Exerzitienvorträge 1887

      

4. Vortrag: Gewissenserforschung

Ich empfehle euch sehr, die Exerzitien großmütig fortzusetzen. Ich sehe, Gott sei Dank, keine großen Fehler gegen das Stillschweigen und die sonstige Tagesordnung. Dafür danke ich Gott. Das gibt Hoffnung, dass die Exerzitien gut, ja sehr gut werden. Lassen wir nicht nach und tragen wir energisch die Last dieser Pflicht. Es ist unser einziges Heiligungsmittel, kein anderes. Heute Abend, liebe Freunde, will ich ein paar Worte über die Gewissenserforschung sagen.

Unser hl. Stifter rät, dass der erste Exerzitientag und ein Teil des Zweiten dazu dienen sollen, uns Gott wieder nahezubringen, um festzustellen, wieviel er uns bedeutet, damit wir wieder mit ihm ganz intim werden. Das haben wir in unseren ersten Vorträgen getan. Er sagt weiter, wir sollten mit der Reinigung der Seele fortfahren, indem wir die Sünde ausmerzen. Dies geschieht, indem wir eine Untersuchung derselben eintreten und so Klarheit gewinnen über  unseren Seelenzustand. Wir sind in Punkto Gewissen und Beichten zu sehr Gewohnheitsmenschen. Wir beichten wie wir es zur ersten hl. Kommunion gemacht haben und dann im Internat fortgeführt haben. Man erforscht sich über die Gebote Gottes und der Kirche, über die Hauptsünden. An unsere Standespflichten denken wir kaum. Unsere Beichten drehen sich immer in diesem Kreis. Genügt das aber? Nein, denn unsere Beichten verhelfen uns nicht, uns zur Vollkommenheit unseres Standes zu führen. Ganz und gar nicht. Als wir Ordensleute und Priester wurden, nahmen auch unsere Verpflichtungen zu. Sie wurden nicht nur strenger, sondern auch zahlreicher. Die Pflichten von Priestern und Ordensleuten sind nun einmal größer und schwerer als die der Laien.

So müssen unsere Gewissensforschungen die Pflichten des klösterlichen Lebens zum Gegenstand haben. Gewiss finden wir nicht viele Verstöße gegen die Gebote Gottes und der Kirche. Fast alle Verfehlungen richten sich gegen unseren Stand, und diese Verpflichtungen sind im Lichte des Glaubens ebenso rigoros wie die Gebote Gottes. Die Tatsache, die Resultate beweisen es. Haben sie doch häufig viel schwer wiegende Konsequenzen. Der hl. Johannes sagt: „Wenn wir sagen, dass wir sündigen, so stehen wir in der Gerechtigkeit Gottes. Sagen wir aber, wir seien ohne Sünde, lügen wir und täuschen wir uns selbst. Gestehen wir unsere Sünden ein, dann fällen wir über uns ein Urteil, das dem Urteil Gottes über uns gleicht. Möge das Urteil, das wir über uns aussprechen, folglich großmütig, freimütig und ehrlich sein, wenn anders es dem Urteil Gottes ebenbürtig sein will.“

Im Allgemeinen fassen wir uns selbst recht zart an, wir, die wir beim geringsten Übel (Schmerz, Leid), das wir bei uns feststellen, so erschrecken und unruhig werden. Uns selbst dagegen umgeben wir mit einer unvergleichlichen Art des Wohlwollens. Wir sind eben nicht wahrhaftig und ehrlich. „Jeder Mensch ist ein Lügner.“ Wir machen uns selbst etwas vor. Gewiss, handelt es sich um einen ganz offenkundigen Verstoß, so können wir uns keiner Illusion hingeben. Doch in wie viele Fehler, Vergehen und Armseligkeiten fallen wir bewusst und gewollt, ohne dass wir den Beweggrund erforschen oder unseren Gewissenszustand nach der Tat prüfen, die Gedanken und Neigungen, aus denen heraus wir gegen unser Gewissen gelogen haben. Mögen wir auch uns selbst täuschen, Gott täuschen wir nicht. Unser Urteil muss also ebenso tief dringen wie das Urteil Gottes. Richten müssen wir uns unter dem Lichte Gottes, mit den „Messgewichten des Heiligtums“. Wie viele Sünden, Verstöße gegen unsere Pflichten im Allgemeinen, gegen jene, die mit jedem Tag wechseln, gegen unsere Ämter, gegen die Liebe, gegen Anstand und Schicklichkeit, Worte der Doppelzüngigkeit und Unwahrheit… Fehler, die nicht genau zu fassen sind, die aber doch in unserem Herzen leben, zu unserem „Wesensgrund“ gehören. Was folgt daraus? Man lässt es in der Seele wachsen und wuchern, wie der Staub, der in das Uhrgehäuse eindringt. Die Uhr ist gut, Zeiger, Räder, Federn sind in Ordnung. Und doch bleibt die Uhr stehen, die winzigen Staubkörner haben eine Störung verursacht, die dem Fehlen eines wichtigen Rades gleichkommt.

