Exerzitienvorträge 1886

      

7. Vortrag: Regel und Direktorium.

Geist und Verpflichtung des Ordenslebens erstrecken sich auf alle Handlungen des Ordensmannes. Die Gelübde zielen nur auf diesen oder jenen Punkt im Besonderen. Die Regel hingegen verlangt ihre Anwendung auf sämtliche Punkte, auf sämtliche Augenblicke unserer Existenz. Die Regel macht und erhält den Ordensmann, ist sozusagen seine Seele, sein Odem, sein Leben. Die Ordensregel wechselt je nach den verschiedenen Orden und den unterschiedlichen Satzungen, die die Kirche genehmigt. Und jeder Ordensmann muss, will er wirklich Ordensmann sein, in den Geist und die Praxis seiner Regel eindringen. Heute Morgen wollen wir vom Geist unserer Regel sprechen, heute Abend von der Praxis.

Ordensmann kann man nicht ohne Gebundenheit sein, ohne seinen vollen Willen einer bestimmten Ordensdisziplin, einem mehr oder weniger strengen Gehorsam hinzugeben, je nach dem Geist der Kongregation. Der Geist der einzelnen Orden gleicht dem Geist Gottes, er ist vielgestaltig. Der Geist der Kartäuser ist nicht der der Franziskaner und so weiter. All diese verschiedenen Formen von Ordensgeist sind alle gut und kommen vom Vater der Lichter, von der Gnade, aus dem Herzen unseres Erlösers. Aber der einzelne Ordensmann ist nicht dazu berufen, all diesen Formen zu folgen. Man muss vielmehr, wie der Apostel sagt, die Geister unterscheiden. Die Berufung zu einem bestimmten Orden zieht Folgen nach sich je nach dem Orden, in den man eintritt. Aus diesem spezifischen Geist fließen die verschiedenen Regeln, Observanzen und Pflichten hervor. Ohne bestimmte Ordenszucht gibt es ebenso wenig einen Ordensmann wie es kein Haus gibt ohne Bausteine. Man mag einen Entwurf zu einer Ordensregel darin entdecken, aber kein Ordensleben.

Bei den Trappisten besteht die Regel vor allem in der Abtötung. Ist diese Abtötung herausgeführt, hat der Trappist gefastet, auf dem harten Boden geschlafen, so trägt er in sich die Voraussetzungen und den Charakter eines wahren Trappisten. Wenn der Kartäuser das Stillschweigen und die Einsamkeit treu beobachtet, die die beiden Flügel der Seele eines Kartäusers sind, ist er – nach den Worten des Gründers – ein guter Kartäuser. Wir aber, wenn wir mit hinreichender Treue unsere äußere Regel beobachten, sind wir dann echte Oblaten?

Äußerlich lässt sich ein Oblate schwerlich von einem Weltgeistlichen, von einem guten Pfarrer oder Kaplan, unterscheiden, wenn er wie gesagt nichts als die äußerlichen Regelpunkte befolgt, also das, was man sehen kann. Worin bestehen denn diese äußeren Punkte? In gar nichts. Woraus folgt, dass unsere äußeren Regelpunkte nicht genügen, um uns zu Oblaten zu machen: es ist wesensnotwendig für ein Oblatenleben. Ohne das unterscheidet sich der Oblate von keinem Weltpriester, bzw. guten Seminaristen. Er hat kein spezifisches Gepräge, sondern ist Teil der Kirche wie der gesamte übrige Klerus.

So heißt es zwei Dinge beachten: Die äußere Regel genügt nicht.
Sie lässt sich die meiste Zeit nicht beobachten, weil unsere verschiedenen Posten und Kollegordnungen ein gemeinsames Ordensleben gar nicht zulassen. In diesem Fall bedarf es vom Oberen eines klaren Dispenses, damit die außerhalb der Regel vollzogenen Handlungen das Verdienst der Tugend des Gehorsams und des Ordenslebens nach sich ziehen. Denn eine wegen Dispens unterlassene Übung bringt uns die gleiche Gnade ein. Die aber dazu imstande sind, mögen aber mit großer Aufmerksamkeit und Ehrfurcht die Regelübungen vollziehen. Die anderen sollten wenigstens den Dispens einholen, um sowohl innerhalb der Regel zu bleiben wie auch die mit den einzelnen Regelpunkten verbundenen Gnaden zu erlangen. Unterlasst nie, soweit euch dies möglich ist, die äußere Regel. Vergeudet sie nicht wie die über den ganzen Platz Sions zerstreuten Steine: Betrachtung, hl. Messe, Studium, Lesungen, Gewissenserforschungen ziehen himmlische Segnungen auf uns herab, wenn sie von guten Ordensleuten gemäß der hl. Regel vollbracht werden. In dieser Hinsicht haben wir uns, was die äußere Regel betrifft, sicherlich mancherlei Vorwürfe zu machen. Gewöhnen wir uns es an, ein regeltreues Leben zu führen, das ebenso weit von aller Unabhängigkeit und Distanz zum Oberen entfernt ist, wie es Einheit, Zusammenhang und Folgerichtigkeit aufweist. Fassen wir diesbezüglich in diesen Exerzitientagen einen klaren Vorsatz und – um es noch einmal zu sagen – erteilen wir uns die selbständig Dispensen.

