10. Vortrag: Neuauflage des Evangeliums: Gebet und Arbeit.
Macht euch nicht zu müde während dieser hl. Tage. Geht herzhaft von einer Übung zur anderen. Vergesst nicht, dass ihr die hl. Exerzitien im Verein mit der ganzen Schöpfung, mit der hl. Kirche und in Vereinigung mit euren Mitbrüdern macht, die vor ihrer Einkleidung oder Gelübdeablegung stehen.
Die Gute Mutter sagte gern, wir sollten das Evangelium neu auflegen, neu herausgeben. Diesem Ausdruck wollen wir einen weiten Sinn geben: die Frohbotschaft neu aufleben lassen in unseren Herzen und in der ganzen Welt.
Um das Evangelium neu herauszugeben, muss man es aber kennen. Was man nicht kennt, kann man nicht drucken. So, z.B., wenn ihr das Evangelium nach Johannes neu herausgeben müsstet: den Anfang wüsstet ihr auswendig. Aber alles andere? Während unserer Studien lernten wir jeden Tag einige Verse auswendig. So merkte man sich einen guten Teil des Evangeliums. Das Evangelium also müssen wir kennen. Unsere hl. Regel verpflichtet uns, täglich im Neuen Testament zu lesen. Seien wir darin treu und lesen wir aufmerksam, damit wir verstehen und behalten.
Man fragte Bousset nach dem besten Kommentar zum Evangelium. Es gab keine Antwort. „Welchen gebrauchen Sie?“ fragte man weiter. Seine Antwort: „Ich lese es ein zweites Mal durch, ein drittes Mal, ein viertes Mal.“ Darum also gebrauchte er es in seinen Kanzelreden so geschickt, weil er es durch und durch kannte.
Um das Evangelium neu herauszugeben, muss man es zunächst durchlesen und zwar gründlich. Es soll keine zerstreute Lektüre sein oder nur eine fromme, sondern eine ganz aufmerksame, mit großer „Salbung“ durchtränkte (mit dem Herzen gelesenen), wie wenn man es aus dem Munde Jesu selbst hörte. Sodann sucht den Sinn gut zu verstehen.
Dennoch empfehle ich euch, die bekanntesten Kommentare zu gebrauchen. Ein guter Erklärer liefert uns ja den Schlüssel zur Methode, wie man die hl. Schrift verstehen und auslegen soll. In unseren hiesigen Vorlesungen bietet man die Exegese der Hl. Schrift in ihrem natürlichen, übernatürlichen und angepassten (vergleichenden) Sinn interpretiert an. Es wird notwendig sein, dass wir in einiger Zeit einen Kurs über die Hl. Schrift abhalten. Die Protestanten studieren die Hl. Schrift sehr aufmerksam. Die Juden tun es mit Hilfe ihres Talmuds. Es bedarf vertiefter Kenntnisse, Betrachtungen und Studien, um sich klar zu werden über den Sinn der Hl. Schrift.
Wählt einen kurzen, klaren, verständlichen und wenigstens frommen Kommentar, wenn er nicht gar von einem Heiligen stammt. Denn die Heiligkeit gibt den wahren Sinn der Schrift am besten wieder. Ein Gelehrter ermöglicht es, keinen Irrtum im Dogma herauszulesen. Seine Wissenschaft erleuchtet. Ist er aber nicht heilig, dann erwärmt er nicht. Andererseits genügt für Oblaten allein die affektive und fromme Lektüre, ihr braucht echte Wissenschaft. Lest die Hl. Schrift wie unser Herr sie eingegeben, der Hl. Geist sie diktiert hat, in ihrem natürlichen und vernunftgemäßem Sinn: Unser Herr sagt, man solle 77mal verzeihen. Tut das also! Man müsse sich in der Vorsehung anvertrauen wie die Vögel des Himmels: ahmt sie nach in diesem Vertrauen. Taucht ein Hindernis auf, bedenkt, dass es gerade davon kommt, dass man sich nicht in der vom Herrn verlangten Verfassung befindet, dass man nicht begonnen hat, den Willen Gottes über uns auszuführen. Suchen wir bereits jetzt das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit. Alles Übrige wird uns dazugegeben werden im Maß unserer Notwendigkeiten.
