mit einem leicht erregbaren Geist: Er glaubt sich auf diesem Weg und sagt zu euch: „Ich bin in dem und dem Zustand.“ Hört mit Respekt seine Mitteilungen an, sagt ihm, er möge beten. Betet auch selbst, überlegt und urteilt nach theologischen und vor allem praktischen Grundsätzen. Das gelte euch überhaupt als Hauptgrundsatz: „Ex fructibus eorum cognoscetis eos.“ (Anm.: „Aus ihren Früchten möget ihr sie erkennen!“) Das ist hohe Theologie. Befindet sich die Seele, die euch solch hohe Mitteilungen gemacht hat, wirklich in einem Zustand von Heiligkeit und Treue, die den Gnaden entspricht, die sie zu empfangen glaubt?  Prüft ihren äußeren Lebenswandel zu allererst. Das Äußere der Schwestern vor allem verrät euch ihre innere Einstellung. Sind sie untergeben, demütig, gehorsam ihrer Regel und ihrer Oberin, üben sie eine vollkommene Liebe und echte Abtötung? Fehlt auch nur eine dieser Bedingungen, dann seid auf eurer Hut. Es mag Wahres in ihren Mitteilungen stecken, aber alles ist sicher nicht wahr.

Berichtet man euch also von außerordentlichen Zuständen, erzählt man euch z.B., man erlebe in seiner Seele Dinge, wie sie sich im Leben der Guten Mutter finden, so wägt die Geschichte etwas ab. Wen habt ihr da vor euch? Eine Person, die zu jeder Zeit Gott treu geblieben ist? … Wenn ja, dann gut. War es aber anders, dann bin ich immer etwas voreingenommen dagegen… Ich weiß sehr wohl, dass Gott einem hl. Paulus, einem hl. Augustinus und einer hl. Magdalena große Gnaden mitgeteilt hat… Er kann nach schweren Sünden außergewöhnliche Gnaden zuteilen. In der Praxis ist das sehr selten. Warum spricht man denn so viel vom hl. Paulus, vom Augustinus und Magdalena? Gerade weil es eine Ungewöhnlichkeit und Seltenheit darstellt, dass Sünder auf einen so hohen Podest gestellt wurden, weil Gott für gewöhnlich zu Interpreten und Ausnahmevollstreckern seiner Absichten besudelt waren. Wenn also einer kommt und mir sagt: „Mir geht es ähnlich wie der Guten Mutter…“ , so prüfe ich bei der Beichte erst, ob ihr Leben dem der Guten Mutter gleicht, ob es so unbefleckt verlief wie das Ihre, so treu und großmütig. Da heißt es umsichtig vorgehen. Wegen gewisser Anzeichen soll man nicht zu schnell erschließen, eine Seele sei zu außerordentlichen Wegen berufen. Man muss Misstrauen hegen gegen den Gebrauch des Wortes „Weg“ in diesem Sinn. Das würde da auf einem ganz unbekannten Meer dahinfahren. Welches ist also die wahre Definition des Ausdrucks „Weg“?

Der Weg ist ganz einfach die Vereinigung unseres Willens mit dem Willen Gottes, die Einheit unseres Herzens mit dem Seinen. Das Eins-Sein unseres Herzens unseres ganzen Selbst mit unserem Herrn, durch Handeln, in unseren Entschlüssen, Gefühlen und Affekten, durch unser Herz. All jene, die daran mit ihrem ganzen Herzen arbeiten wollen, sind auf dem Weg, von dem die Gute Mutter Maria Salesia spricht. Wer aber nicht in diesem Sinn vorangeht, ich weiß nicht, woher sie kommen… Der Gehorsam ist vor allem für die Ordensleute die wesentliche Bedingung für den Weg, da der Gehorsam der Ausdruck des Willens Gottes ist… „Gott hat mir aber dies oder jenes Licht, dies oder jene Gunst geschenkt.“ Gott ist natürlich Meister und Herr. Empfangt seine Geschenke in aller Demut und Erkenntlichkeit. Wenn ihr als Ordensleute daraus schließt, ihr könntet außerhalb des Gehorsams tun, was ihr wollt, versetzt ihr euch außerhalb des Gesetz Gottes. Wie könnt ihr da auf dem „Weg“ sein? … Ihr seid Untergebene und werft euch zu Vorgesetzten auf? … Quia non sum sicut ceteri hominum (Anm.: Weil ich nicht bin wie die übrigen Menschen)… Ganz wie der Pharisäer des Evangeliums. Da steht ihr neben dem Abgrund und streift die Irrlehre… Glaubt sich der Protestant nicht gerechtfertigt aufgrund des Glaubens allein? Bedeutet Jansenismus nicht auch Rechtfertigung ohne Rücksicht auf Werke?

