Exerzitienvorträge 1889

      

8. Vortrag: Die Nächstenliebe.

Fahren wir fort, gute Exerzitien zu machen wie bisher: Mit Stillschweigen und Sammlung und innerem Gebet. Meiden wir jede Zerstreuung. Ist eine innere Einkehr gut verlaufen und am Schluss artet sie aus in Zerstreuung, so ist alles verdorben, was man bisher getan. Die Früchte halten nicht mehr am Baum, sie fallen ab, ohne reif zu werden, sie sind unnütz. Haltet euren Willen und euren Mut hoch bis zum Ende. Seid eifrig und großmütig am letzten Tag wie am ersten.

Heute Abend möchte ich über unser 4. Gelübde sprechen. Für uns Oblaten ist dieses Gelübde wesentlicher als alle anderen. Es ist das Gelübde der Nächstenliebe. Zunächst, verstehen wir überhaupt den Sinn und Inhalt dieses Gelübdes? Gewöhnlich meint man, Nächstenliebe, mit allen gut auskommen, niemanden schlechtmachen, niemand verleumden, den anderen nicht zu viel Kummer bereiten. Bei dieser Auffassung glauben viele, die Liebe zu haben, die sie leider nicht haben. Es gibt Menschen, die sich nicht verpflichtet fühlen, auch gegen Vorgesetzte Liebe zu üben. Letztere zählen bei ihnen nicht. Es gibt nicht viele, die bei ihrer Gewissenserforschung einsehen, dass sie es ihren Vorgesetzten gegenüber an Liebe fehlen ließen. Diese Idee kommt ihnen gar nicht in den Sinn. Nun ist dies aber die erste Pflicht der Liebe. Warum? Weil man gegen jedermann liebevoll sein soll, vor allem aber gegen Vorgesetzte. Sie haben mehr Anspruch auf unsere Liebe. Das ist kein Akt hoher Würde, jene erst prüfend anzusehen, denen man Liebe erweist. Die Liebe ist eigentlich kein Almosen. Almosen ist nur ein kleiner Teil der Nächstenliebe. Die erste Pflicht der Nächstenliebe bezieht sich auf die Oberen.

Diese haben ein Recht auf eure Liebe, zunächst, weil sie unsere Nächsten sind. Sodann, weil sie mehr Ansprüche auf euer Mitleid und eure Zuneigung haben als andere. Viele stellen sich vor, der Oberenposten erhebe im Ordensstand jemanden mehr über die anderen. Das ist falsch. Vorgesetzt sein heißt Knechtschaft. Der Papst ist nur ein Knecht der Knechte Gottes. Das ist wahr in der ganzen Kraft dieses Ausdrucks. Es gibt keinen Ordensmann, der so untergeben ist wie der Papst.

Liebe gebührt Vorgesetzten, weil sie ein Amt innehaben, das auszuüben nicht immer angenehm ist. Man muss Mitleid mit ihnen haben. Man bildet sich immer ein, Oberer sein sei eine angenehme Sache. Die Last ist schwer. Man muss ja nicht nur selber beobachten, sondern auch die anderen dazu bringen, der Regel zu gehorchen. Was da in Wirklichkeit vorausgesetzt ist, ist nicht der einzelne Obere, sondern Ordensregel. Die Autorität des Oberen erstreckt sich nicht über die Satzungen hinaus. Wir (Obere) sind verpflichtet, ihr zu gehorchen so wie die anderen, und mehr als sie. Viele glauben, nicht gegen die Liebe zu fehlen, wenn sie das Oberenamt hart und mühselig für die machen, die es ausüben. Ich spreche hier nicht für mich. Niemand macht mir mein Amt schwer. In dieser Hinsicht von allen anderen, von den Direktoren der Kollegien, den Hausoberen, von dem, der irgendeine Oberenfunktion, irgendein Amt auszuüben hat. Haltet ihr denn die Mühen, die er hat, für nichts? Glaubt ihr ihn schon hinreichend dadurch belohnt, dass er eben geehrt wird? Das ist Schall und Rauch, die Ehre. Und im Übrigen ist es keine Ehre, der Erste zu sein. Unser Herr selbst hat das gesagt: „Der Erste unter euch wird der Letzte sein.“

