Exerzitienvorträge 1887

      

10. Vortrag: Bilanz des nächsten Jahres.

Während der ganzen Exerzitien haben wir über unsere Pflichten unterhalten, und ihr müsstet jetzt ein Bild haben von euren Verpflichtungen Gott gegenüber. Ihr konntet euch auch Rechenschaft ablegen über das, was ihr den Seelen in aller Gerechtigkeit und Liebe schuldet. Am Ausgang dieser Tage sollt ihr eurem Mitmenschen die Bilanz eures guten Willens entgegenbringen. Fertigt euch einen detaillierten Denkzettel an, wie die Merkzettel von Maurern. Ich habe nämlich soeben solch einen erhalten, Seite um Seite beschrieben. Erst heißt es Steine kaufen, dann sind sie zu behauen, zu setzen, Mörtel bereiten. Sodann sind die Tage zu bezahlen, während denen gearbeitet wurde, sodass am Fußende der letzten Seiten eine enorme Zahl erscheint. Schaut man sich diese Summe gleich am Anfang schon an, staunt man. Man muss sie sich Posten für Posten zu Gemüte führen, um sie zu verstehen. So möchte ich euch jetzt die Summe im Detail geben.

Ihr habt ja euer Direktorium, eure Gelübde und eure Amtspflichten zu halten. Ja, man muss sich dazu aufraffen, sein Direktorium zu befolgen. Kümmert ihr euch nicht darum, dann erfüllt ihr nicht darum, dann erfüllt ihr nicht einmal den 100., ja den 1000. Teil eurer Schulden und Verpflichtungen. Dann stellt ihr nichts dar, gar nichts. Das ist wahr, in aller Weisheit wahr. Ohne Direktorium geht euch der Geist eures Berufes ab. Das Direktorium soll euch ja führen und leiten, euch die großen Linien eurer Bewegung aufzuzeigen und dazu liefern, oder besser gesagt, den Sinn dieser Bewegung erhellen. Es sollte ganz und ohne Abstriche und Einschränkungen ernst genommen werden. Macht es zum Gegenstand eurer Betrachtung, denkt daran bei der hl. Messe, beim Breviergebet. Man kann es nicht schon beim ersten Anlauf. Dreißigmal muss man es versuchen, bevor man es beherrscht. Ist man aber dann soweit, so ist man in einem Zustand beständiger Gottvereinigung und lebt ununterbrochen, unter der Aktion seiner Gegenwart. Dahin sollten wir kommen nach konsequenten Bemühungen. Hier geht es um eine sehr ernste Verpflichtung, aus der wir nicht ausbrechen dürfen. Es ist schließlich nicht ein Meer zum Austrinken. Große Hilfe findet ihr hierfür, um es noch einmal zu sagen, in der Betrachtung. Betrachtet drei Monate lang darüber. Bald kennt ihr es dann auswendig, vielleicht nicht gedächtnismäßig, aber mit eurem Herzen. Das Direktorium ist ein leichtes Gepäck auf Reisen, tragt es allezeit mit euch, unterwegs, in der Mission. Der Sekretär des Bischofs Mermillod sagte mir: „Franz v. Sales ist der beste Stratege der Spiritualität.“ Er versteht es, seine Feinde zu umzingeln und kampfunfähig zu machen, ohne dass sie es merken. Es umzingelt die Fehler, sie haben nicht einmal die Zeit, es zu bemerken. Glauben wir dem hl. Stifter, den die hl. Kirche zum Kirchenlehrer und Pius IX. zum Unfehlbaren Lehrer erklärt hat. Haltet treu zum Direktorium. Bringt Gott eine Buße dar, wenn ihr es vergessen habt bei einer bestimmten Gelegenheit. Euer ganzes inneres Leben hängt ausnahmslos von ihm ab.

Wenn ein großer Seelenführer, der hl. Vinzenz Ferrer sagen konnte: Man zeige mir einen Menschen, der zwanzigmal am Tag an Gott denkt, dann verpflichte ich mich, ihm einen Ausweis zu geben, mit dem er verdient, im Himmel als großer Heiliger zu gelten, was sollen wir dann denken vom Verdienst eines Menschen, der sein Direktorium treu hält? Gebt dieses Büchlein einem in die Hand, und er wird nichts Besonderes daran finden, wie nichts Herausragendes, Auffälliges und Mitreißendes an ihm erscheint. Und doch ist es das Werk der geschicktesten Strategie des geistlichen Lebens. Hier ist der ganze Franz v. Sales enthalten und jedermann wird euch sagen, dass Franz v. Sales einer der größten Meister des inneren Lebens ist, die je gelebt haben. Zur Stunde machen sich die Seminaristen, die Theologen, die römischen Kongregationen überall zum Echo der Worte des hl. Franz v. Sales und betrachten ihn als Meister, ihren Lehrer und übernehmen seine Art zu reden und zu handeln.