Ich spreche nicht von jenen, die die anderen, ihren Novizenmeister oder Beichtvater zu täuschen suchen, denn das wäre abscheulich. Nein, sondern wir täuschen uns selbst, setzen uns selbst in den Zustand der Unschuld und Reinheit, eines guten Glaubens, den Gott nicht teilt. Gehen wir von dem Grundsatz aus, dass wir alle dazu neigen, uns rein zu waschen, uns besser zu behandeln als die anderen, unsere Gedanken, Taten und Absichten gut zu finden. Während der Exerzitien tut es also unbedingt not, gerade darauf zurückzukommen, alles durch einen Sieb zu schütten, um das Gute vom Schlechten zu sondern.

Lasst gleich jetzt mit der Gewissensprüfung beginnen und betrachten wir im Lichte Gottes jede einzelne unserer Schwächen, Neigungen und Fehler, unseren Hauptfehler. Welch reicher Stoff zur Erforschung! Von daher kommen die meisten unserer Sünden, Vergehen und Täuschungsmanöver. Ich sage die Wahrheit: Wir sind unehrlich gegen uns selbst, führen unsere Seele hinters Licht und verführen sie. Wollt ihr mit der Wahrheit in Einklang kommen? Dann beurteilt euch ehrlich! Sobald ihr das tut, ist euch schon verziehen. Beurteilt ihr euch aber nicht richtig, so fügt ihr zu euren übrigen Fehlern noch den der Täuschung. Gott richtet und beurteilt uns nicht mit Strenge, aber mit Genauigkeit. Bei ihm wird alles gewogen mit den „Maßen des Heiligtums“. Er täuscht sich nicht. Was leicht ist, findet er leicht, was schwer ist, schwer. Fasst euch ein Herz, euer Gewissen so zu erforschen, wie Gott es tut. Prüft euch im Hinblick auf die Ordenspflichten, eure Beziehung zu den Schülern, zu Weltmenschen, zu euren Ämtern, euren Beichten: „Im Lichtglanz werde ich nach Jerusalem kommen“, sagt der Herr durch den Propheten, d.h., ich zünde die Fackel des Glaubens in ihrer Seele an, damit sie bis auf deren Grund sehen, bis zu den letzten Winkeln ihres Herzens. Nutzen wir dieses Licht. Wer steigt denn sonst schon bis da hinunter? Für eine gute Einkehr ist die Prüfung der Fundamente unumgänglich. Übertünchung taugt nichts… Wollt ihr eine alte Mauer reparieren, müsst ihr sie zuerst abreißen. Um eine Krankheit zu heilen, helfen Beruhigungsmittel nichts. Das Übel muss mit der Wurzel ausgerottet werden.

Das also ist die erste Gewissenserforschung, die vorzunehmen ist, aber nicht die einzige. Denn ich kenne keine wirklich religiöse Seele, die keinen prüfenden Blick auf die Gnaden wirft, mit denen Gott sie überhäuft hat. Dieses Examen soll euch nicht seltsam dünken. Wenn zwei Freunde sich wirklich lieben, verletzt das geringste Zeichen von Missachtung das Herz lebhaft. Unser Herz gleicht dem Herzen Gottes. Gott schenkte uns viele Gnaden seit unserer Geburt. Er gab uns mehr als irgendjemand anders. Lest beim hl. Thomas nach, was er über den Ordensberuf sagt. Jawohl, meine Freunde, mit all seiner Macht kann euch Gott keine größere Gnadengunst erwiesen als mit der Gabe des Ordensberufes. Und alles, was uns durch den Kanal des Ordenslebens zufließt, in der Betrachtung, der hl. Messe, beim Offizium, die 1.000 Unterstützungen, die euer leibliches wie geistliches Leben umgeben. – Zählt, wenn ihr könnt, diese Gnaden, die Gott euch Tag für Tag zuteilt! Wie viele Untreue, Fehler, Sünden, Unterlassungen! „Aber, Herr Pater, das geht zu weit, wohin wollen Sie uns führen?“ Nun, zur Wahrheit. Bittet um die Gnade, das zu verstehen. Warum sind wir denn so untreu, so „töricht“, wie der Apostel sagt? Fehlt uns etwa die Gnade? Warum kommen wir nicht ans Ziel? Das kommt nicht von den Sünden, die wir begehen, nicht einmal von den großen Sünden, die wir begehen, nicht einmal von den großen Sünden. Gefiele es doch Gott, dass wir solche begingen! Die Scham, die daraus erwüchse, würde uns aus diesem Zustand herausreißen.

