8. Vortrag: Die Nächstenliebe.
Heute Morgen sprach ich euch über den Gehorsam. Ihr habt, so glaube ich, verstanden, dass der Gehorsam des Ordensmannes der energischste Akt des Willens ist, folglich der erhabenste Akt, den wir vornehmen können. Seht den Gehorsam unter diesem Blickwinkel, dann erfahrt ihr von Seiten des Willens keinen vernünftigen Einwand und Widerstand mehr, und sollte euer Urteil dennoch sich dem Verlangten widersetzen, so unterwerft dies Urteil und gleicht euren Willen dem Gehorsam an. Heute Abend möchte ich euch unterhalten über eine Pflicht, die an erster Stelle nach den Gelübden kommt: Die Liebe zum Nächsten.
Die Liebe ist ein allgemeingültiges Gesetz, das sich an alle Christen richtet. Denn unser Herr hat gesagt: „Dieses zweite Gebot ist dem ersten gleich.“ Ein Gebot also, das für alle gilt. Für uns aber gilt es in besonderer Weise. So findet sich auch das Wort „Liebe“ im Alten Testament kaum acht- bis neun Mal, während wir ihm im Neuen Testament, insbesondere in den Briefen des hl. Paulus und des hl. Johannes, fast in jedem Satz und in jeder Zeile begegnen. Dieses Gebot ist das unsrige, Fundament unserer Existenz, Element, in dem wir leben müssen.
Überlegen wir also, worin die Liebe besteht.
1. Da gibt es zunächst „die Liebe der Gerechtigkeit“, die wir jedermann schulden. Es ist die Anwendung eines göttlichen Gesetzes, das in der Natur selbst: Tut niemandem etwas, was ihr nicht wollt, dass man es euch antue! Mit anderen Worten: Begeht keine Ungerechtigkeit! Schadet niemandem, weder in seiner Seele, noch in seinem Leib, noch in seinen Gütern. Dieses allgemeingültige Gesetz ächtet die Verleumdung, die üble Nachrede und alles Übrige. Zu dieser Gerechtigkeit sind wie ebenso verpflichtet wie zur Gottesliebe, da das zweite Gebot dem ersten gleich ist. Man vergisst häufig dieses Gebot, die Gewohnheit des Weltlebens löscht die Erinnerung daran aus, weil wir in der Welt draußen zu viele entgegengesetzte Beispiele vorgesetzt bekommen. Die Zeitungen, die Streitigkeiten zwischen verschiedenen politischen Meinungen, der Anblick von mehr oder weniger verachtungswürdigen Personen, die es zu Ehren und Macht bringen, all das verführt uns dazu, gewohnheitsmäßig Schlechtes vom Nächsten zu reden. Jedermann sagt seine Meinung, urteilt über den Nächsten und hängt das an die große Glocke, worüber die Nächstenliebe verpflichtet zu schweigen. Wir würden besser daran tun, dem Beispiel der Heiligen, besonders der Guten Mutter Maria Salesia folgen, die ich niemals eine Bemerkung gegen die Liebe aussprechen hörte, noch ein Urteil gegen wen auch immer. Ich habe diese Tatsache vor dem kirchlichen Gericht zu Paris (bei ihrem Seligsprechungsprozess) bezeugt, was den lebhaftesten Eindruck auf die Richter gemacht hat, die mich dieses Zeugnis mehrere Male wiederholen ließen. Gäbe Gott uns die Gnade, ein wenig davon zu haben. Das wäre eine herrliche Sache.
2. Nach der „Liebe der Gerechtigkeit“ gibt es die „Liebe der Liebe“, ich meine damit jene, die zwischen Brüdern und den Gliedern derselben Gemeinschaft existiert. Natürlich muss diese Liebe eine andere sein, als sie nur allzu oft zwischen leiblichen Brüdern herrscht. Wie viele Familien gibt es doch, wo man weit davon entfernt ist von diesem Gebot der Liebe! Es klafft eben ein großer Unterschied zwischen der Liebe der Liebe und der Liebe der Gerechtigkeit. Gott selbst gibt uns dafür das Beispiel. Bei ihm finden sich beide Arten von Liebe.