Nehmen wir an, da ist einer beauftragt, die Ordnung und Observanz aufrechtzuerhalten. Ihr lasst es ihm gegenüber an Liebe fehlen. Ihr zeigt seine Fehler auf. Euer Gewissen würde euch sicher Vorwürfe machen, wenn ihr so einem Mitbruder gegenüber verfahren würdet, oder gegen einen Untergebenen… Lasst uns darüber nachdenken und uns selber ernst ins Gewissen reden für jeden Verstoß an Liebe gegen einen Oberen. Solch ein Verhalten ist dermaßen dem Geist des hl. Franz v. Sales entgegengesetzt, dass dieser wirklich gesagt hat, Gott sehe seine Ordensleute im Herzen ihres Vorgesetzten. Jede andere Tür als diese ist ihnen versperrt. Das ist die Eingangspforte zum himmlischen Festsaal. Anderswo wird man sie nicht kennen. „Ich kenne euch nicht.“ Ihr seid nun lieblos gegen den Oberen, der ich Mühe gibt, euch zu führen, euch zu tadeln. Und das ist kein Vergnügen, die anderen zu tadeln. Es ist viel härter einen Tadel auszusprechen als ihn zu empfangen. Seht nur, was die Hl. Schrift von vorne bis hinten sagt. Der hl. Paulus empfiehlt in den Weisungen über das christliche Leben, denen, die die Befehlsgewalt über andere ausüben, ihr Amt zu umgeben, die Vorgesetzten zu unterstützen. Die Theologie ihrerseits lehrt, dass mangelnde Liebe einem Vorgesetzten gegenüber schwerer wiege als gegen seinesgleichen. Und das ist einsichtig.

Er bewirkt den Stillstand der Gnade. Das Vertrauen zum Vorgesetzten ist im Geist unseres hl. Stifters der Baum des Lebens und des Todes. Wenn du am Oberen rührst, rührst du am Augapfel unseres Herrn. Sei also auf der Hut. Wenn du es an Liebe fehlen lässt, verletzt du nicht nur die Liebe, sondern auch die Tugenden der Religion und der Gerechtigkeit. Du verstößt somit gegen drei Tugenden auf einmal. Und um dir das alles zu sagen, was ich denke: Ich bin überzeugt, dass es die größte eines Oblaten ist in Hinsicht auf seine Berufung. Es ist der größte klösterliche Verstoß, den Gott auch entsprechend strafen wird. Er straft mit dem Abbruch der Verbindung mit dem Vorgesetzten, jener schönen Beziehungen, die das Angenehme des Ordenslebens ausmachen, die dieses Leben so glücklich, so wohltuend und fruchtbar machen. Gebt darum gut darauf Acht. Es ist und bleibt die größte Sünde, die ein Oblate begehen kann. Beichtet es, wenn ihr schuldig, geworden seid, und bessert euch.

Unser Geist ist der des hl. Franz v. Sales, der der Heimsuchung. Die hl. Chantal drängte den Heiligen, Priester zu gründen, die von diesem Geist beseelt seien. Die Antwort des hl. Stifters lautete: Priester, das ist schwierig. Ich habe schon daran gedacht. Doch bis jetzt konnte ich erst anderthalb heranbilden. Warum? Weil die Priester dieses Landes zu sehr zum Widerspruch geneigt sind und nicht genug Liebe haben. Ihr kennt den Rest der Geschichte: Wie nach dem Tod des Heiligen Frau von Chantal zur Gründung von „Oblaten“ beitrug, die eine Zeitlang bestanden. Ihr seid also Oblaten, um euch nach der hl. Regel auszurichten, nach dem Modell, das Franz v. Sales gezeichnet hat. Er hatte nur Zeit, seine Heimsuchung zu gründen.

In der Heimsuchung werden die Oberin und die Inhaberin jedes Amtes in Ehren gehalten und es wird ihnen gehorcht. Jede Schwester, die der Oberin und einer Amtsvorsteherin nicht Untertan ist, gilt als schlechte Ordensfrau, wie eine Pest. In anderen Orden kann eine Schwester anderer Meinung sein als die Oberin und sich ein kleines Wort gegen sie herausnehmen. Das ist sicher nicht bewundernswert, aber immerhin sie bekommt dennoch ihren Teil von den Gnaden der klösterlichen Gemeinschaft mit. In der Heimsuchung dagegen ist das unmöglich. Liebe, Vertrauen, Gehorsam gegenüber der Oberin sind wesentliche Bedingungen… Aber da sind ja allerhand Pflichten zu erfüllen? Jawohl! Wärst Du Kartäuser, dann verbrächtest Du die Winternacht in einer großen Kirche, die allen Winden offensteht. Du würdest drei Stunden lang das Offizium singen. Du frörest an Händen und Füßen. Anschließend gingst du zurück in deine Zelle, um auf einer Matte zu schlafen. Das sind die Abtötungen des Kartäusers. Ihr aber, nehmt wenigstens die Abtötungen des hl. Franz v. Sales auf euch! Erniedrigt das etwa den Charakter? Beweist es nicht im Gegenteil, dass ihr Fähigkeiten, Willenskraft, seelischen Edelmut habt? Ich stehe hier. Ich habe gelobt, die Liebe zu üben, und ich werde es halten. Das beweist doch wahrlich, dass man Charakter und Männlichkeit besitzt. Unsere Abtötung besteht also in der Nächstenliebe zu allen, vorzugsweise zu den Oberen. Ich weiß recht wohl, dass das schwerfällt. Wenn man keine Verantwortung und kein Amt hat, verletzen so manche Dinge, so manche Entscheidungen der Oberen das eigene Urteil, die Vorstellungen, die man sich über dies und das gemacht hat. Ich behaupte nicht das Gegenteil. Ich behaupte auch nicht, dass ihr mit euren Ideen im Unrecht seid. Ich sage nur, ihr dürft es nicht an Liebe zum Oberen fehlen lassen. Ihr sollt nicht zögern, euer Urteil zu unterwerfen, und das auszuführen, was man euch aufträgt. Das Urteil unterwerfen, was heißt das? Müsst ihr dazu eure Art zu sehen, und zu urteilen ändern, in eurem Gewissensbereich ganz und gar einer Meinung sein mit eurem Vorgesetzten? Nein, das verlangt niemand. Euer Oberer ist nicht unfehlbar und kann sich täuschen. Was aber wohl zu tun ist: Eure Art zu sehen und zu urteilen hintanstellen und den gegebenen Gehorsam ganz und willigen Herzens tun.