Alle großen Bibelerklärer, Bousset an der Spitze, sagen, die beste Art und Weise, die hl. Schrift gut auszulegen sei, die Worte so zu nehmen, wie sie aus dem Mund unseres Herrn hervorgingen, und sie so zu verstehen, wie er es von seinen Zuhörern erwartet.
Nährt euch von der Hl. Schrift. Lest sie langsam durch, drei oder vier, vier oder fünf Verse auf einmal. Haltet dann inne, lasst sie in euch eindringen und erbittet von Gott die nötige Einsicht. Ihr habt sie so oft gelesen und es will euch dünken, sie habe keine Wirkung hervorgebracht. Betet, und ihr werdet überrascht sein, wie viel ihr in den Worten der Hl. Schrift entdecken werdet.
Die Gold- und Silbergräber müssen erst mühsam Schichten weniger wertvoller Metalle entfernen. Sie sprengen Felsen, waschen den Schlamm der Flüsse: nur so gelangen sie an die silberhaltigen Schichten, die Goldkörnchen, die hundert und tausend Mal kostbarer sind als die Mühen, die sie sich gaben. Viele andere Menschen, zahlreiche Hirten zogen mit ihren Herden, ohne etwas zu ahnen. Hätte man nicht erst die obere Kruste weggekratzt, so wäre man nie auf Besseres gestoßen. Sobald ihr einige Verse der Hl. Schrift verstanden und verkostet habt, tut sich eine offene Goldader vor euch auf und ihr entdeckt im Feuer geläutertes Gold, wie es aus einem Schmelztiegel hervorgeht, wie die Geheime Offenbarung sagt.
Wenn das Evangelium uns bis heute nichts gesagt hat, dann habt ihr eben diese Goldmine nicht entdeckt. Benutzt darum das Gebet, und Gott wird euch den Schlüssel dafür liefern. Hebt die Hindernisse hinweg, dann findet ihr eine immens reiche Ader von Licht und Trost, Stoff genug für eure religiösen Unterweisungen. Nie werdet ihr den Seelen in Wahrheit etwas geben ohne das Evangelium.
Die Gute Mutter liebte das Evangelium. Während der Exerzitien las sie das des hl. Johannes wieder durch. Darin fand sie Gott, das Licht. Lange dachte sie darüber nach und hatte Eingebungen einer sehr tiefen Theologie. Professor Chevalier sagte mir manches Mal: „Was sie äußert, könnten wir nicht sagen. Wir können solche Dinge nur ahnen!“ Um das Evangelium zu verstehen, genügt es freilich nicht, es nur zu lesen. Man muss es in die Tat umsetzen.
Die Frohbotschaft ist die schriftlich niedergelegte Geschichte des Wortes Gottes, das auf Erden unter den Menschen erscheint. Und von diesem so verstandenen Wort sollen wir unter unseren Mitmenschen die Neuauflage besorgen durch Gebet, Arbeit, Bekehrung der Völker, durch das Opfer: im Ganzen also vier Punkte:
1. Das Gebet: Er verbrachte die Nacht im inneren Sprechen mit Gott. Betrachtet den Ausdruck! Was ist das für ein „Gebet Gottes“, das die ganze Nacht währt?
Es ist das fleischgewordene Wort. In seinem unendlichen Sein ist es Gott, seinem Vater, gleich. Als Mensch freilich steht es unter Gott, und durch das Gebet erhebt es sich über die Erde und vereinigt sich mit Gott. Er zeigt uns, wie wir unsere Menschheit über die Erde erheben müssen, um sie mit Gott zu verbinden. Die Menschheit braucht also das Beten, nur so steigt sie zum Unendlichen empor, ohne das ist sie nichts. Das betende Wort Gottes muss unser Vorbild sein. Unser Leben und Wollen muss im Einklang stehen mit dem seinigen, sein Beten ist Maß und Modell des unsrigen. So betet die Gute Mutter, so sollten auch die Oblaten beten. Das hat zur Folge, dass das Herz, ja der ganze Mensch sich zu Gott emporschwingt und sich ihm übergibt, ohne irgendetwas auszunehmen, wie sich in unserem Herzen die menschliche Natur aufs Innigste mit der göttlichen Natur vereinigte. Wollen und Handeln seiner menschlichen Natur bildeten eine Einheit mit dem göttlichen Wollen und Tun.