Die äußere Regeltreue verpflichtet im strengen Sinn. Mag ihre Übertretung auch keine schwere Sünde darstellen, ja nicht einmal eine lässliche, so bedeutet ihre Vernachlässigung einen allmählichen Abstieg, eine Schwächung der Seelenkräfte, und vom eigentlichen Ordensleben kann keine Rede mehr sein. Vor uns steht dann nur noch ein Wesen ohne Namen und Lebensziel.

Mögen diese Einkehrtage uns fest begründen in dieser Treue zur hl. Regel. Jeder andere sollte sofort feststellen können, dass sie uns eine Herzenssache ist, dass wir eine Existenz von uns weisen, die keine Bande und Fesseln mehr kennt, dass wir vielmehr die Liebe des Herrn, wie uns der hl. Paulus mahnt, zu unserem Panier erwählen. Erforschen wir in unserer Beichte schuldhafte Verstöße, nehmen wir dann das Ruder unseres Lebensschiffes mit Kraft und Mut wieder in die Hand und erfüllen wir die ganze hl. Regel. Würden wir uns allerdings auf die Praxis der äußeren Regelpunkte beschränken, so bliebe das ungenügend. Der Oblate lebt zwar das äußere, hat aber auch ein inneres Leben: und das ist sein Lebensatem, der Lebensgrund seines Wesens. Sein wirkliches Leben spielt sich nämlich im Inneren ab, in der Übung des Direktoriums. Und dieses Leben nach dem Direktorium wird für ihn zu einer strengen Verpflichtung, wie die Satzungen betonen. Aus rein äußeren Abläufen bildet sich kein Oblate heraus, Oblate wird man infolge des innerlichen Lebens. Das Direktorium ist das Formeisen, das unsere Seele mit Gott verbindet. Dieses Geistliche Direktorium verleiht unserem Tun, selbst den äußeren Akten erst ihren Sinn, ob in der Erziehungsarbeit oder in den Beziehungen zu den Mitmenschen. In diesem Direktorium steckt die Kraft unseres Ordenslebens. Mit ihm zusammen sind wir alles, ohne es sind wir nichts. Das ist das große Heiligungsmittel für die Seelen auf dem Weg des hl. Franz v. Sales. Die Gute Mutter behauptet: eine große Menge Menschen sind dazu berufen, auf dem Weg des hl. Kirchenlehrers zu gehen.

Um das Geistliche Direktorium zu praktizieren, muss man es auswendig wissen, muss man es geistig besitzen, es beständig vor Augen haben, dass es in unseren Herzen wohne und unseren Armen aufgeprägt sei. Seine Verwirklichung kann Schwierigkeiten machen. Darüber möchte ich mir einige Bemerkungen erlauben, z.B. an die Adresse der Anfänger. Sie sollen sich die „Gute Meinung“ angelegen sein lassen, solange sie noch nicht zur Gewohnheit gebracht haben, sie ständig zu üben. Dann mögen sie den Gedanken an den Tod wählen und sich daran gewöhnen, und so mögen sie fortfahren, das Direktorium Stück für Stück vorzunehmen, statt es in einem einzigen Anlauf bewältigen zu wollen. So wird das treu gelebte Direktorium zur Basis unseres geistlichen Lebens. Auf diese Weise werden wir alle dieselbe Sprache führen, werden dieselben Ideen uns beseelen, dieselben Manieren uns prägen, dieselbe Gesinnung uns beleben. Treue in seiner Betätigung wird uns in sein Verständnis und seine Hochschätzung einführen und uns seine Mentalität vermitteln. So geübt wir uns dieses Büchlein vor vielen Prüfungen und Versuchungen bewahren.

Das Direktorium verleiht uns Sicherheit. Entmutigung schließt es aus. Gott ist mit uns, er stützt und schützt uns in allem und an allen Orten.

Darum meine dringende Empfehlung dieser beiden Dinge: die äußeren Regelübungen und das Geistliche Direktorium. Ohne das sind wir, wie gesagt, nichts, ja weniger als nichts: namenlose, charakterlose, ziellose Wesen: warum nicht gleich in die Linie der Durchschnittsmenschen zurücktreten?