Wir sind hier unter uns, können somit offen reden: Gerade das geht uns enorm ab. Noch einmal: Das gilt nicht mir gegenüber, aber jeder prüfe sich, ob es nicht in den Einzelheiten seines Lebens zutrifft. Wir haben diese Liebe nicht zu den Oberen, wir urteilen und kritisieren in diesem Amt, in jener Funktion, wir sind „Republikaner“. Nun ist es aber, meine Freunde, dumm und stupide, Republikaner zu sein, wenn man Ordensmann ist. Das ist eine verfassungsmäßige Republik, wo jeder angreift, urteilt und kritisiert. Warum nicht klar und entschlossen vorgehen? Hier liegt der gerade Weg vor mir, hier die Pflicht, da gilt der einfache und schweigende Gehorsam: darum gehorche ich. Liebe also zu den Oberen. Wisst ihr, was das wert ist? Der liebe Gott sieht den Akt, den ihr da vollzieht. Dieser Akt ist für euch oft heroisch. Glaubt ihr, das würde von Gott vergessen? Unser Herr hat sein Blut für uns vergossen, ihr gebt ihm eurerseits Tropfen eures Blutes. Glaubt ihr, er verachtet dies? Seid also voller Liebe! Man soll doch nicht von uns sagen können, im Ordensstand herrsche weniger Liebe als in der Welt. In der Welt draußen, in den Familien, die die christlichen Sitten bewahrt haben, in den alten Familien also, spricht man von den Herren (auch Familienvätern) nicht wie von Freunden (Feinden?). Beichtet also gewissenhaft die kleinsten Verfehlungen gegen die Liebe zu den Oberen.

Nun die Liebe zu unseresgleichen (Gleichberechtigten, Mitbrüdern). Das fällt weniger schwer. Wir sind es gewohnt, uns da zu überwachen. Wir merken derlei Fehler gegen die gegen die Bruderliebe schnell. Der Geist des hl. Franz v. Sales verlangt dermaßen die Liebem gründet in einem Ausmaß auf dieser Liebe, dass er in seinem neuen Orden nur ein einziges Gelübde haben wollte, das der Liebe. Dieses Gelübde verpflichtet zu so vielen Opfern, lässt uns dermaßen auf uns verzichten, übt so zahlreiche Wirkungen auf unseren Willen aus, dass es unmöglich ist, die Liebe zum Nächsten zu üben, ohne ein Heiliger zu werden. Darum wünschte der hl. Stifter nur dies eine Gelübde.

Geben wir darum Acht, unsere Mitbrüder nicht zu verletzen, nicht abfällig über sie zu urteilen, nicht schlecht von ihnen zu reden: „Wer bist Du, dass Du urteilst?“ Stellt euch vor Gott hin, der euch richten wird. Vor euer Gewissen, das klar und hörbar spricht. Dann sind wir immer liebevoll. Gewiss geht es nicht ohne Opfer ab, doch wollen wir nicht vergessen, dass darin unsere Buße, unser Fasten, unser Schlafen auf hartem Boden besteht. Das ist unser Ordensleben, das ist unsere eigentliche Oblatenabtötung, unser Opfer, unser Kampf, unsere Leiden und unsere Liebe.