Möge also alles, was von uns kommt, durch das Gebet hindurchgehen und verschmelzen in die Vereinigung mit Gott und in die Auslieferung an seine Liebe. Dann kann man auch von uns sagen: „Er verbrachte die Nacht im inneren Sprechen mit Gott.“ Dann wird es in der Tat nicht mehr das Beten eines Menschen sein, sondern Gottes. Nicht mehr wird es von den Grenzen der menschlichen Natur beschränkt sein, sondern Gott selbst und seine Gnade werden dieses Beten in uns bewirken und ihm große Wirksamkeit verleihen, da wir Gott alles, was von uns stammt, übergeben und ausgeliefert haben.
Dieses Gebet muss aber voller Vertrauen und Gottvereinigung erfolgen. Denn ist euer Gebet isoliert und auf euch allein beschränkt, gelangt es nicht zu seinem Ziel. Mit wem betet Jesus zusammen? Er war im Zwiegespräch mit Gott. Mit Gott war er auf das Innigste vereint, war er eins. An wen wandte er sich? An Gott, seinen Vater. Wenden wir uns ebenfalls an Ihn selbst, an unseren Erlöser. Betet niemals, ohne ihm zu sagen: „Mein Herr, da siehst Du meine vergangenen Erbärmlichkeiten, mein ganzes Nichts. Statte mich mit Deiner Gnade und Deiner Liebe aus, dass sie meinem Beten einigen Wert und etwas Inbrunst und Weihe verleihen. Mit Dir allein möchte ich beten.“ Wenn ihr euer „Vater unser“ sprecht, tut es im Verein mit ihm. Ihr fangt an und Er fährt fort…Mit euch zusammen sagt er dann das Amen. Blickt ihn an, während ich es betet, sagt jedes Wort gleichsam Wort für Wort mit ihm. Wie ein kleines Kind versucht, die Worte, die man ihm vorsagt und die man ihm auf die Lippen legen will, zu wiederholen und nach zu lallen. Bleibt also niemals für euch allein, wenn ihr betet, indem ihr diese heilige Zeit in der Nacht des Vergessens und des Elendes verbringt, sondern ruft den Erlöser zu Hilfe.
Auf solche Weise legen wir das Evangelium vom Gebet neu auf, und so wird unser Gebet zur großartigsten und heiligsten Tätigkeit, die wir auf Erden vollbringen können. Aus eigener Kraft vermögen wir uns unmöglich in unserem Beten über die Erde zu erheben.
Wir müssen uns schon an unseren Herrn wenden, die Gedanken unseres Direktoriums zu Hilfe nehmen, die uns fest mit ihm verbinden. Und erleben wir eine Prüfung oder Versuchung, so betrachten wir den Herrn beim nächtlichen Beten. Dann werden wir uns ermutigt und gestützt fühlen. Bemühen wir uns, ihm Schritt für Schritt zu folgen. Das ist nicht sehr erhaben und schwierig. Das kleine Kind, das allein noch nicht gehen kann, streckt die Hand zur Mutter aus. Es betrachtet die Mutter, um sprechen zu lernen, und diese errät und erläutert seinen Gedanken. Ist unser Herr für uns nicht Vater und Mutter? „Die Liebe einer Mutter ist das Maß meiner Liebe.“
Indem wir ganz einfach und praktisch beten, bleiben wir nicht auf uns allein gestellt, sondern handeln wie Jesus Christus im Evangelium: Wir rufen Gott in unsere Seele, rufen Jesus selbst, mit dem wir uns verbinden und den wir nachahmen: Durch unseren Herrn Jesus Christus. Hatte die Gute Mutter nach der Kommunion ihre Danksagung beendet und verließ die Kapelle, so trug sie auf ihrem Antlitz fast himmlischen Glanz. Hatte sie aus eigener Kraft gebetet? Nein, sondern gemeinsam mit unserem Herrn. Sie hatte ihn angesehen und gesagt: „Verrichte Du an meiner statt die Danksagung, ich allein wäre nicht dazu imstande. Mein Wille gehört Dir, Dir ohne Grenzen und Enden. Er möge mit Dir gehen, wohin Du ihn führen willst.“