Was ist Franz v. Sales? Er ist das inkardinierte Direktorium. Welche Titel der Heiligkeit hat er aufzuweisen? Das Direktorium. Ich hatte ein markantes Beispiel für den Wert dieser Anleitung: Vierzig Jahre lang hatte ich in der Heimsuchung von Troyes den Beweis aller klösterlichen Tugenden unter den Augen. Wem gebührt das Verdienst dieser Heiligkeit, die so etwas wie eine Schule des Paradieses, ein wahrhaft unvergleichliches Haus daraus machte? Während langer Jahre kannte ich keine einzige Schwester, die dem geringsten Gedanken gegen den Gehorsam hatte. Das sind Tatsachen. Wem ist das zuzuschreiben? Dem Direktorium.

Die Gelübde. Zunächst das des Gehorsams. Heute wird man jedem ein anderes Amt übergeben. Du warst Direktor des Kollegs, ab heute wirst du Studienleiter sein. Gehorche ganz einfach. Wozu schöne Worte über den Gehorsam sagen? Hier ist ein Faktum, eine nackte Zahl, wie Zahlen und Tatsachen eben sind. Vollzieh den Akt des Gehorsams.

Gehorsam… Man sagt dir, zum Kap zu fahren. Man sagt dir, eine leichte, angenehme Situation zu verlassen, und dich unter die Sonne Afrikas verbrennen zu lassen. Tu es in aller Einfachheit: Das ist Gehorsam. Doch es gibt keine schwierigere Sache als nach Afrika zu gehen. Du hältst deinen Unterricht nicht gut, vernachlässigst die Bestimmungen. Du solltest beim 100. Vers der Schullektüre stehen, die du den Schülern zu erklären hast,  und bist erst beim 50. Es ist sicher schwerer, sich in all dem nach den Vorschriften zu richten, in einen vollen, bedingungslosen und peinlich genauen Gehorsam sich einzuordnen, als sich in ein Schiff nach Pella einzuschiffen. Oder man wechselt dein Amt, deinen Posten. Du hattest bisher etwas, was dir gefiel, dir etwas Bewegung und Abwechslung gewährte. Da gibt man dir eine ermüdende, langweilige Studiersaalaufsicht bei Schülern, die nicht parieren, die dir auf die Nerven gehen. Wieder ein Beitrag, den es zu bezahlen gilt. Entschließt man sich nicht großmütig dazu, was folgt daraus? Unsere Phantasie, unser Urteil widerstreben dem Gehorsam. Sie zerstören alles und lähmen den Willen. Der Gehorsam kommt nicht zustande. Der Obere muss euch anderswohin tun. Das ist nicht nur Ungehorsam, das ist Verrat.

Die Armut. Du hast eine Kleinigkeit zu Eigen. Du machst einen kleinen Handel auf. Da stockt alles. Ich will euch ein Beispiel geben, ein weibliches Exempel, ein Beispiel aus dem Frauenkloster. Ich darf darüber sprechen. Es gab in der Heimsuchung eine gewisse Schwester Philomena. Alle fanden es seltsam, sie so pünktlich zu sehen, im Pensionat, eine tüchtige Vorsteherin, jederzeit treu und gehorsam, sie glich in keiner Hinsicht den anderen Nonnen. Eines Tages, als die Gute Mutter das ganze Haus visitierte, fand sie in einer Ecke zwei bis drei Koffer. Sie öffnete sie und findet sie voll von kleinen Seifenstückchen, von Kämmen, Rosenkränzen und tausend Dingen von geringem Wert, die den Pensionatsschülerinnen gehört hatten und die sie gesammelt hatte. All das sammelte sie ohne irgendeine Erlaubnis. Damit war sie nicht mehr arm, nicht mehr Ordensfrau, sondern Besitzerin von Kerzenstummeln und Seifenstücken. Für wen tat sie das? Für ihre kleinen Neffen und Nichten, glaube ich, die sie besuchen sollten, und denen sie mit diesen kleinen Geschenken eine Freude machen wollte.
Beobachten wir treu das Gelübde der Armut. Niemand möge sich erkühnen, das Geringste zu behalten, um daraus Nutzen zu ziehen. Hat einer Erlaubnis, seine Messintention (mit Stipendien) oder andere Kleinigkeiten zu behalten, möge er diese Erlaubnisse (von Zeit zu Zeit) sich erneuern lassen, damit er keinen Eigentumsakt vollziehe, sondern ein gehorsamer und armer Ordensmann bleibe. Behalten wir auch sonst keine kleinen Dinge für uns zurück in bestimmten Ämtern, z.B. in der Sakristei. Man hat eine kleine Kasse für dies und das.  Das hindert uns, Ordensmann zu sein. Dies Verhalten ist nicht ehrlich und loyal. Für das müssen wir unbedingt die Erlaubnis einholen. Aber, das ist doch nichts. Nun, das ist so wenig nichts, dass in der ersten Zeit meiner Tätigkeit in der Heimsuchung, als das Kloster ausschließlich aus äußerst erbaulichen und fähigen Personen bestand, eine beklagenswerte Seele sich auf diesen armutswidrigen Weg begab und dabei blieb. Nun, keine Prüfung, Züchtigung, und Gnadenentzug wurde ihr 10, 20, 30 Jahre hindurch erspart. „Aber, Herr Pater…“ Es gibt kein „Aber, Herr Pater…!“ Du hast das Gelübde der Armut abgelegt, das ist klar und unzweideutig, tu also, was du gelobt hast, ohne Winkelzüge und Ausflüchte. Unser Geist ist so weit und versöhnlich und verlangt kaum körperliche Abtötung, dafür aber geistige. Und er erwartet vor allem, dass du auf eine klare und ehrliche Weise vorgehst.

