9. Vortrag: Dem Nächsten entgegenkommen.
Werden wir der Exerzitien nicht müde und überdrüssig! Ich sage es oft: Bewahren wir frohen Mut. Mut brauchen wir zu allem, vor allem bei den Einkehrtagen, wo die Seele leicht erschlafft. Die Atmosphäre der Exerzitien schmeichelt den Sinnen und Neigungen nicht. Halten wir durch bis zum guten Ende, wo wir den Erlöser finden, Jesus, der sich finden lässt, so man ihn aufrichtig und großmütig sucht.
Gestern sprach ich über den Geist, der uns Oblaten beseelen soll. Heute Morgen ein kleines Wort über die Beziehungen, die wir zum Mitmenschen unterhalten sollen. Unser hl. Stifter forderte die Menschen oft auf, dem Nächsten entgegenzukommen, sich ihm anzupassen. Das ist eine hohe Lehre: auf den Nächsten eingehen, nicht alle beherrschen wollen, alle nach seiner Pfeife tanzen lassen, die Geistlichen gleichsam beherrschen wollen, ihm seinen ganz persönlichen Einfluss aufzwingen wollen. Das gilt nicht nur für die Gläubigen und die Ordensfrauen, sondern für die Priester im Besonderen.
Braucht es einen kleinmütigen Charakter, einen schwachen und schlappen Willen, um sich in den gewöhnlichen Dingen des Lebens, in der Unterhaltung und allen Gelegenheiten, wo man gute Dienste erweisen kann, dem Nächsten anpassen zu können? Durchaus nicht. Dieses Herabsteigen zum Mitmenschen, zu seinen Wünschen, seinen Ideen, seinen Annehmlichkeiten ist alles andere als leicht. Das ist die hochherzigste Tat, zu der unser Wille sich aufraffen kann. Hier geht es überdies um Takt, Fingerspitzengefühl und äußerste Höflichkeit. Nur ein wohlerzogener Mensch – und es gab deren ehemals in unserem Land – weiß sich nach dem Mitmenschen zu richten. Der Onkel von Madame Trousset, der verehrte Herr von Belot, war in dieser Hinsicht ein Modell an Entgegenkommen und Dienstfertigkeit. Kam er nach Troyes, so suchte er stets die Gute Mutter auf und unterhielt sich mit ihr über den lieben Gott, was die Gute Mutter so gern hatte. Musste er zum Bischof, so las er vorher die katholischen Zeitungen der letzten Tage durch und stöberte sogar im Konversationslexikon herum, bevor er sich in ein Gespräch mit dem Bischof einließ, das diesen interessieren konnte. So hielt er es mit jedermann, und sprach nicht über das, was ihm lag, sondern was den anderen fesselte. Bei mir plauderte er über Physik und bereitete sich darauf so gut vor, dass es mir vorkam, er verstünde davon mehr als ich. So sieht die Höflichkeit eines Weltmenschen aus, sein Eingehen auf den Mitmenschen. Das ist nicht Liebedienerei, knechtische Gesinnung, im Gegenteil. Das ist auch eine Art, Gutes tun zu können.
Hat nicht der hl. Franz v. Sales als Student in Padua dasselbe getan, indem er sich eine Lebensregel für den Umgang mit Menschen aufstellte? Lest nur nach, was er über die Beziehungen zu den verschiedenen Menschentypen ausführt, wie er fröhlich mit den Fröhlichen, ernst und traurig bei den Traurigen sein will, um diese aufzurichten, zu ermuntern. Lebhaft und aktiv will er sich zeigen bei unternehmungslustigen und aufgeweckten Typen, dagegen gütig und gefällig bei solchen, die langsamen, schwerfälligen Geistes sind. So verstand er es schon im Alter von nur siebzehn Jahre, sich den Menschen anzupassen und meisterlich jenen zweiten Teil des Gebotes zu üben, der dem ersten gleich ist. Das erschien ihm als eine Pflicht, die er sich zurechtlegte mit der gleichen Gewissenhaftigkeit wie er seine Gebete und Pflichten Gott gegenüber. Diese zwei Pflichtenkreise nahmen bei ihm denselben Rang ein. Tun wir desgleichen. Das müsste für uns zur typischen Schattierung unseres Oblatentums werden, die uns von den anderen unterscheidet. Das geschehe natürlich nicht aus Eigenliebe, mit einem Anstrich an Selbstgefälligkeit: dies wäre doch zu ungeschickt und unpassend in jeder Hinsicht. Wir müssen verstehen, inwiefern der Gottesliebe wie der Nächstenliebe die gleiche Bedeutung zukommt und beide ernst genommen werden wollen.
