6. Vortrag: Die Keuschheit.
Benutzen wir gut alle Augenblicke unserer Einkehrtage, denn – um es noch einmal zu sagen – diese Tage wirken durch sich selbst. Sie sind eine Folge von Übungen, die von den Theologen zu den Sakramentalien gerechnet werden, dass sie kraft der Gnade und der inneren Disposition ipso facto ihre guten Wirkungen hervorbringen. Natürlich ist die rechte persönliche Einstellung dabei erfordert. Dann aber wirken sie aus sich heraus und teilen der Seele Gnaden und Kräfte mit, ohne dass diese es fühle müsste.
Viele Exerzitanten spüren innerlich gar nichts außer bitteren Prüfungen. Sprechen wir uns also Mut zu und vertrödeln wir keinen Augenblick, in dem wir von Gott in aller Gewissheit das Gute empfangen können, das er uns für diese heiligen Tage vorbereitet hat. Ich habe schon betont, dass gerade die Exerzitien für die ganze Kongregation große Früchte zeitigen sollen.
Es bleibt uns noch ein drittes Gelübde zu beobachten: das der Keuschheit. Über die hl. Armut habe ich heute Morgen nicht viel Neues gesagt: unsere Armut ist ja nicht sehr streng. Leben wir sie darum genau so, wie unser Herr es getan hat, bei seiner Geburt, während seines Lebens, in seinem Sterben. Üben wir sie aus Liebe zu ihm auf dieselbe Weise, dann wird er zum Lohn unseren Arbeiten inmitten der Welt gewiss große Wirksamkeit verleihen.
Die Reinheit, ein Gelübde des Ordensstandes, gehört wesentlich zum Ordensleben. Der Ordensmann ist ein Mann der Seelen, das Ordensleben existiert nur für die Seelen. Die Seele lebt aber in der übernatürlichen Ordnung ausschließlich für den Himmel. Sie hat dieselbe Beziehung zum Leib wie der Reisende zum Hotel, wo er absteigt, um einige Tage darin zu verbringen. Die Seele herrscht über die Neigungen und Empfindungen des Körpers und erhebt sich über seine Armseligkeiten. So sollte Ordensmann, der Mann der Seelen, sozusagen nur aus Seele bestehen. Gewiss ist er wie alle anderen Menschen nichts als ein Kind Adams und ist denselben Zwängen und Bindungen unterworfen. Dennoch muss er sich unablässig über die körperlichen Unzulänglichkeiten erheben, diese zurücklassen und sich, wie es der hl. Bernhard sagt, auf den Weg in sein eigenes Land, ins Land der Seelen begeben. Nur soweit er Seele, reiner Geist ist, wachsen auch sein Einfluss und seine Macht über die Seelen und die Geister. Ist er aber nur Stoff, Materie, so bleibt seine Aktivität beschränkt, ja sogar gleich Null, wenn nicht gar eine Gefahr für die Seele werden. Der Ordensmann muss folglich in der reinen Atmosphäre der Seelen leben. Dort trifft er sich mit den reinen Geistern, die von den Sinnen gelöst, von der Materie und jedem Haften an der Erde befreit sind. Das ist eine simple, fast mathematische Wahrheit. Darum, was hat der Ordensmann noch bei den Seelen zu suchen, wenn er infolge einer schlechten Neigung, Sinnlichkeit oder Unmäßigkeit diese reine Höhenregion verlässt?
Nichts! Obendrein stellt er eine Gefahr dar. Der hl. Bernhard versichert, schlechte Taten von Ordensleuten üben eine stärkere Wirkung aus, die Seelen zu verderben, als es die Laster von Weltleuten vermögen. Weil Gott und der Engel unter einer sichtbaren Gestalt zu Adam und Eva sprachen, äffte auch der Böse Gott und den Engel nach und täuschte unter der Gestalt einer Schlange die Eva, und glaubte, mit einem Engel zu sprechen. Ebenso erwarten die Seelen einen „geistlichen“ Menschen (wörtlich: eine Seele) und begegnen einer Schlange. Sie fassen kein Misstrauen und lassen sich unterhalten, umklammern und schließlich von dem Ungeheuer zermalmen.
Welch eine Notwendigkeit also für die Ordensleute, Geist und Seele zu sein. Ich sage das nicht nur von den Priestern, es gilt auch für die Brüder, die Handarbeiten verrichten und auf ihre Weise zum Heil der Seelen beitragen müssen. Die Ordensfrauen, zahlreicher als die Mönche, üben zwar keine direkte Aktivität bei den Seelen aus, wirken aber gleichwohl stark auf sie ein. Desgleichen betätigen sich Kartäuser und Trappisten nicht unmittelbar in der Seelsorge, und doch üben sie einen wirklichen und sicheren Einfluss aus. Was will also der Ordensmann, der nicht rein ist? Er sollte doch ein „Seelenmensch“ (Geistlicher) sein. Der hl. Augustinus lehrt im „Gottesstaat“ Gott habe in der Schöpfung einen regelrechten Dienst des Lobsingens organisiert. Ein unaufhörlicher Hymnus werde da nach einer Melodie, einer Weise gesungen, die er für jede Kreatur vorherbestimmt hat. Die vernunftbegabten Wesen nun, Engel und Menschen, schulden ihm ein Lob, eine Anbetung, die von der Vernunft erhellt ist. Und der gleiche Kirchenvater sagt, der Mensch trage zum Lob und zur Anbetung Gottes auf Erden ebenso viel bei wie die Engel im Himmel. Und er erweitert dies durch die Behauptung, die letzte Weltstunde schlage dann, wenn der letzte Gerechte den letzten freien Platz im Himmel eingenommen habe, den die gefallenen Engel freigemacht hätten. So denkt der hl. Augustinus und viele andere Kirchenlehrer. Wer ist also berufen, Mitbruder und Engel zu werden, wenn nicht der Ordensmann, der ganz und gar dem Dienst Gottes hingegeben lebt und durch seine Reinheit und Heiligkeit Engeldienste auf Erden verrichtet? O wie schön und vortrefflich ist das Antlitz eines hl. Ordensmannes! Es erinnert am meisten an einen Engel. Es ist schöner als alles auf der Welt, schöner als der Apollo von Belvedere. Das ist sicher eine schöne Statue, doch ohne himmlischen Ausdruck, da erinnert nichts an eine Geistseele.