Für alle Menschen ohne Ausnahme hegt er die Liebe der Gerechtigkeit. Denn allen gewährt er die hinreichende Gnade der Rettung. Das steht somit in der Macht eines jeden. Aber nur einige Seelen sind siegreich. Denn ihnen gewährt er Privilegien, Vorzugsgnaden, übernatürliche, außerordentliche Gnaden, Wunder, Erleuchtungen für den Verstand. Wie es uns die Epistel des gestrigen Tages sagte: „Euch habe ich Freunde genannt.“ Eich habe ich von den anderen abgesondert, um euch mehr zu geben als ihnen. Ja, manche bekommen bessere Gaben. Warum das? Wir sollen Gott nicht fragen. Warum ist euer Auge böse, wenn ich gut bin, würde er uns antworten… Es ist eine absolute und konstante Wahrheit, dass Gott Bevorzugungen kennt, und niemand darf wagen, den Grund dafür zu erfragen. Es gibt reinere und unschuldigere Seelen, die sich damit die Gnaden der göttlichen Freundschaft erkauft haben. Gott aber hätte die gleichen Gnaden auch anderen mit bedeutend weniger Verdienst schenken können.
In Nachahmung der Liebe Gottes soll und kann darum auch unsere Liebe zu gewissen Seelen umfassender und inniger sein. Gegen sie hegen wir nicht nur die Liebe der Gerechtigkeit, indem wir es vermeiden, sie zu verletzen durch Ärgernis. Vielmehr üben wir gegen sie jene Liebe, die bewirkt, dass wir sie mehr lieben, sie in ihrem Peinen stützen, ihnen Hilfe in allen Lebenslagen leisten. Wir lieben diese Mitmenschen schließlich mit einer affektiven Liebe. Wir sind Brüder, gehören zur selben Familie, haben den gleichen Vater, die gleiche Mutter. Warum sollte es bei uns auch verschiedene Häuser geben? Verschiedene Väter? Warum Kälte hier und zärtliche Liebe dort? Das wäre ein großer Fehler und ein hohes Hindernis für diese „Liebe der Liebe“ (= Nächstenliebe), die unter uns herrschen soll.
Dieser Art von Liebe schaden viele Dinge, vor allem die Indiskretion, dass man einfach darauf losschwätzt, dies und das zum Besten gibt, was andere von dem und jenem behauptet haben. Man schadet damit diesen anderen und trifft die Gemeinschaft ins Herz. Die Indiskretion ist somit eine Sünde, die vor allem diese innige Liebe zum Nächsten verletzt, die unter uns herrschen soll.
Wacht also über die Liebe, wie sie hier gemeint ist. Es ist, wenn ihr wollt, nur ein Staubkorn, aber es verletzt den Augapfel Gottes, eines Gottes, der so herrlich in seinen Liebeserweisen und so erkenntlich für alles, was man für ihn tut. Lasst Zartgefühl walten! Erlaubt euch keine Tölpeleien oder Albernheiten, was ja nicht sagen will, dass man nicht gelegentlich ein geistreiches Wortspiel gebrauchen dürfte. Sobald aber der Mitbruder darunter leidet, übt man besser die Liebe. Peinlich genau hüte man sich davor, zu richten und zu urteilen, vor all dem, was diesen oder jenen bloßstellt, besonders vor jenen kleinen Taktlosigkeiten, die wie ein Eimer Wasser das Feuer der Liebe auslöschen. Ein Oberer sagt bei dieser und jener Gelegenheit, was er denkt. Muss man das nun wiederholen? Vielleicht, um sich hervorzutun, begeht man damit einen bedeutenden Fehler, den man beichten und man wiedergutzumachen muss… Wie soll man solch eine Wunde heilen? Dazu sind wir doch mehr als andere verpflichtet. Oder gehen wir wie die Kapuziner barfuß? Fasten wir wie die Kartäuser? … Dafür aber sind wir zu all diesen Aufmerksamkeiten in der Liebe verpflichtet.