Zur Erfüllung dieser beiden Pflichten bedarf es eines gesunden Urteils, und das können wir nur von Gott erbeten. Unserer Zeit fehlt es oft an diesem gesunden Urteil: „Die Zahl der Toren ist unbegrenzt.“ Das sagte Salomon im Buch der Weisheit schon vor sehr langer Zeit. Ich weiß nicht, ob seitdem die Zahl der Toren sich vermindert hat.
Der Mangel an gutem und praktischem Urteil fällt oft auf. Man lebt ja umgeben von dieser Atmosphäre fehlenden Urteilsvermögens, und schließlich gleicht man sich den anderen an. Denn alles, was uns umgibt, färbt auf uns ab. Hüten wir uns vor dieser schlechten Luft, die durch Poren unserer Haut eindringen möchte.
Betrachtet nur die Menschen früherer Zeiten, den früheren Klerus. Seht den Domherrn Leclerc an. Wenn man sich mit ihm unterhält, weiß man wirklich nicht, welche gute Eigenschaft ihm abgeht, und gleichzeitig ist nichts mehr angenehmer als dieser Umgang mit ihm. Er ist das Entgegenkommen in Person. Und doch fehlen da nicht jene kleine Bemerkungen angenehmen und lieblingswürdigen Schalkes, die die Unterhaltung würzen und den Gesprächspartner gewinnen.
Wenn man sich ein bisschen Überwacht, kann man etwas von diesen schönen und liebenswürdigen Eigenschaften, so man darum bittet, erwerben: Übung macht den Meister. Das sollte unsere Art sein, mit den Menschen umzugehen. Besonders unsere jungen Mitbrüder mögen sich das angelegen sein lassen, in dieses Formeisen, in dieses Räderwerk sich einzufügen. Aber auch die anderen sollen sich überwachen, um in ihren Beziehungen zum Mitmenschen auf seine Eigenart Rücksicht zu nehmen. Ich möchte euch dies zu einer strengen Regel ohne Ausnahme machen. Vergessen wir nie, dass es sich hier um eine regelrechte Vorschrift unserer Observanz handelt. Konzentrieren wir uns auf diesen Punkt die ganze Aufmerksamkeit unseres Gewissens. Überwachen wir uns gut, und sobald wir dagegen gefehlt haben, halten wir inne in diesem Fehverhalten gegenüber dem Mitmenschen. Wahren wir auch unseren Vorgesetzten gegenüber große Achtung. Grüßt einander, wenn ihr euch begegnet und tut das in aller Einfachheit und mit Wohlwollen.
Bezeugt auch in der Seelenführung dem Nächsten dieses Eingehen auf seine Bedürfnisse. Löscht den Geist nicht aus: hütet euch, den Geist Gottes, dort, wo er ist, zum Verlöschen zu bringen. Ihr sollt ja Zeugen der Aktion Gottes in den Seelen sein, nicht die Urheber. Nicht manipulieren dürfen wir die Seelen noch die willig oder mit Gewalt in unsere Ideen oder Systeme hineinzwängen.
Da würden wir Tadel verdienen. Das würde unseren Seelen nicht nützen aber auch der unsrigen schaden, wollten wir sie an unsere Vorstellung binden, an unsere Gewohnheit zu urteilen, ketten. Gott wäre dann sicher nicht mit uns. Vielmehr müssen wir uns zum Nächsten herablassen: nur unterstützen sollen wir das Wehen des hl. Geistes, und nicht dirigieren.
Neigen wir uns also zum Nächsten herab, damit er sich glücklich in seiner Lage fühle. In dieser Hinsicht erkläre ich vielen Beichtvätern den Krieg und bin ihnen böse, weil sie das Ansehen missbrauchen, das Gott ihnen anvertraut hat.
