Exerzitienvorträge 1889

      

2. Vortrag: Die Ordensgelübde: Der Gehorsam.

Der Ordensstand ist eine Lebensform, die zweifellos für die Verfassung der Kirche nicht absolut notwendig ist. Sie könnte auch ohne ihn existieren. Die Kirche nahm ihren Anfang mit unserem Herrn, den Aposteln und Jüngern, den hl. Frauen. Die religiösen Orden existieren noch nicht. Es ist wahr, dass schon zu Lebzeiten der seligen Jungfrauen auf dem Berg Karmel eine Christengemeinschaft wie Ordensleute lebte. Es ist auch wahr, dass die hl. Martha zu Marseille eine Art Gemeinschaft errichtet hatte, die sehr ähnlich war unseren Seelsorgswerken von Burschen und jungen Mädchen. Doch die eigentliche Form des Ordensstandes gab es noch nicht. Sie war noch nicht in einem Artikel oder Kapitel des kirchlichen Gesetzbuches grundgelegt. In der gegenwärtigen Zeit allerdings bedarf die Aktion der Kirche sicher des Ordensstandes. Unser hl. Vater hat es uns gesagt. Ich war dort mit P. Deshairs. Um die Welt zu bekehren, bedarf es der Ordensleute und des Ordensstandes.

Worin besteht nun dieser Stand? In einem Band, das eine gewisse Zahl von Individuen unter besonderen Gesetzen umfasst. Welches ist dieses Band? Es nennt sich Ordensgelübde, Gelübde der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit. Die Praxis der Gelübde unterscheidet die Ordensleute also von den anderen Gläubigen, von den Priestern, den Leviten und allen anderen Gliedern der kirchlichen Hierarchie. Was ist ein Gelübde? Nach der Definition der Theologie ist es das Gott gemachte Gelöbnis eines höheren Gutes. Das Versprechen, etwas zu tun, was besser ist als das einfache Gebet, das also über das allgemeine Gebot hinausgeht.

Einmal gelobt, bindet uns das Gelübde im Gewissen. Es ist gewissermaßen eine Ausdehnung des Naturgesetzes, des göttlichen Gesetzes, des positiven und kirchlichen Gesetzes. Trotzdem ist es nicht zu betrachten als ein rigoroses Werk der Übergebühr, als eine schwer zu tragende Last. Das ist nicht der hl. Kirche, noch der des hl. Franz von Sales. Der hl. Thomas zeigt uns die Gelübde als Hilfe, eine Stütze, als eine Art Triebfeder, die uns hilft, das Gesetz Gottes und das der Kirche vollkommener zu halten.

Darum müssen wir während der Exerzitien uns darüber klar werden, ob wir die Gelübde wirklich gut halten. Auch die Novizen müssen sich prüfen, ob sie tatsächlich tun, was notwendig ist, und ob sie für die Zukunft die treue Befolgung vorbereiten. Das Gelübde verleiht unseren Handlungen ein ganz besonderes Verdienst. Ein infolge eines Gelübdes vollzogene Tat ist vollkommener als wenn es aus eigenem Abtrieb getan wird. Ein aus Frömmigkeit vollzogenes Bußwerk hat weniger Verdienst als wenn es aus einem Gelübde vollbracht wird. Das Gelübde bewirkt, dass die Buße eine von Gott äußerste geschätzte Tugend wird. Jene, die Ordensgelübde ablegen – so lehrt Thomas – bilden einen besonderen Orden. Es gibt in der hl. Kirche zwei große Ordnungen: die bischöfliche und die gewöhnliche der Gläubigen, zu der auch die Priester gehören. Der Ordensstand ist eine Zwischenordnung. Und in ihrer Verwaltung ratifiziert die Kirche diese Einteilung, indem sie die in die Hände derselben Römischen Kongregation die Bischöfe und Ordensleute legt. Der Ordensstand bildet somit in der Nähe der Bischöfe in ihren Augen einen eigenen Orden, der zur kirchlichen Hierarchie erhoben ist. Das muss uns eine hohe Sicht des Ordensstandes geben. Ein Ordensmann ist in der Tat kein gewöhnlicher Mensch, sondern ist Gott zugeteilt und gehört ihm mit Leib und Seele und Gedanken. Er gibt sich ihm freiwillig hin, um seinen göttlichen Willen zu erfüllen. Wir sind Gott geweiht, und die Weihe ist eine Folge unserer Gelübde. Darum ist es notwendig, die Gelübde zu halten. Um sie gut zu halten, müssen wir die Lebensweise verstehen, die wir führen sollen. Wir sollen ja nicht das Leben von Kapuzinern und Jesuiten führen. Nehmt die ältesten und besten Ordensleute, die Benediktinern her. Wir halten unsere Gelübde nicht nach ihrer Weise. Wenn der Papst und die Kirche neue Orden genehmigen, dann geben sie den Gelübden bestimmt einen neuen und besonderen Sinn. Es ist eine Neufassung, eine Neugestaltung des alten Ordensstandes. Ansonsten würde die Kirche ja nur einen einzigen Orden ermächtigen.