Dieses geistliche Büchlein war das große Heiligungsmittel eines hl. Franz v. Sales und so vieler anderer Seelen. Es muss darum den Geist der Kongregation bestimmen, macht uns erst zu richtigen Oblaten und bildet den Wesenskern unserer Genossenschaft. Haben wir damit Schwierigkeiten, so gibt es ein einfaches Mittel, mit ihnen fertig zu werden: bei der Betrachtung am Morgen legen wir uns den Punkt zurecht, der uns nicht gelingen will: heute will ich mein besonderes Augenmerk auf ihn richten, den ich bislang zu wenig betrachtet habe. Bei der Gewissenserforschung des Mittags und des Abends erneuern wir diesen Vorsatz, und bald erlangen wir die nötige Treue in dem schwierigen Punkt. Stets habe ich erfahren, dass jene, die solchermaßen vorgingen, von Gott auf sichtliche Weise gestützt wurden. Wie wenn er ihnen seine Engel zu Hilfe senden würde, dass sie ihren Fuß an keinen Stein stoßen.

Es scheint mir angebracht, dass ihr während dieser Einkehrtage im Anschluss an diesen Vortrag noch heute Morgen all jene Punkte der hl. Regel und des Direktoriums euch notiert, gegen die ihr gefehlt habt. Fügt auch gleicht eure guten Entschlüsse hinzu. Das sind vielleicht Kleinigkeiten, aber besteht nicht unser ganzes Leben aus solchen Einzelheiten? Setzt sich nicht unsere ganze Materie aus winzigen Molekülen zusammen? Ja, aus einem Zusammenspiel von Details erwächst die ganze Existenz, das Leben, die Macht.

Tragt mit euch überallhin den Charakter des Religiösen! Davon sollten wir allerorts, wie der hl. Stifter selbst, einfach und ehrlich umkleidet sein. Ein Gepräge aus Weisheit, Klugheit, und Geradheit erblüht dann aus eurem Vertrauen zum Direktorium. Und dieses Vertrauen flößt wiederum den Gläubigen Vertrauen ein, man wird sich in eurer Nähe wohlfühlen, ihr seid ja in Wahrheit Männer Gottes: ein Mann, der im Namen Gottes spricht und ihn verkörpert. Es führt kein anderer Weg dahin als das Leben nach dem Geistlichen Direktorium, nach der äußeren Observanz.

Heute Morgen sage ich euch vielerlei auf „gut Glück“. Ich halte keinen wohlgeordneten, folgerichtig aufgebauten und wissenschaftlich begründeten Vortrag. Aber es sind sichere Wahrheiten und eine praxisbezogene Lehre, scheint mir. Ich werde euch die gleichen Dinge solange wiederholen, bis ihr davon ganz durchdrungen seid, vom Kopf bis zu den Füßen, wie der Hl. Geist irgendwo sagt.

Überprüft euer Leben unter diesem Gesichtspunkt! Forscht in euren Beichten nach dem Versagen und klagt euch darüber an. Werdet euch klar über die Wichtigkeit der Details, der kleinen Dinge, die in eurem Leben notwendig sind zur Hervorbringung der Wirkungen, die Gott von euch erwartet. Möge sich diese Gnade unseres hl. Gründers über euch ausbreiten!

Die Jünger des Direktoriums wird Gott mit dem Glanz seiner Gnade und Liebe bedecken. Von Gott durchdrungen werden sie sich sozusagen in ihn kraft der beständig im göttlichen Willen vollbrachten Akte umstellen.

Von diesen Wahrheiten erfüllt, wird euch das Ordensleben leicht werden, nichts bereitet euch mehr unüberwindliche Schwierigkeiten. „Wo man liebt, da leidet man nicht bzw. man liebt selbst das Leid.“ Euer Herz kann nichts mehr zurückhalten, euer Wille sagt nur noch „Ja“ zum lieben Gott. Es bleibt euch nichts mehr zu wünschen übrig. Glaubt mir, das ist für euch alles, die sichere Quelle, aus der ständig Gnade fließt. Wenn der Goldgräber, mit Kelle und Schubkarren bewaffnet, Sand schaufelt, muss er große Mengen davon sieben, bevor er einige wenige Goldkörner findet. Aber er macht weiter, verliert nicht den Mut und lässt keine Handvoll Sand unbeachtet. Darin kann ja gerade der Schatz sich verbergen. Tun wir desgleichen, sieben wir das kostbare Gold in reinster Form heraus. Der hl. Johannes sagt in seiner Apokalypse, das reine Gold muss im Feuer geläutert sein. Dann glänzt es nur, es glüht. So bereichern auch wir uns selbst, bereichern aber auch die Seelen, die uns anvertraut sind.

In euren Beziehungen zu den Seelen könnt ihr feststellen, dass gerade diese kleinen, unbemerkten Dinge alles hervorbringen. Bittet den hl. Stifter und die Gute Mutter um das Verständnis dieser Wahrheit. Prüft euer Inneres und tut es notfalls mit Feder und Bleistift. Opfert die Fehler und Versäumnisse, die ihr dabei entdeckt, dem Herrn auf, dass er sie euch erlasse und dafür aufkomme. Beweist jene Treue bei dieser Arbeit, die Tatkraft und Ausdauer verlangt. Gott wird euch segnen und auch zu guten und wahrhaften Ordensleuten machen.