Exerzitienvorträge 1889

      

1. Vortrag: Die Exerzitien.

Wir beginnen heute unsere Exerzitien. Sie werden sehr wichtige Folgerungen nach sich ziehen, und zwar in Anbetracht der Zeiten, in denen wir leben, wie auch angesichts der Bedürfnisse der Kirche wie der unsrigen. Darum wollen wir sie so gut wie möglich machen. Es müssen wirkliche Exerzitien sein, in denen wir uns in großem Ernst hinabsteigen in die Tiefen unseres Gewissens, um zu sehen, was wir im übernatürlichen Leben sowie in der Treue zu den Praktiken des Ordenslebens gewonnen haben. Um zu erforschen, was wir in der Liebe zu Gott, und den Mitbrüdern, in der Liebe zu unseren Pflichten für Fortschritte gemacht haben. Feststellen wollen wir auch, wie viel wir verloren haben durch unsere Untreuen. Sind wir seit dem letzten Jahr besser geworden? Wie haben wir in diesem Jahr unsere klösterlichen Verpflichtungen erfüllt? Wie waren unsere Beichten, unsere Kommunionen? Wie haben wir das hl. Messopfer dargebracht? Wie sind wir den so ernsten Pflichten der Seelsorge nachgekommen? Wie haben wie den Klassenunterricht erteilt? Mit welcher Vollkommenheit haben wir uns unseren verschiedenen Seelsorgswerken hingegeben? Wie steht es mit dem Direktorium? Haben wir uns überhaupt darum gekümmert? In welcher inneren Einstellung kamen wir ihm nach? Da habt ihr eine ganze Reihe von Fragen, die wir uns während dieser Einkehrtage stellen und über die wir uns klar werden sollen. Wir müssen diese Exerzitien umso besser machen, als die Zeiten äußerst stürmisch und darum gefahrvoll sind. Es liegen Gefahren in der Luft, die wir überall spüren, draußen wie im Inneren. Draußen in der Welt dringen die Grundsätze und ihre schlechten Beispiele bald bei uns ein, wenn wir nicht auf der Hut sind, sie drängen sich in unser Urteil, ja sogar in unseren Glauben ein. In unserem eigenen Inneren sind unsere Gedanken nicht immer gesund und in Übereinstimmung mit dem Besseren, mit den Prinzipien des Ordenslebens. Oft stehen wir im Gegensatz zu den Gesinnungen und dem Wollen eines guten Ordensmannes. Legen wir uns darum eine detaillierte Rechenschaft ab über sämtliche Fragen, die ich euch vorgelegt habe, damit wir uns vor Gott kennenlernen, uns keinen Illusionen hingeben und nicht ungerechtfertigter Weise das Brot der Kinder Gottes empfangen, jenes Brot, mit dem uns Gott überhäuft. Jene Gnaden, jene Hilfen, Gebete und göttliche Eingebungen, die er an uns verschwendet. Statt zu profitieren von dieser Nahrung, uns damit zu sättigen, unsere Glieder zu stärken, haben wir sie vernachlässigt, mit Füßen getreten, während so und so viele Menschen ihrer beraubt waren. Eine andere Überlegung wäre anzuschließen: Obwohl wir Oblaten doch schon lange existieren, ist es nicht weniger wahr, dass unsere geringe Zahl und die wenige Hilfsquellen, die wir zur Verfügung haben, die Behauptung zulassen, unsere Kongregation stehe noch am Anfang. Wir stehen übrigens noch lange Zeit am Anfang. Obgleich das so ist, obgleich wir also Kinder sind, und das aufgrund der besonderen Umstände, die ihr kennt, hat Rom uns dennoch approbiert. Und man hat uns nicht als Kinder betrachtet, sondern bereits als Erwachsene, ja als Greise. Und das letzte Wort, das man mir in Rom gesagt hat, war dieses: „Jetzt habt ihr für hundert Jahre Existenzberechtigung.“ Wenn man uns in Rom somit für fähig hielt, auf eigenen Füßen zu stehen, müssen wir diese Einstellung und dieses Vertrauen rechtfertigen. Schauen wir uns gut an, meine Freunde: Sind wir, bin ich der Oblate des Vertrauens des hl. Vaters, der hl. Kirche? Lebe ich gut mit meinem Direktorium, erfülle ich ganz meine Satzungen, bin ich von der inneren Gesinnung beseelt, die man von einem heiligen Ordensmann erwartet? Diese Überlegung, glaubt mir, ist nicht ohne Wert. Die hl. Kirche sendet euch. Sie macht euch zu Treuhändern ihrer Schätze, sie vertraut euren Händen eine unendlich kostbare Sache an, die Lehre der Guten Mutter Maria Salesia, die nichts anderes ist als die Erklärung der Lehre des hl. Franz von Sales. Wer hat also diesen Schatz empfangen? Wer soll dieses Kapitel zur Geltung bringen? Nicht irgendwelche Nachbarn, nicht diese oder jene Ordensmänner, die zehnfach, ja hundertfach mehr taugen als wir. Auch nicht die heiligsten Priester dieser oder jener Diözese, sondern einzig und allein ihr. Unter all den Kongregationen, die sich bergen unter dem gesegneten Namen unseres hl. Stifters und die in jeder Hinsicht die Hochachtung der Gläubigen und das Vertrauen der hl. Kirche verdienen, hat nur die unsere den Schatz empfangen, der uns da übergeben ist. „Bewahre den Schatz.