Wir sind Oblaten und sonst nichts. Allein in unseren Ordenssatzungen und unserem speziellen Geist müssen wir suchen, was uns zu tun obliegt… Alles, was wir anderswo nehmen würden, sagt unser hl. Stifter, „wäre für uns nicht gut, so gut es auch zu sein scheint und in Wirklichkeit auch ist.“ Das ist ein wesentlicher Punkt, eine Überlegung von immenser Bedeutung. Das Ordensleben besteht in Praktiken, die neue Pflichten auferlegen und spezielle Rechte verleihen. Nehmt einen Weltmenschen her, einen verheirateten Familienvater, der Geschäfte zu betreiben hat und mit den Arbeiten zugunsten einer Familie überladen ist. Würde er nun beginnen, das Brevier zu beten, zwei Messen jeden Tag beizuwohnen, zwei Stunden Betrachtung zu halten, eine lange Lesung aus einem frommen Buch vorzunehmen, würdet ihr den einen Heiligen nennen? Ich würde behaupten, dieser Mann ist ein erbärmlicher Wicht, der seine Pflicht nicht erfüllt. Was nützt ihm alles Übrige? Nur Gott zu beleidigen. Dieser Mann ist ein Heiliger, wenn er betet und der hl. Messe beiwohnt, wenn er das ohne Vernachlässigung seiner Standespflichten tut, wenn er nach Möglichkeit eine fromme Lesung macht, sich mit ganzem Herzen und aller Sorgfalt seinen Geschäften hingibt und der Leitung seiner Familie und Erziehung seiner Kinder widmet. So ist auch ein Oblate nur dann ein guter Oblate, wenn er gewissenhaft seine Oblatenpflichten erfüllt. Ein noch so guter Jesuit gäbe niemals einen guten Oblaten ab. Ebenso wenig wäre eine Heimsuchungsschwester gut zu nennen, würde sie das Leben einer Karmelitin, einer heiligen Karmelitin führen. Ich hatte eine Verwandte als Karmelschwester, die letztes Jahr gestorben ist und sicher eine Heilige war. Sie sagte mir eines Tages: „Unsere Oberin sagt mir, die Betrachtung so und so zu machen, aber das gefällt mir nicht. Ich besitze die Ratschläge meines Beichtvaters, meines Seelenführers, die mir besser passen, und die befolge ich.“ Immer wenn ich sie besuchte, führte sie ähnliche Reden. Und dabei war sie eine Heilige. Lasst eine Heimsuchungsschwester solch eine Sprache führen, dann habt ihr keine Heimsuchungsschwester vor euch. Wollt ihr ein echter Oblate sein, ein Lehrer des geistlichen Lebens? Dann nehmt euer Direktorium, eure Satzungen, und erfüllt sie auf den Punkt genau. Oblaten werdet ihr nur unter dieser Bedingung sein. Die Verwirklichung der Ordensgelübde ist also nicht überall dieselbe. Die Armut der Franziskaner ist nicht unsere Armut. Nicht nur besitzt der einzelne Franziskaner nichts, sondern auch die Kommunität hat kein Eigentum. Der Franziskus-Sohn geht barfuß fürbass und schläft auf harter Erde. Könnte er anders sein Gelübde erfüllen? Nein. Diese Dinge müssen uns klar sein. Jeder Orden interpretiert seine Gelübde auf andere Weise. Die großen Linien sind die gleichen, jedoch unterscheiden sich die praktische Anwendung dieser Gelübde, der Geist, mit dem sie gelebt werden, voneinander.