Betrachtet nur das schöne Gebet, das unser Herr im Ölgarten nach dem Abendmahl spricht. Wie kann es unserem Beten als Modell dienen? Er betete ja, um uns ein Vorbild zu geben, nicht für sich allein: „Mein Vater, ich bitte Dich darum“, sagte er einmal, „nicht für mich, sondern für sie.“
Und zum Beten gesellt sich die Arbeit. Wir müssen ja die Frohbotschaft neu herausgeben, Seite für Seite, ohne eine einzige auszulassen. Nun aber hat unser Herr auf Erden 30 Jahre seines Lebens mit Handarbeiten ausgefüllt. Nicht mit Geistesschaffen gab er sich ab, obwohl er „das Licht war, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt.“ „Ist das nicht der Zimmermann, des Zimmermanns Sohn?“ Die Juden fragten sich: „Woher kennt er die hl. Schriften so gut? Er hat doch nichts studiert, kennt weder Naturwissenschaften noch die Literatur, er ist doch Handarbeiter.“ Aber gerade weil er ein einfacher Arbeiter war und körperlich schaffte, beherrschte er so gut die Sprache der göttlichen Wissenschaft, die menschliche Begriffe hoch übersteigt, die Sprache der Einswerdung mit dem göttlichen Willen. Er hat sich zuerst also mit seinen Händen abgemüht. Gewiss, das können wir ihm nicht nachmachen. Und doch gibt es auch in unserem Leben immer Gelegenheiten, uns körperlich zu betätigen: z.B. eine Bibliothek in Ordnung zu bringen, einen kleinen Handdienst leisten, beim Reinigen und Aufräumen zur Hand gehen. Ihr seid Klassenlehrer. Auch da begegnet euch oft materielle Arbeit. Darum empfehle ich euch angelegentlich, materieller Tätigkeit nicht aus dem Weg zu gehen. Gott hat mit dieser Art von Betätigung eine ganz große Gnade verbunden. Sämtliche Ordensgemeinschaften – das lässt sich nachweisen – brachten große Heilige hervor. Andererseits erlebten sie böse Zeiten, wenn sie den Gnaden nicht entsprachen, die ihnen die Handarbeit eingebracht hatte. Beachtet im Leben der Guten Mutter, mit welcher Erleuchtung der Herr die Wäscherin, Schwester Maria-Donat, würdigte, oder die Schwester Maria-Genofeva, die Gemüse putzte!
In der großen Kartause bei Grenoble suchte ich Pater Retournat auf. „Ich habe jetzt keine Zeit, Sie anzuhören“, sagte er mir. - „Ich wünsche aber, Sie möchten mir Interessantes von Ihren Novizen erzählen.“ – „Ich kann Ihnen gar nichts erzählen, aber auf etwas kann ich Ihr Augenmerk lenken: Sind Sie an der Küche vorbeigegangen?“ – „Ja.“ – „Ist Ihnen dabei nichts aufgefallen?“ – „Nun, man kann nichts Löbliches von Ihrer Küche berichten. Als ich aber zur Tür hereinschaute, erblickte ich einen dermaßen bescheidenen Ordensmann, dass es mich überraschte. Ich ging deshalb vier oder fünf Mal vorbei, um ihn zu sehen.“ – „Das ist in der Tat ein sehr heiligmäßiger Mann. Gott schenkt unserem Koch unvergleichliche Gnaden, während er zu uns Schöngeistern zu sagen scheint: ‚Euch habe ich nichts zu geben. Lebt darum auf eure eigene Rechnung.‘!“
So ruhen also auf der Handarbeit immense Gnaden. Und die Gute Mutter behauptete – und das stellte ich selber fest – sie leiste mehr für die Gemeinschaft, wenn sie mit allen Schwestern Handarbeit verrichte als wenn sie Kapitelvorträge halte. Und das Echo aus der Kommunität: „Man fühlt sich glücklich und empfängt so viel, wenn man mit ihr zusammenarbeitet!“