Die Keuschheit. Ich glaube, darüber genug gesagt zu haben. Ich betone noch einmal, dass es notwendig ist, dass wir hier gute Theologen sind und nicht die hl. Regel unter alle Arten von Aus- und Andeutungen beugen, die die Sache nur verwirren. Das ist entweder so oder es ist nicht so, basta. Haltet euch an die Grundsätze und beurteilt eure Taten und Gedanken und Neigungen klar in diesem Licht. Dieses Gelübde kann nicht ohne gewisse Abtötung betrachtet werden. Man sagt, die Kastanie sei das Sinnbild der Keuschheit. Kastanie kommt aber von „castania“, und die Kastanie ist in der Tat bedeckt mit Stacheln… Die Keuschheit vermeidet auch Dinge, die nicht direkt Sünde sind, die aber dahin tendieren: Die Neigung zur Weichlichkeit, Schwächlichkeit, zum Überfluss an irdischen Dingen. Seid auf der Hut davor. Habt Festigkeit und Hochgemutheit, dass man im Angesicht der Versuchung klar sieht, was erlaubt ist und was nicht, was man also niemals tun darf.

Maßt euch keine Verantwortung an für die Dinge der Gemeinschaft. Macht euch darüber keine Sorgen, und wenn man euch sagt: tut dies…,  so tut es ohne Hintergedanken. Das wird aber nicht gut enden? Umso besser. Ein andermal werdet ihr recht bekommen. Verzichtet auf euer eigenes Urteil. Gott wird eher ein Wunder wirken, als dass er zulässt, dass euch etwas Übles zustößt. Vertraut auf den Gehorsam in euren Ämtern. Unser hl. Stifter lehrt: Macht leidenschaftlich gut, was ihr tut! Je höher ein Mensch steht, umso besser erfüllen seine Diener ihre Verpflichtungen, um ihre zu machen. Jeder möge darum eingedenk sein, dass er in seinen Oberen Gott gehorcht, ebenso in seinen Studien, Klassen und Handarbeiten. Gehorcht nicht sprunghaft, in der Absicht, eine gewisse Zeit im Gehorsam zu verharren, um im nächsten Augenblick daraus auszubrechen. Beständig gehorchen ist sicher eine mühselige Sache, aber darum umso verdienstlicher.

Durch das Direktorium, durch die absolute Abhängigkeit von euren Gelübden, euren Pflichten jedem gegenüber, seid ihr wahre Oblaten. Prüft euch hierüber, damit ihr euch am Ende dieser Einkehr, wenn man euch ein Opfer abverlangt, bereit seid.

Jene, von denen man verlangen wird, was ihnen am wenigsten zusagt, sollen in Jubel ausbrechen, und jene, die man benachteiligt, sollen ein Freudenlied anstimmen. Das sind keine unnützen Arbeiter und sie essen ihr Brot wahrlich nicht in Müßiggang und Feigheit. Der Prophet brach auch auf den Befehl Gottes auf. Da wurde er sehr müde, litt Hunger und Durst. So lässt er sich nieder im so seltenen Schatten eines Baumes in der Wüste, die Juda von Ägypten trennte. Er hat nur den einen Wunsch, zu sterben. Ich habe keine Kraft mehr, weiterzugehen, mein Gott, nimm meine Seele von dieser Welt, ich bin nicht besser als unsere Väter, geselle mich ihnen bei. Und siehe da, ein Engel erscheint und gibt ihm ein unter der Asche gebackenes Brot zu essen. Da weckt ihn der Engel auf. Der Prophet isst noch einmal von dem geheimnisvollen Brot, steht dann auf und wandert bis zum Berg Horeb, wo er der Gottesschau gewürdigt wird und den Willen Gottes erfährt. Das ist auch die Geschichte der Exerzitien. Dasselbe passiert auch euch. Ihr seid müde und mutlos. Während der Einkehrtage habt ihr himmlische Nahrung gereicht bekommen: Brot und Wasser. Steht also auf und vernehmt das Wort Gottes. Steigt auf den Berg und hört den Willen Gottes für dieses ganze Jahr. Möchtet ihr in der göttlichen Speise die Kraft finden für 40 Tage, 40 Monate, ja 40 Jahre, wenn es sein soll. Fiat, fiat!