Lasst mich heute Abend vom Gelübde des Gehorsams sprechen. Dieser wird von den Oblaten auf eine besondere Weise geübt. Das will ich euch durch eine Fülle von Beispielen beweisen.  Der Gehorsam jedes anderen Ordens besteht darin, nichts gegen die hl. Regel zu tun und dem Oberen gegenüber nicht ungehorsam zu sein. Genügt das beim Oblaten? Hat die Kirche uns dieses Gelübde auferlegt, dann will sie, dass wir uns nach unseren Satzungen und unserem Direktorium richten. Nehmt einmal die Satzungen: Der Gehorsam soll einfach und herzlich sein, er soll das eigene Urteil überwinden. Lest in den Satzungen anderer Orden nach: die alten Orden verzichteten nicht auf ihr eigenes Urteil. Was bedeutet das? Die Kirche will mit der Einsetzung neuer Orden neue Übel heilen. Sie bereitet damit wirksame Heilmittel für die menschliche Gesellschaft und will jene mehr heiligen, die das Ordensleben zu ihrer Lebensform machen. Da seht ihr, dass die Grundlage der Gelübde dieselbe bleibt, die Art ihrer Verwirklichung aber variiert. Lest die Regel des hl. Augustinus nach, sowie die Satzungen des hl. Franz von Sales. Die ersteren sind viel weiter und allgemeiner gehalten, die letzteren hingegen detaillierter und umfassender. Jedes Mal, wenn die Kirche einen neuen Orden einsetzt, gibt es ein Mehr an Pflichten und Vollkommenheiten. Sie approbiert nicht, was bereits alle tun und schon approbiert ist. Unser Gehorsam soll prompt und herzlich sein, unser eigenes Urteilen wird zurückdrängt. Würden wir nur gehorchen wollen wie die Karmeliter, so wäre das ungenügend. Ist das aber nicht sehr schwer? Verstehen wir uns gut: Es ist viel leichter, ganz zu gehorchen als halb, so wie es leichter ist, zu schwimmen, wenn das Wasser tief ist als wenn es kaum den Boden bedeckt, so wie dem Vogel das Fliegen leichter fällt, wenn er kein Band mehr spürt, als wenn ihn ein Band am Bein zurückhält. Es ist leichter, sich der hl. Regel ganz zu fügen als ihr nur aufs Geratewohl, so halb und halb zu folgen. Alles, was den Gehorsam mindert und verzögert, ermüdet den Willen. Mangel an Herzlichkeit, die einen Befehl übel aufnimmt, eigenes Urteil, Eigenliebe: all diese Hindernisse gleichen einem Wespenschwarm, der um uns herumfliegt und unsere Augen und Gedanken trübt. Gehorcht darum vollständig, dann seid ihr im gleichen Augenblick von aller Eigenverantwortung, von allem Zurückblicken frei. Es ist geschehen, nichts mehr kann mich quälen. Ich beschwöre euch bei der Liebe zu unserem Herrn und bei der Liebe, die er zu euch hegt, strebt nach diesem Gehorsam. „Wie lange wollt ihr nach rechts oder links humpeln?“ Geht doch geraden und festen Schrittes voran. So sagte ich euch unlängst mit den Worten der Guten Mutter: „Seid entschlossen im Gehorchen!“ Dann kostet euch keine Mühe mehr. Man hat seine Entscheidung getroffen, man geht voran, etwas weniger oder etwas mehr, das ist unbedeutend. Erbittet von unserem Herrn, dahin zu gelangen. Der Gehorsam ist es, der den wahren Ordensmann macht, der ihn wahrhaft unabhängig macht und ihn mit Gott verbindet. Wir beklagen uns, dass wir von Gott nichts bekommen in der Betrachtung, wir fühlen unser Herz trocken und kalt bei der hl. Messe. Die Übungen des geistlichen drücken uns schwer, wir ersticken. Das ist nicht erstaunlich. Wie Jeremias sind wir versunken im Schlamm unseres eigenen Willens, worin wir uns nicht wohl fühlen, worin wir uns mühsam bewegen, und aus dem Dünste aufsteigen, die unser Herz nicht zum Jubilieren bringen. Die Gute Mutter sagte oft: Setzt alles gegen alles ein! Das „alles“, das wir einsetzen können, ist so minimal dem „alles“, das wir empfangen. Gebt großmütig und ihr werdet staunen, was ihr alles dafür erhalten und finden werdet in euren Beziehungen zu den Oberen, in der Betrachtung, in euren Beichten… Ja, ihr werdet staunen! Der Gehorsam ist der Glaube an Dinge, die man natürlicherweise nicht glauben würde, nicht tun würde. Auch die Mysterien sind Wahrheiten, die man mithilfe der Vernunft nicht erkennen würde. Und doch bergen sich unter diesem unscheinbaren Äußeren göttliche Wahrheiten. Auch die Sakramente sind natürlich nichts. Habt aber Glauben, und dann findet ihr unter diesem Nichts Gott selbst. Gehorcht, und der Gehorsam, dieses Nichts, wird zu „Gott in euch“. Er wird Licht, unaussprechliche Freude. Ohne Verzug genießt ihr da den euch da zuteil. Dieser Weg ist nicht nur der leichteste und sicherste, er ist auch der bestbelohnte. Er macht ohne viel Unkosten glücklich. Beim Gehorsam gebt ihr ein bisschen von eurem eigenen Urteil her, was wiegt das schon, was ist das schon wert? … Dafür wird ein unnennbares Glück, unendliche Gnaden, ja der Himmel selbst euer Anteil, jetzt schon. Ihr werdet sehen, sobald ihr etwas Erfahrung in der Seelsorge habt, dass die von Gott bevorzugten und beschenkten Seelen die vollkommen Gehorchenden sind.