Ihr habt jeden Tag alles in der Hand, um euch selbst und die anderen zu retten. Wir empfehlen ja nicht nur die Gaben Gottes, sondern ihn selbst. Er ist unser „Eigentum“, wir „handhaben“ ihn nach Belieben. Wir aber erstatten ihm nichts dafür, nicht Dankbarkeit, nicht Treue. Und nun klagt auch noch, eure Seele sei ausgedörrt und siech. Würdet ihr euren besten Freund so behandeln wie Gott, hättet ihr seine Freundschaft schnell verloren. Dieser Teil der Selbstprüfung ist also von äußerster Wichtigkeit. Ihr müsst also bis zum Grunde eures Herzens vorstoßen und nachsehen, wie ihr der Liebe Gottes entsprecht und ihm eure Gegenliebe beweist. Macht all das eure Beichte lang? Nein, das kann in wenigen Worten geschehen. Fasst die Situation, so wie sie euch erscheint, zusammen, und das genügt. Gott, dem ihr das Bedauern eures Herzens ausdrückt, sieht eure gute Gesinnung und gibt dem Beichtvater das Licht, euren Seelenzustand hinreichend zu erfassen.

Dafür reichen aber nicht ein paar Minuten der Überlegung. Wir müssen uns Zeit lassen, auch sollen wir unsere Gewissensprüfung mit Liebe und Reue vornehmen. Wir begegnen Gott gewöhnlich nicht wie es sein müsste. Die Belange Gottes behandeln wir wie die Gegenstände unseres Gebrauchs und unserer Arbeit. Die Gaben Gottes schätzen und verstehen wir nicht gebührend. Das Gewissensexamen der Exerzitien erstreckt sich also auf unsere wirklichen, theologischen Verstöße, auf die Fehler gegen unsere Standespflichten. Sodann unterziehen wir einer Prüfung unser Verhältnis zu dem, was wir, wie der hl. Johannes sagt, der göttlichen Liebe, der unendlichen Barmherzigkeit Gottes sind. Sollten wir bei dieser Prüfung unsere enorme Schuldigkeit nicht erkennen, dann befinden wir uns nach dem hl. Bernard in einem Zustand, der umgehend alle Quellen der Gnade zum Vertrocknen bringt und die unheilvollsten Folgen zeitigt. Mögen unsere Herzen für gewöhnlich sorglos und vergesslich sich der Gnaden Gottes nicht erinnern, während der Exerzitien müssen diese Nachlässigkeiten gutgemacht werden.

Zählt einmal nach, meine Freunde, wie viel von den Jungen, die mit euch großgeworden sind, treu geblieben sind. Wie viel selbst von denen, die mit euch studiert haben und in den Klerikerstand eingetreten sind, haben ihren Beruf verloren? Sind sie aber schuldig geworden. Hätten wir dann anders gehandelt, wenn Gott uns nicht mehr Gnaden geschenkt hätte als ihnen? Wären sie aber an unserem Platz gestanden und hätten die gleichen Gnaden erhalten wie wir, hätten sie davon nicht besser profitiert als wir? Gestehen wir das in aller Bescheidenheit und Dankbarkeit!

Ihr wundert euch über die Gnaden, die Gott gewissen Seelen gewährt. Wem gibt er denn Vorzugsgnaden?  Den treuen Seelen, die die Gaben Gottes zu schätzen wissen, die zu danken zu verstehen und den Unterschied erkennen zwischen Gottes Liebe und unserer Erkenntlichkeit. Zweifeln wir nicht daran, dass, wären wir aufmerksamer, wir nicht nur besondere Gnaden, „Gelegenheitsgnaden“ erhielten, sondern sogar bleibende, solche der Einigung mit Gott, die Heilige formt. Wem oder was verdanken denn die Heiligen ihre Treue? Sie haben sich ob ihrer Schwächen gedemütigt und trachteten Gott ihre Dankbarkeit zu beweisen, indem sie mit seinen Gnaden mitwirkten.

Seht nur, wie die Gute Mutter treu Gott dankte für alles, selbst die Heimsuchungen. Eines Tages teilt man ihr mit, dass auch ihre letzte Novizin, die sie erzogen hatte, soeben gestorben war. Das war in den ersten Jahren ihres Aufenthaltes in Troyes. Sie hatte also umsonst gearbeitet. Keine von denen, die sie herangebildet hatte mit so viel Mühe, war am Leben geblieben. Was tut sie? Sie wirft sich gleich auf die Knie und betet: „Mein Gott, ich danke Dir. Heute kann ich sagen, dass du alles, was du getan hast, gut gemacht hast. Ja, mein Herr, du hast recht getan.“

Mögen die hl. Schutzengel und unsere hl. Schutzpatrone euch das rechte Verständnis für diese Dinge vermitteln. Denn wenn wir sie verstehen, sind wir echte Kinder Gottes, sind die Freunde seines Herzens. Für uns gilt das Wort: Euch habe ich geliebt wie meine Freunde, und ich habe zu euch gesagt, was ich nur ganz wenigen geoffenbart habe: alles, was ich von meinem Vater gehört habe, alles, was ich von seiner Liebe zu euch weiß, will ich euch sagen. Ich sage es euch nicht nur, nein, ich vollziehe es zwischen euch und Ihm, damit wir in Ihm eine Einheit werden und dass diese Einheit, die das Ziel der Erlösung ist, für immer Bestand habe.