Wir wollen unsere Mitbrüder nur nicht verletzen, sondern sie mit unserer zuvorkommenden Liebe umgeben. Es soll zwischen uns etwas Brüderliches, Verbindendes, Gutherziges vorherrschen. Keiner von uns ist vollkommen, wir sind weit davon entfernt. Gott wählt keine Vollkommenen aus, um daraus Ordensleute zu machen. Er wählt lieber Mangelhaftes aus, das in der Welt nicht bestehen kann. Das sondert er aus und pflegt es so wie Eugenie (Anm.: Köchin im Konvent der Oblaten des hl. Franz v. Sales) die Pflaumen aussondert, die sich nicht konservieren lassen, um daraus Konfitüre zu machen… Das ist unser Fall. Wundern wir uns also nicht, wenn wir uns nicht vollkommen und hervorragend finden. Gott nimmt Rücksicht auf uns.
Die Vollkommenheit, die wir in uns vermissen, dürfen wir aber auch bei jedem unserer Patres nicht finden wollen. Stellt euch eine Zusammenkunft von Pfarrern bei Tisch oder bei einer Konferenz vor. Hört, was sie sich erzählen. Was sie sagen, hat Hand und Fuß, das versichere ich euch. Sie haben sicher ebenso viele Fähigkeiten wie wir. Ich gehe noch weiter, sie haben sogar mehr Herz und mehr Liebe als wir. Sie sticheln einander nicht wie wir, sind weitherziger in der Beurteilung des Nächsten. Habt ihr das nicht schon selbst erfahren? Machen wir es ihnen nach. Wundern wir uns doch nicht, dass wir gegeneinander viel Liebe zu betätigen haben, wir sind nun einmal alle Eigenwesen, Originale… Mögen die Schwierigkeiten unseres Charakters und unsere Neigungen noch so groß sein, wir müssen dennoch füreinander eine echte „Liebe der Liebe“ hegen. Wie kommt man soweit? Was ich eben sagte, mag uns bereits als Mittel dienen, die nötigen Hilfsquellen zu entdecken. Lieben wir Gott so wie wir es sollen, d.h. sehen wir in ihm jene, die von Gott geliebt werden und die wir als unsere Brüder schätzen sollen? Nennen wir sie Gott bei unserer Betrachtung und erbitten wir für sie dasselbe wie für uns? Beschränken wir uns nie auf uns allein, besonders nicht beim Beten. Ziehen wir doch die Liebe auf uns herab, indem wir große Anstrengungen machen, die Schwierigkeiten, die wir mit diesem oder jenem Mitbruder haben, zum Verschwinden zu bringen. Nehmen wir sie in unsere Morgenbetrachtung herein mit all ihren Schwierigkeiten. Wer diese Liebe besitzt, verharrt in unserer Gemeinschaft. Wer sie nicht hat, verliert unweigerlich seine Berufung. Ich wiederhole es: Die Liebe ist unser Lebensgesetz. Trappisten und Kartäuser geben uns keinen Anstoß, wenn sie diese delikate Liebe vermissen lassen. Sie sagen gerne, wenn ihr den einen oder anderen Mitbruder lobt: Oh, er hat dafür den Fehler…Er ist nicht besser als die anderen, die anderen stehen ihm in nichts nach… Es ist selten, dass sie nicht so sprechen. Der gute Trappist spricht so und ist dennoch ein heiligmäßiger Mönch. Der Oblate dagegen, der so sprechen würde, wäre nichts weniger als ein Oblate. Diese Feinheit in der Nächstenliebe ist unsere Dienstvorschrift, unser Ausweis. Widmen wir dieser Sache darum große Aufmerksamkeit, halten wir diese Tugend hoch in Ehren. Sollte das zu schwer sein? Nein, der hl. Augustinus lehrt, dass das Gebot der Liebe allen zugänglich ist. Würde ich zu euch sagen, ihr sollt bis ans Ende der Welt gehen und in den Bergwerken Indiens das Gold der Liebe suchen, könntet ihr das schwierig finden. Aber ihr sollt ja bloß in die Tiefen eures Herzens herabsteigen, denn in euch, in eurem Herzen und eurem Willen ist der Mittelpunkt, der Herd, das Feuer dieser Liebe. Wir müssen nur auf diese Flamme blasen. Lieben wir uns daher tief und herzlich. Das Band der Liebe ist auch das Band des Friedens und der Vollkommenheit. Franz v. Sales wollte als Ordensstifter seine Mitglieder nicht durch Gelübde, sondern durch das einzige Gesetz der göttlichen Liebe binden. Die Vollkommenheit wird dadurch garantiert. Die Vollkommenheit wird dadurch garantiert. Denn die Liebe ist die Grundlage der Vollkommenheit. Wo die Liebe herrscht, gibt es keinen Gegensatz. Dieser Gedanke des hl. Franz v. Sales möge durch uns zur Wirklichkeit werden. Machen wir also diese Liebe zum Mitmenschen zu unserem Gesetz.