“ Zu wem hat der hl. Paulus dieses Wort gesprochen? Zu einem einzigen seiner Schüler, zum hl. Timotheus: Was ich dir anvertraut habe, bewahre es wohl. Anderen habe ich viel anvertrauen können, du aber bist der einzige, den ich mit meinem Schatz bekleidet habe. „Zu den übrigen“, sagt unser Herr, „habe ich in Gleichnissen gesprochen. Euch aber, meine Vielgeliebten, habe ich die meines Vaters kundgetan.“ Ich erfinde hier nichts, meine Freunde, niemand auf der Welt kann das Gegenteil behaupten. Gehen wir also voran, machen wir uns mit einer heiligen Energie an das Werk, zu dem der hl. Vater und die hl. Kirche uns weihen. Dieser Schatz wird in unseren Händen vielfache Frucht bringen oder aber er wird ins Taschentuch gewickelt in irgendeiner Gartenecke vermodern. Ziehen wir aus diesen Betrachtungen einige Folgerungen: Bin ich ganz dem hingegeben, was mir aufgetragen ist, rechtfertige ich voll das Vertrauen, das die Kirche in mich setzt…? Ich empfehle mich euren Gebeten, meine lieben Freunde, damit ich mein Amt gut erfülle. Dieses Erbe lastet schwer auf mir. Ich sage nicht, es erschreckt mich, denn dieses Wort hat keinen Platz in den Belangen, die sich auf Gott beziehen. Aber ich fühle, dass ein unendlicher Zwischenraum klafft zwischen dem, was ich bin und dem, was ich sein müsste. Aber vergesst auch ihr nicht, was ihr seid. Ihr seid Lehrer der dritten Klasse Gymnasium (Anm. siebte Gymnasialklasse nach deutschem System), ihr seid dies und das, seid Aufseher beim Studium, seid Disziplinarpräfekt, habt die Obsorge für die Einrichtung, seid mit Handarbeit beschäftigt: Das ist alles sehr schön, doch in all dem und vor all dem müsst ihr Oblaten sein. Ihr könntet ja auch Freimaurer sein und gleichzeitig Lehrer der dritten (Anm.: Deutschland siebten) Klasse sein, das ist nicht unvereinbar mit dem Programm her gesehen, im Gegenteil. Was seid ihr also? Ihr seid Ordensleute, und man erwartet von euch, dass ihr es in der Tat seid und so die Pflichten eurer verschiedenen Ämter erfüllt, die man euch anvertraute. Das könnt ihr aber nur unter der Bedingung, dass ihr vollkommene und komplette Ordensleute seid. Nehmt eure Pflichten also nicht auf die leichte Schulter, seid durchdrungen von dem, was ihr seid und sein sollt. Zu diesem Zweck machen wir jetzt Exerzitien. Darum sind diese Tage so enorm wichtig. Jetzt sollen wir an unser Gedächtnis, an unsere Erinnerungen, an unser Gewissen, an unser Urteil appellieren. Wie der Prophet wollen wir Jerusalem unseren Besuch abstatten. Jede Ecke und Falte unserer Seele heißt es durchleuchten, nichts darf uns da entgehen. Bis auf den Grund der Seele muss ich vordringen, um alles, alle Sünden, dem Beichtvater zu sagen…
Die Fehler der Ordensleute sind zahlreich, meine Freunde: Wo kein Gesetz, da keine Sünde. Je detaillierter das Gesetz wird, umso mehr verzweigt es sich in Observanzen und vermehrt sich die Zahl der Sünden, wenn man nachlässig ist in der Beobachtung all der einzelnen Vorschriften. Warum solltet ihr jetzt während dieser Einkehrtage nicht auch euer Verhältnis zu den Mitmenschen einer Prüfung unterziehen? Vielleicht liegt gerade hier die Hauptlast eurer Verfehlungen in diesem Jahr. Statt aufzubauen und zu erbauen, hat man erschüttert und abgerissen. In der Hölle sind ein Drittel der Ordensleute deswegen, weil sie diese Bagatellen nicht beachtet haben, die nach und nach dem Respekt vor Gesetz, die Zartheit des Gewissens, die Treue zu den noch so unbedeutend scheinenden Verpflichtungen untergraben. Auch in den anderen zerstört man dann die Hochachtung vor dem Gesetz Gottes, der Kirche und der Autorität, erschüttert die und die Seele und verdirbt sie allmählich. Wie viele Berufe, wie viele gute Werke lagen nicht im Plan der Vorsehung! Es war eine klare und offenkundige Tatsache. Diese hätten wieder eine Anzahl anderer Seelen gewonnen: „Er beauftragte einen jeden mit seinem Nächsten.