Tut darum auch ihr gern körperliche Arbeit! Das sage ich so oft den Oblatinnen. Der liebe Gott ist nicht immer der Gott der Betrachtung noch der der Exerzitien. Hingegen hat man immer den der Handarbeit bei sich und handhabt ihn genau so gut wie sein Werk. Ich sähe es gern, wenn sich etwas Handarbeit zu unseren Übungen gesellen würde. Mögen besonders jene, die damit beauftragt sind, davon profitieren. Die anderen können sich ihnen beigesellen, sich geistig mit ihnen verbinden, wenn sie es schon materiell nicht können. Wollen wir also auch diese Seite des Evangeliums neu auflegen, wo Jesus mit seinen Händen schafft, das Holz bearbeitet, mühsam das Brot verdient, um damit die hl. Familie zu ernähren, und gleichzeitig die erhabensten Betrachtungen hält, die jene der Engel und Cherubim weit hinter sich lassen. Dann denken wir daran, dass er unser Vorbild und Musterbeispiel ist, unser Garant für die Gnaden und Erleuchtungen, die uns von oben beschieden sind. Es handelt sich hier ja nicht bloß um einen Engel, sondern um Gott selbst. Lassen wir in uns diese großen Seiten der 30 Lebensjahre unseres Herrn wieder aufleben, während welcher er sein ganzes göttliches Sein der Aufgabe weihte, die Materie zu bearbeiten. Wenn da erbärmliche Wichte daherkommen und die Arbeiter gegen unseren Herrn aufhetzen, und mit ihren abscheulichen Theorien das Volk verdummen wollen – ist das dann nicht eine hässliche Lüge?
Welche Schätze an Glück rauben sie damit der Erde – jenes Glück, das die Handarbeit, die nach Gottes Willen und im Geist des Evangeliums verrichtet wird, auf die Erde brachte!
Diese armseligen Geister bringen die Quellen des wahren Glücks zum Versiegen, Quellen großen Reichtums und Fortschritts. Wie freut es mich, dass der Bischof von Kapstadt an den Hl. Vater schrieb: „Die Oblatenmissionare sind die Männer, die wir brauchen, um den Glauben in unseren Landstrichen einzupflanzen! Sie handeln wie die alten Glaubensboten, indem sie gleichzeitig mit ihren Händen wie mit ihren Zungen unterrichten…“
Unser Herr hatte es nicht nötig, seinen Geist zu bilden, besaß er doch ohne Studium alles Wissen und alle Kenntnisse. Wir hingegen sind beschränkte und unwissende Geister, und das infolge der Erbsünde. Ohne die Sünde wäre unsere Seele wie die der Engel zum Lichte der Wahrheit erwacht und hätte von vornherein den Willen Gottes gewusst und verstanden. Unwissenheit und Begierlichkeit folgten als Strafe. Statt göttlichen Wissens wurde die maßlose Gier nach materiellen Genüssen ihr Anteil. Und vom gleichen Tage an wollte sich der Mensch auflehnen, wünschte Ehre und Ruhm ohne Maß, verachtete die Handarbeit und strebte übermäßig nach den Gaben des Wissens. Ein Oblate sollte darum nie arbeiten ohne zu beten: „Göttliches Wort, erleuchte mich!“ Macht es wie der hl. Thomas v. Aquin, der nie zu arbeiten begann, ohne das Kreuz in seine Arme zu nehmen, es an sein Herz zu drücken und seinen Herrn zu betrachten, bevor er nachzudenken und zu schreiben anhub (Anm. Neueres Deutsch: begann). Fragte man ihn, weshalb ihm die Lehre so leicht aus Mund und Herz floss, so konnte er antworten: Meine Lehre stammt nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat. Macht die gleiche Erfahrung: Betet vor dem Studium und dem Unterricht, selbst vor der Mathematik, der Literatur und der Naturwissenschaft.