3. Es gibt noch eine dritte Liebe: Die Liebe der Buße. Im Alten wie im Neuen Bund sehen wir, dass die Liebe die Sünden tilgt. Unsere Seele wird durch sie rein und frei von jeder Beschmutzung. Da wir kaum andere Bußübungen haben, bedienen wir uns der Nächstenliebe, um Buße zu tun. Töten wir uns also ab und fasten wir mit der Rücksicht und dem Blick auf den Nächsten. Das wiegt den Verzicht auf ein Stück Brot durchaus auf. Damit sühnen wir unsere vergangenen Sünden. Wie viele Gedanken und Handlungen gegen unsere Mitmenschen, wie viel mehr oder weniger schuldbare Ungerechtigkeiten haben wir doch begangen! Wieviel Dinge getan oder gewollt, über die wir uns schämen, sodass wir uns vor uns selbst verstecken möchten! All das lässt sich leicht gutmachen. Woher nehmen wir die Sicherheit, dass diese Schuld bereits ganz und absolut getilgt ist? Was bleibt da noch alles übrig fürs Fegefeuer? Warum nicht von diesem günstigen Umstand profitieren, den uns die Übung der Nächstenliebe bietet, die gleichzeitig so hervorragend die Rolle der Buße erfüllt? Ihr seid versucht, gegen einen eurer Mitbrüder ein Wort auszustoßen, unter dem Impuls einer schlechten Gefühlserregung: Warum haltet ihr euch bei solch einem bösen Eindruck auf? Denkt doch daran, dass ihr durch das Opfer dieser Überwindung die Verzeihung der vergangenen Fehler erlangt, all der schuldhaften Gedanken, die Gott beleidigt haben. Wir können und sollen uns befleißigen, nach der Aufforderung des hl. Petrus: „Tötet ab eure Herzen in der Liebe des Gehorsams“, unsere Seelen zu reinigen und zu heiligen. Sie macht die Seele rein und keusch, tilgt die Frevel und sühnt sie.
Bei der Prüfung unserer Satzungen war der Konsultor der Kongregation, ein Kapuzinerpater, überrascht, dass wir nicht mehr Bußübungen hatten und sagte: Wenn sie schon selbst keine haben, sollen sie wenigstens die anderen zur Buße mahnen… Und er fügte unseren Satzungen längere Ausführungen hinzu, wie wir dem Nächsten Buße und Entsagung predigen sollen. Versteht ihr diesen Kapuzinerpater? Er will uns damit verpflichten zur Buße und dazu, dass wir sie auf die wirksamste Weise vollziehen, durch die Übung der brüderlichen Liebe. Das Fasten ist gut, aber es sind nur große Kupfermünzen. Die Liebe dagegen ist Geld. Nehmt also dieses Gold und bezahlt damit eure Schulden. Viele Seelen legen, um schneller zur Heiligkeit und Reinheit der Seele zu gelangen, das Gelübde der Nächstenliebe ab. Das erhält die Seele in beständiger Bereitschaft, das lässt sie das Joch spüren und hindert sie, sich der Ungeduld und dem Zorn hinzugeben. Warum sollten wir nicht versuchen, dieses Gelübde auf Zeit, für drei Monate, für sechs Monate zu machen? So denkt man leichter an eine Pflicht, die man sich auferlegt hat, eine Verpflichtung, die man als seine Standespflicht betrachtet. Gehen wir großmütig und mit ganzem Herzen daran! Wir haben keine vollkommenere Buße als diese, und Buße ist unbedingt nötig, oder wir gehen alle zugrunde. Wenn unser Novizenmeister in diesem Punkt strenger würde, täte er gut daran.
Bitten wir um die Gnade, die Liebe zu üben, durch die Vermittlung der Guten Mutter Maria Salesia, denn sie hat die Nächstenliebe auf eine so vollendete, umfassende und tröstliche Weise geübt.