Das also bedeutet Gehorsamsgelübde. Versteht wohl, es besteht nicht nur darin, wie der Soldat zu rufen: „Hier!“ Oder wie der Knecht: „Da bin ich!“ Man muss sich Gott geben, in einem bedingungslosen und vollständigen Ganzopfer. Alles für Gott! Wie soll da Gott nicht euer Anteil werden, wenn ihr ganz ihm gehört? Es ist das Geheimnis der Geheimnisse, um Gott zu verkosten. Es ist der Schlüssel zu allen Glückseligkeiten des Ordenslebens. Macht den Versuch, liebe Freunde! Was soll euch zurückhalten können? Wozu euch hin- und herreißen lassen? Wollt ihr nicht edelmütig und energisch genug sein, zu Gott zu sagen: „Ich habe mich dir übergeben. Koste es, was es wolle, ich nehme mich nicht mehr zurück. Ich gebe mich dir ganz und aus Liebe. Ich will nicht nachsehen, woher mir der Gehorsam kommt und wohin er mich führt.“ Ihr seht schon, meine Freunde, ich sage euch nicht vielerlei Dinge während der Exerzitien. Ich sage nur eins und drehe es nach allen Seiten. Ich wiederhole es unablässig, dass es tiefer haftet. Es enthält alles. Tut, was ihr könnt, um euch immer stärker davon zu durchdringen und so zu diesem vollen Gehorsam zu gelangen und damit heilige und glückliche Ordensleute zu werden. Der Blick des lieben Gottes, sein liebender Blick, wie unser hl. Stifter sagt, ruht auf den Kleinen, auf denen, die ganz im Gehorsam leben.

Ich glaube, es war der Erzbischof von Albi, der betreffs der Biographie der Guten Mutter schrieb: Man ist nicht überrascht, Gott sozusagen am Willen der Guten Mutter haften zu sehen, da sie ihm so treu gehorchte und ihr Leben im totalen Gehorsam bestand. Gott gab ihr nur zurück, was sie ihm gab.

Üben wir uns ein im Gehorsam während dieser Einkehrtage. Geben wir uns gleich daran, schon bei der ersten Übung, die uns schwer fällt. Abhängigkeit den Vorgesetzen gegenüber, wer immer sie seien. Oder wir sind zu zweit in einem Amt. Da gibt es immer Gelegenheiten zu Abhängigkeit, die die hl. Regel und die Vernunft vorschreibt. Tun wir es. Suchen wir nicht lange herauszufinden, wie weit unsere Verpflichtung reicht. Fragt nicht die Lehrbücher der Theologie und des kanonischen Rechts. Diese Traktate sind gut, richten sich aber nur an jene, für die sie verfasst wurden. Sie sind nicht für uns geschrieben worden. Meine Freunde, von ganzem Herzen sollten wir füreinander bitten, sollten für uns und unsere Mitbrüder um diesen Gehorsam bitten, die unsere hl. Stifter und unser Institut von uns erwarten. Bedrängen wir unseren Herrn, uns solch ein Herz und Sinn für einen beständigen Gehorsam zu geben. Um so weit zu kommen, bedarf es zweifellos großer Entschlossenheit, das Opfer kostet. Sobald wir einen Gehorsam empfangen, heißt es sogleich sagen: „Gott will es, Gott liebt es, meine Seele wird sich darum ganz und ungeteilt da hinein begeben. Ja, sie wird sich in den Gehorsam hineinwerfen, ohne nach rechts oder links zu schauen.“ An dem Tag, wo die hl. Kirche in uns Ordensleute findet, die so weit gehen, wird das Gelöbnis und der Wunsch der Guten Mutter erfüllt sein, und nicht nur ihr Wunsch, sondern auch der aller Engel und des Erlösers, ja der Plan der heiligsten Dreifaltigkeit: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.“