Welches Wagnis gehen wir schon ein, wenn wir bei diesen Exerzitien mit Erlaubnis unseres Beichtvaters das Gelübde der Liebe ablegen? Geloben wir es nicht auf ewig, sondern z.B. für drei Monate. Während dieser Zeitspanne üben wir uns ein in dieser Übung, es lohnt die Mühe. Oder ist die Liebe etwa eine nichtssagende Sache? Ist sie eine unbedeutende Frömmigkeitsübung? Begreifen wir wohl, dass die Übung der Liebe unter allen anderen erstrangig und wesentlich für unsere Berufung ist. Ich denke, es ist überflüssig, euch die Gnade zu entfalten, auf die sich dies Dogma von der brüderlichen Liebe stützt. Welches ist denn das große Gebot unseres Herrn? Nach dem anderen: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, was hat er denn dann gesagt? Sein eigenes Gebot: Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst, aus Liebe zu Gott. Unser Herr erwies uns die Ehre, vom Himmel herabzusteigen, einen Leib und eine Seele anzunehmen. Er kam zu uns, um uns sein Hauptgebot, die Liebe zum Nächsten, zu lehren. Täuschen wir uns nicht: In der Ordnung der Erlösung kommt, was das Verdienst angeht, dies Gebot noch vor der Gottesliebe, wenigsten in dem Sinn, dass es das Gebot unseres Herrn Jesus Christus ist. Die Gottesliebe wird gewissermaßen weniger belohnt. Ja, lasst mich ruhig sagen, dass die Gottesliebe uns weniger Verdienste einbringt als die Nächstenliebe. Denn Gott lieben ist nicht schwer, denn die Menschenliebe verlangt einen viel intensiveren Willensakt, ein vollständigeres Opfer.

Seht nur, wie schwierig das ist: Einst begegnete man leicht in den Pfarreien einer Sorte Menschen, die man mit dem Namen von „Devoten“ (Frommen) bezeichnete. Das war sicher nicht die wahre Frömmigkeit, so wie sie der hl. Franz v. Sales sie verstand. Dennoch liebten diese Menschen Gott und erwähnten sich für die Liebe zu ihm. Ist das wunderbar? Nein, aber es war immerhin eine gute Gesinnung. – Was warf man diesen Frommen vor? Dass sie die Nächstenliebe nicht übten, sondern eine böse Zunge hatten. Und aus diesem Grund verabscheute man sie. Da seht ihr aber den Unterschied zwischen der Gottes- und Nächstenliebe.

Täuschen wir uns also nicht: Unsere Liebe zum Menschenbruder verpflichtet uns viel strenger. Natürlich muss die Liebe zu Gott vor allem andern in unserem Herzen die Herrschaft innehaben. Menschenliebe ist aber ein nicht weniger grundlegender Punkt des geistlichen Lebens. Sie ist darüber hinaus ein Opfer, eine Buße, die uns etwas abverlangt, die große Hochherzigkeit erfordert.

Es wird also gut sein, darüber während der Exerzitien nachzudenken und gute und kräftige Vorsätze zu fassen. Wer sich dazu hingezogen fühlt, lege das Gelübde der Liebe ab, in das er alles einschließt: Die Liebe zu den Oberen, zu den Mitbrüdern, zu den Untergebenen. Verpflichten wir uns zu diesem Gelübde nicht unter Sünde, sondern aus Liebe zu unserem Herrn, zu Gunsten zu unserer Berufung. Aus Furcht, Gott zu missfallen. Um unserem Herrn einen vollkommeneren und infolge dessen ihm gefälligeren Lebenswandel anzubieten. Um ihm zu zeigen, dass die Oblaten opfermütig sind, kein laues, schwankendes, unfruchtbares Ordensleben führen möchten, sondern ganze Ordensleute sein wollen. Konsequent gegen sich selbst, erfüllt von kräftigen und energischen Entschlüssen, und ganz zu ihrer Berufung stehend.

Das kostet sicher große Opfer. Man muss immer wieder einen Anlauf nehmen, um zur vollen Praxis dieses Gelübdes zu gelangen. Am Anfang gelingt es euch vielleicht nur einmal von zehn Fällen: Das ist schon etwas. Dann gelingt es bereits einmal von acht Gelegenheiten, und so geht es fort. Was in Paris die Richter am meisten beeindruckt hat in den Zeugenaussagen über die Gute Mutter, war eine Beteuerung, ich habe bei ihr auch den geringsten Hauch eines Verstoßes gegen die Liebe beobachten können. Der Generalvikar Pelgé, der Vorsitzende, war zutiefst betroffen von dieser Behauptung: Da haben wir alle einen trefflichen Beweis, fügte er hinzu. Sie können jetzt sagen, was Sie wollen. Nichts wird solche Aussagekraft haben, wie diese da. Die Rechtssache ist dadurch bereits beurteilt, denn das ist ganz einfach Heroismus.