Eine Frau tritt in den Beichtstuhl: natürlich hat nur ihr Mann Unrecht, und nicht der Beichtvater – er ergreift ihre Partei gegen diesen. Ein Kind beklagt sich über Vater und Mutter und findet die Unterstützung des Beichtvaters… Ein Ordensmann beschwert sich über seinen Vorgesetzten, eine Nonne über ihre Oberin. Man ermuntert sie zu weiterem Widerstand. Ist das nicht schrecklich? Versteht doch die Weisungen Gottes und der Kirche und vergreift euch nicht an der Autorität, die Gott in die weltliche und geistliche Familie gelegt hat. Fördert niemals das Kind, das junge Mädchen, die Gattin, in der Verachtung jener, deren Autorität sie respektieren sollten. Dahin führt aber diese Ermunterung zum Widerstand, dieses Öl, das man ins Feuer gießt. Beruhigt und besänftigt vielmehr, entschuldigt das Unrecht der Autorität, wenn sie eins begangen hat. Heilt die verwundeten Herzen und führt sie zurück zur Beobachtung des vierten Gebotes Gottes. Gott mahnt zur Ehrfurcht, und ihr wollt das Gegenteil tun?
So sollte auch in einer Ordensgemeinde die Autorität immer ihr Recht behalten wie in der Familie der Gatte und Vater. Damit will ich gewiss nicht sagen, sie hätten tatsächlich recht und man müsse ihre Ungerechtigkeit billigen. Doch die Autorität steht auf ihrer Seite, und zwar üben sie diese auf Anordnung Gottes aus. Darum auch die Ehrfurcht. Gegen das wirklich Böse müsst ihr freilich euer Beichtkind feien. Was aber nicht böse ist, da fördert die Ehrfurcht und den Gehorsam. Man würde sich große Schuld aufladen, würde man von einer augenblicklichen miesen Gelegenheit profitieren wollen, von einem unausgewogenen Gleichgewicht, um sich einzumischen und Partei zu ergreifen gegen die legitime Autorität.
Der Beichtvater der Heimsuchung rät z.B. seiner Pönitentin: „Sie müssen große Bußwerke verrichten, Sie haben einen inneren Zug dafür, dem Sie folgen müssen…“ Die Oberin sagt aber das Gegenteil. Fragt sie nun die Schwester, erhält sie zur Antwort: „Würdige Mutter, ich soll Ihnen das nicht sagen.“ Die Schwester kann eine Heilige sein, doch ihr Seelenführer war keiner, als er diesen Rat gab.
Ihr hört die Beichte einer Vinzentinerin: Gebt ihr nicht das Direktorium zur Befolgung! Gewiss könnt ihr sie ermuntern, daraus einige Gedanken zu nehmen. Macht das aber nicht zu einer Pflicht. Die Vinzentinerin folgt den Armeen auf dem Schlachtfeld, sammelt die Verwundeten und liebt den hl. Vinzenz von Paul. Wenn ihr nun zu Vinzentinerinnen sprecht, so tut das wie der hl. Vinzenz, tretet gleichsam an seine Stelle und handelt auf eine Art und Weise, wo ihr den Seelen Gutes tun und das Werk Gottes vollbringen könnt. Nutzt eure Fähigkeiten aus, um ein bisschen euren Einfluss geltend zu machen über eure Person hinaus, wenn das Wohl des Nächsten dies erfordert. Aber verweilt immer unter dem Hauch des hl. Geistes. Versteht wohl, dass eure Pflicht, eure Lebensregel, euer Geist darin bestehen soll, euch zum Diener der Mitmenschen zu machen. Jedes Mal, wenn wir diese Verhaltensweise außer Acht lassen, leisten wir schlechte Arbeit. Das ist „Eigenbau“, persönliches Interesse. Wir bringen unser Tun in Beziehung zu uns selbst und nicht zu Gott. Beurteilen wir die anderen nicht nach unserem Charakter, sondern nach dem Ihrigen. Da sind Schafe, die Hungers sterben: welche Nahrung wollt ihr ihnen geben? Eine, die euch schmeckt? Nein, sondern eine, die sie brauchen. Gebt ihnen frisches Gras von der Wiese, obwohl euch selbst ein Haufe Kuchen besser dünken würde.
Richtet euch nach dem Mitmenschen auch bei euren Predigten und Unterweisungen. Immer heißt es die zu berücksichtigen, zu denen wir sprechen, das Verständnis derer im Auge haben, die uns zuhören, wessen sie bedürfen, was sie aufklären und ermutigen kann. Es war einstens Gewohnheit der Kanzelprediger, mit dem Fuß zu stampfen und zu poltern. Das ist sehr schön und gut, mitunter sogar notwendig: Betrachtet nur dem hl. Chrysostomos bei seinen Homilien gegen die Kaiserin Eudoxia. Hütet euch aber wohl, bei einer Einzelheit minderer Wichtigkeit zu schimpfen und Vorwürfe zu machen. Im Gegenteil: Ermutigt und stützt die Schwachen! Liebt eure Zuhörer, wenn ihr predigt und diese Liebe wird euch einflüstern, was ihnen sagen sollt. Nehmt Kontakt auf zu dem Urteil eurer Nächsten: „Gib mir die Weisheit zur Begleiterin.“
Erbittet von Gott die passenden Worte und Urteil, damit ihr nicht in allem, was ihr nicht in allem, was ihr tut und sagt, am Nächsten und über seinen Kopf hinweg vorbeiagiert.