Darum ist die rechte Definition des „Weges“ die Vereinigung mit Gott, die Vereinigung des Willens wie des Herzens. Willige Annahme dessen, was Gott schickt und zulässt. Forscht nur im Leben der Guten Mutter, ob ihr anderes findet. „Ego sum via“ (Anm.: „Ich bin der Weg“). Die Persönlichkeit unseres Herrn, mit dem man sich innigst verbunden halten will: Das ist der ganze Weg. Da erfüllen wir seinen Willen und lieben, was er liebt. Er ist also nicht ein besonderes Vorrecht außergewöhnlicher Art, das durch reinen Zufall auf diesen oder jenen fällt, um ihn in der Gnade zu bestärken.

Ich wünsche das als Grundlage der Lehre der Oblaten: lieben, was Gott liebt, darin besteht der Weg! Mögen andere anders darüber denken, sie sind frei zu denken. Mögen sie glauben, was ihnen gefällt, vorausgesetzt, es ist exakt, und bringt keine Nachteile ein. Doch mögen sie auf der Hut sein. Für uns gilt das Gesagte in Bezug auf den Weg, es ist und bleibt wohl begründet.

Der so verstandene und praktizierte Weg ist mit Sicherheit eine höchst tröstliche Lehre, und die Früchte daraus können staunenswert sein. Die Gaben Gottes sind da mitunter mit Händen zu greifen. Unsere Missionare wiederholen das unaufhörlich. Pater de la Charie hat soeben in Troyes für unsere Seelsorgewerke die Exerzitien gepredigt. Vierhundert junge Arbeiterinnen haben mitgemacht und andächtig die hl. Kommunion empfangen. Und dabei haben die meisten jungen Mädchen daheim nicht das Vorbild von Glauben und Tugend… Ihr „Vorbild“ ist das gewöhnliche Milieu der Arbeiter in der Industrie und im Handel. Wie also erklären, dass vierhundert junge Mädchen für eine ganze Woche des Abends zusammenkommen, müde von einem harten Tagewerk, aufrechten Herzens und vom Wunsch beseelt, Gott mehr zu lieben und ihm besser zu dienen? Die Kommunion zum Abschluss war ein Schauspiel, das man sich nicht beglückender vorstellen kann. Da war Gott spürbar zugegen. Der Pfarrer von St. Jean hat mir das zwanzig Mal während der Exerzitien gesagt.

Unsere Missionspatres haben großes Vertrauen in den so verstandenen Weg. Sie sagen alle das Gleiche in ihren Briefen und den Unterhaltungen mit uns, wenn sie heimkommen: „Ich habe durch und durch verstanden, was die Gute Mutter mit dem ‚Weg‘ meint. Ich glaube, ich hab es geschafft und gehe ihn, diesen Weg…“ Wie man sich doch gestützt und gehalten fühlt in dieser Vereinigung aller Handlungen und Augenblicke mit dem lieben Gott! Welcher Friede und welcher Reichtum in der Seele!...

Um auf das zurückzukommen, was ich euch am Anfang gesagt habe: Ich wünsche, dass ihr alle ebenso gut den Weg der Guten Mutter erfasst. Das ist der Schatz, den sie uns hinterlassen hat, unsere Lehre, unser Eigentum, unser Leben. Gleichgültig, was man draußen über den „Weg“ sagen und schreiben mag, haltet euch immer innerhalb der Grenzen der Erklärung, die ich euch da gegeben habe. Das ist das Erbe, das unseren Händen übergeben wurde. Dieses Darlehen muss an Wert bei uns und bei den anderen wachsen. Durchdringen wir uns darum in diesen Exerzitientagen tief mit diesen göttlichen Lehren. Diese gesegneten Tage sollten für jeden von uns eine Vorbereitung auf das Leben und den Zustand sein, den wir aufgezeichnet haben. Eine Zufahrtsstraße, die uns sicher auf den Weg geleitet und tapfer darauf ausharren lässt. Lassen wir diese Wahrheit tief in uns ein, damit das Verständnis dafür, bei uns selbst bei den Seelen, die Gott uns schicken wird, wächst. Also sei es!