So hielt es auch der hl. Johannes Chrysostomos, wenn er zum Volk von Konstantinopel zu reden hatte: „Ich breite meine Arme zum Himmel und warte auf das Kommen der Gabe der Einsicht. Im Vertrauen auf das Glaubenslicht, das mir im Gebet zuteilwird, gebe ich dann das Wort weiter, das ich empfangen habe.“ Man weiß ja, wie er zu reden verstand. Er besaß alle Gaben, um alles mit natürlicher Vollkommenheit auszudrücken. Doch die hl. Salbung und die praktische Gnade, die die Herzen rührte, schöpfte er unmittelbar im Himmel, indem er seine Verstandesmühen durch das Gebet befruchtete. Beten auch wir bei der Arbeit. Das lehrt die hl. Kirche: Es war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt. Die Philosophen haben das begriffen: Seht nur, was Mallebranche (frz. Oratorianer, 1638-1715) sagt: Er stieß weit vor in dieser Lehre. Ich würde das nicht wagen. Aber müssen nicht auch wir zugeben, dass selbst der Verstand der Bösen von Gott kommt. Gewiss treiben sie damit Missbrauch und entweihen den göttlichen Funken. Dennoch bleibt es der der göttliche Funke. Wollt ihr Wissen erwerben, wendet euch an Gott: das ist der Sinn der Frohbotschaft, des ganzen Evangeliums.
Das ist keine Frage frommen Sinns, eine Frage der Vollkommenheit, der Übergebühr. Nein. Der Mensch ist vielmehr nur mithilfe des Gebetes wahrhaft Mensch. Ohne Gottes Hilfe bleibt sein Verstand recht untererleuchtet. Gott allein teilt die Gaben der Intelligenz zu und bleibt deren Herr und Meister.
Während unser hl. Stifter seinen Traktat von der Gottesliebe schrieb, suchte er sich in Verbindung mit der Quelle aller Größe, aller Heiligkeit und allen Lichts zu setzen. Sobald er eine größere Erleuchtung empfangen hatte, machte er sich ans Schreiben. Manchmal soll man um ihn herum ein schreckliches Getöse gehört haben: Die Hölle selbst versuchte, ihn von seinem Werk abzubringen. Seit dem Tod der Guten Mutter glaube ich auch an den Teufel, habe ich doch selbst erfahren, was er alles in Szene setzen kann, um von einem Unternehmen, das ihm missfällt, abzulenken. Und aufgrund der Schwierigkeiten, die mich bei der Abfassung des Lebens der Guten Mutter bedrängten, bin ich voll und ganz an ihre Heiligkeit bekehrt. Mehr als ein ähnlicher Zwischenfall, wie wir sie in der Lebensgeschichte des hl. Franz von Sales lesen, haben auch mir bewiesen, dass der Teufel auch mich am Schreiben hindern wollte. Beten wir also, während wir arbeiten. Das Gebet verschafft uns das nötige Licht, und was wir auf diese Weise erfahren, wird unser Wissen auf vorzügliche Weise bereichern. Das wird für uns wie der Jakobsbrunnen sein: das Wasser ist zwar rar, der Brunnen tief. Doch auch für uns wird der Herr wie für die Samariterin die Quellen des ewigen Lebens sprudeln lassen. Jesus verfügt über mehr Macht als der Patriarch Jakob. Er hatte nur das Wasser einer Zisterne zur Verfügung, um seine ganze Herde und sich selbst tränken. Jesus hingegen lässt lebendiges Wasser quellen, das nicht versiegt. Da sitzt er am Brunnenrand: Bittet ihn um dieses Wasser, das ins ewige Leben hinüberströmt. Begnügt euch nicht mit dem Schmutzwasser, das die vorüberziehenden Menschen und Tiere trinken, das die Gottlosen und die moderne Wissenschaft schlürft, alle jene, die gegen die Kirche studieren und arbeiten. Erbittet vom Herrn Wasser, er gibt euch das wahre Wasser, das lebendige, das in Ewigkeit den Durst löscht.
Damit gewinnt ihr nicht bloß Wissenschaft und Licht, damit heiligt ihr auch eure Seelen. Was ihr so erwerbt durch eure Verstandesarbeit, wird eure Seelen bis zum Himmel emporheben und in die Nähe Gottes rücken.