Noch ein kurzes Wort zu den Lehrern und Leitern unserer Schulen. Lasst euch auf das Niveau eurer Schüler herab, zwar nicht so, dass ihr euch von ihnen führen lasst, aber doch so, dass ihr ihre Charakterveranlagung ins Visier nehmt, um sie da zu fassen, wo sie ansprechbar sind, indem ihr ihre Gemütsverfassung, ihren Geschmack und ihre Erziehung berücksichtigt. Davon heißt es ausgehen, um etwas aus ihnen zu machen. Ein Schüler hat immer etwas Gutes an sich. An diesem Punkt müsst ihr einhaken. Könnt ihr sie nicht am Fuß des Altares packen, d.h., er ist nicht religiös, könnt ihr es vielleicht bei seinen Spielen oder seinen Ideen versuchen. Eines Tages könnt ihr ihn vielleicht in einer Pein und Widerwärtigkeit gewinnen. Geht und sucht also den empfindlichen Punkt und rührt ihn da mit zarter Hand an. Macht nicht den Eindruck, ihr wolltet seine Freiheit beschneiden und ihn an irgendeiner Weise zu etwas zwingen.
Soll man auch die Bösartigen lieben? Unser hl. Stifter jedenfalls tat es, und in unserer Zeit ist dies mehr denn je gegeben.
Oder haben nicht auch sie eine von Jesu Blut erlöste Seele? Steigt der Herr, diese Seele zu retten und zu nähren, nicht soweit hernieder, bis man ihn antrifft? Er wirft ihm seine Eucharistie nicht ins Gesicht mit den Worten: „Nimm und iss!“ sondern geht ihm entgegen. „Herablassung“ meint genau das. Zu den Seelen herabsteigen, um sie von der Erde aufzuheben und zu unserem Herrn empor zu tragen. Den Eigenwillen zurückdämmen, hinuntergehen soweit wir können, um den Willen der anderen zu nehmen und ihn zu Gott emporzuheben.
Zwei Jünger gingen am Osterabend nach Emmaus. Sie waren traurig und unzufrieden und murrten: Jesus tut, wie er gesagt hatte. Sie waren darauf nicht gefasst.
Aber hatte er nicht schon vorausgesagt, er werde auferstehen? Und nun ist über all dem schon der dritte Tag angebrochen, und von der Auferstehung war nichts zu sehen. Sie übten beide Kritik. Da gesellt sich unser Herr zu ihnen und lässt sich sofort ins Gespräch ein: „Welche Reden führt ihr da? Ihr seht so traurig drein. Was gibt es denn?“ – „Ihr müsst aber fremd sein, dass ihr von dem großen Ereignis nichts wisst?“ – „Von welchem denn?“ – „Von Jesus von Nazareth, der ein großer Prophet war und nun tot ist. Er hatte versprochen, er werde am dritten Tage auferstehen. Frauen waren zwar gekommen, uns zu erzählen, sie hätten an seinem Grab Engelerscheinungen gehabt. Kann man aber Frauen Glauben schenken? …“
Was tut unser Herr? „O was seid ihr langsamen Geistes!“ Und ohne sie zu schimpfen, erklärt er ihnen, warum der Christus leiden und sterben musste, um so in seine Herrlichkeit einzugehen. Die zwei hören ihm zu und sagen nichts, auch nicht: „Du hast recht.“ Sie gleichen Schülern, die sich überzeugen und rühren lassen, es aber nicht zugeben wollen. Als er jedoch weitergehen will, bestehen sie auf seinem Bleiben. Erst will er nicht auf sie hören. Da halten sie ihn am Ärmel fest: Sie zwingen ihn zu bleiben. Der Friede ist wieder hergestellt.
Zwischen uns und unseren Schülern klafft keine größere Kluft als zwischen den Emmausjüngern und dem Herrn.
Bittet den lieben Gott um Einsicht und Weisheit und das notwendige Urteil, damit auch ihr euch den Menschen annähern könnt und so wahre Söhne des hl. Franz v. Sales werdet, indem ihr euch den Mitmenschen anpasst.