“ Eure Redeweise, Geistesart, Stolz haben den und den gehindert, seine Pflicht zu erfüllen, haben ihn verführt, sein eigenes Leben zu leben, sich unabhängig zu machen, nachdem man die Zartheit der Gnade gegenüber vernachlässigt hat, den Pfad der Pflicht zu verlassen und den Weg des Verderbens zu gehen… Das ist die größte Sünde von allen. Im Namen unseres Herrn Jesus Christus prüft euch hierüber während dieser Tage. Macht dann gut. Denn diese Sünde heißt es gutmachen. Fasst dann den Entschluss, nicht mehr zurückzufallen und das Übel, das man da ganz offenkundig angerichtet, zu sühnen. Nehmt das nicht leicht, seid auf der Hut vor euren persönlichen Neigungen, eurer Geistesart und den Einflüsterungen eurer Eigenliebe. Weil man selbst die Last von den Schultern wirft, redet man auch dem anderen zu, dasselbe zu tun… Lest das Evangelium gut durch: Findet ihr darin alles? Findet ihr darin den Grund und die Natur der vollständigen Verfassung der Kirche und eines jeden Sakramentes? Findet es, wenn ihr könnt. Alle Protestanten werden euch, das Evangelium in der Hand, beweisen, dass darin nichts davon steht. Urteilt ihr rein menschlich, dann findet ihr Derartiges nicht im Evangelium. So wird auch der menschliche Verstand denen, die keine Lust haben, in der hl. Regel und den Satzungen Derartiges zu finden, weißmachen, es stünde wirklich nicht darin. Denn mit der menschlichen Vernunft darf man nicht diskutieren. Wir brauchen den Glauben, wir müssen den Geist annehmen, den man uns einflößen will. Was hat mir der hl. Vater denn gesagt? Er hat mir von der Höhe seines Apostolischen Amtes gesagt. Sie werden große Früchte hervorbringen, unter der Bedingung, dass ihr ganz hingegebene Ordensleute seid, „bis zum Vergießen des Blutes“. Ersetzt ihr aber den Glauben durch euer Urteil, dann kann es auch Derartiges hervorbringen. Ich bin euch dem absoluten Willen Gottes zu widersetzen. Darum, meine Freunde, machen wir gute Exerzitien!

Wie soll das geschehen? Indem wir die Übungen der Einkehrtage mit großer Pünktlichkeit absolvieren. Noch einmal – es ist das hundertste Mal, dass ich es sage – diese Übungen sind Sakramentalien, die in den Seelen Gnaden hervorbringen. Sie sind wie Weihwasser, geweihtes Brot, geweihtes Salz, Gebet, Vaterunser, mit einem Wort: All diese Dinge, die man Sakramentalien nennt und die Gnade vermitteln aufgrund der inneren Einstellung, mit der man sie gebraucht. Vollziehen wir also die Punkte der Exerzitienordnung so wie sie sind und mit welcher natürlichen Einstellung auch immer. Haben wir guten Willen, dann werden sie uns Gnaden einbringen. So wie wir Materie und Form zum Sakrament brauchen, um die Gnade des Sakraments zu empfangen, so muss man treu und pünktlich sein in den Übungen, der äußeren Form, der Exerzitien, um der Gnade dieser hl. Einkehr teilhaft zu werden. Habt Vertrauen zu den einzelnen Übungen, es sind Mittel, die uns unser Herr, die Kirche und der hl. Stifter an die Hand geben. Seht euch die Tagesordnung der Exerzitien an: Haltet gewissenhaft das Stillschweigen, macht keine Ausnahme. Wahrt die innere Sammlung. Ihr braucht nicht euren Geist anzustrengen, eure Phantasie zu ermüden. Geht ganz einfach ans Werk, sowohl was die Gewissensprüfung betrifft wie die Tagesordnung. Geht so schlicht heran wie Kinder zu ihrem Vater gehen. Was die innere Einstellung betrifft, so hängt sie vom Geist eines jeden im Besonderen ab und von dem, was Gott ihm gibt. Wer Eifer verspürt, ist in Ordnung. Es soll profitieren von den Gnaden Gottes und der Hilfe, die ihm zuteilwird.  Empfindet ihr Widerwillen, so ist es noch besser. Die Ernte wird noch reicher ausfallen, die Früchte noch sicherer und einwandfreier sein. So verstandene und gelebte Exerzitien werden uns nicht zu einer untragbaren Last. Lässt Gott Prüfungen und große Versuchungen zu, dann sage man es in aller Demut und Einfachheit dem Beichtvater und denke daran, dass dies Vorboten großer Gunsterweise und Erleuchtungen sind, die mit Sicherheit folgen werden. Wir wollen den hl. Bernhard, diesen gütigen, wahrhaften Kenner des Ordenslebens, dessen Fest wir heute feiern, bitten um einige Gnaden, die Gott ihm mitgeteilt hat. Unser Haus trägt seinen Namen, wir haben sozusagen seine Verehrung hier zu neuem Leben erweckt. So müssen wir uns auch von seinem Geist durchdringen lassen und er muss uns zu Hilfe kommen. Rufen wir ihn heute ein paarmal an zusammen mit unserem hl. Stifter, und der Guten Mutter, damit wir das Gesagte gut begreifen und es verwirklichen.