In der Kartause von Nancy sah ich drei Brüder, die man ins Kloster unter der Bedingung aufgenommen hatte, dass sie dort die niedersten Dienste verrichteten. Und der P. Prior hielt Wort: der erste wusch die Wäsche des Klosters, der zweite bereitete den Käse, während der dritte Mist zu fahren hatte, und zwar Mist jeder Art… Das Gesicht der drei Mönche, bes. des Jüngsten mit dem niedrigsten Amt drückte so viel Frieden, Heiterkeit und Heiligkeit aus, dass ich mir sagte: Wollte ich das Gesicht eines Heiligen oder eines Engels malen, würde ich seines als Modell wählen. Hier geht es nicht um den Einfall eines Redners. Unser hl. Stifter selbst sagt, wir sollten uns glücklich schätzen, auf Erden dieselben Dienste zu verrichten wie die Engel im Himmel: Ihr seht, so dachte auch unser hl. Kirchenlehrer. Seien wir also rein und keusch, wie Ordensleute, damit der Dienst der Engel auf Erden ohne Lücken und Abstriche erfüllt werde.
Der hl. Bernhard geht noch weiter: unser Dienst übertreffe den der himmlischen Geister insofern, als er mit Mühsalen verbunden ist. Wir haben ja einen Leib, während die Engel reine Geister sind. Ja, die hl. Kirchenlehrer behaupten sogar, viele Heilige stünden höher als die Engel.
Der Ordensmann muss also keusch leben, weil er Engeldienste versieht, weil er ein Gottesmann, ein Mann der hl. Eucharistie ist. Gewiss lesen nicht alle Ordensleute die hl. Messe, aber alle wohnen ihr bei. Nicht alle verwandeln Brot in den Leib unseres Herrn, aber alle empfangen die hl. Eucharistie: aufgrund seiner Standespflicht und seiner Stellung ist der Ordensmann also ein Mann der Eucharistie, des Gottes jeglicher Reinheit und Keuschheit. Es obliegt ihm also, eine vollkommene und ganz göttliche Keuschheit zu verwirklichen. Seht nur, sagt der hl. Chrysostomos in einer Lektion vom Offizium der hl. Eucharistie, wie rein der Mund dessen sein muss, der das eucharistische Brot verwandelt, wie heilig die Zunge dessen sein soll, der es empfängt, wie makellos seine Hände, die es berühren, wie reich das Heiligtum des Herzens sein muss, in dem es Wohnung nimmt. Eine ganz einfache und klare Lehrweisheit. Im Ordensmann also, dem Mann der hl. Eucharistie, muss die Keuschheit Leben annehmen. Sie wird vom göttlichen Brot, das ihn nährt, gefordert, ihn, mit dem das fleischgewordene Wort sich so oft eint. In der Keuschheit liegt etwas, das so vortrefflich zur hl. Eucharistie passt, dass die hl. Römische Kirche die Vollmacht, sie zu konsekrieren, nur jenen verleiht, die die Keuschheit bewahren. Die hl. Kommunion verbindet sich so ideal mit der Keuschheit, dass kein Priester, der den Leib und das Blut unseres Erlösers berührt, auf dieser Erde eine Ehe eingehen kann. Für ihn bleibt nur eine Bindung angemessen: die mit Gott durch die Keuschheit.
Es ist auffallend, dass die von Ordensleuten so behandelte und verwaltete Eucharistie eben diesen Ordensleuten viel mehr Nutzen einbringt als den anderen Menschen. Auch das von einem Ordensmann gefeierte Messopfer zieht bei gleichem Verdienst – denn viele heilige Priester haben größere Verdienste zu gewärtigen als gewisse Ordensleute, weil sie mehr gekämpft haben – reichlichere Gnaden herab. Ich erinnere mich, dass in meiner Kindheit ein Ordensmann, ein Redemptorist, meinen Dorfpfarrer zu vertreten hatte. Er teilte die hl. Kommunion vielen Dorfbewohnern aus. Da sagte zu mir ein Kind: „Wie glücklich man doch ist, von solch einem Priester die hl. Kommunion zu empfangen. Seine Finger sind gleichsam durchtränkt von Glauben!“ Es hatte also erfasst, dass es in einem Ordensmann etwas gibt, was stärker zu Gott hinzieht, so dass man förmlich spürte, wie diese Finger und diese Hand beim Kommunionempfang Glauben ausströmten und die Seele davon Unterstützung und Hilfe empfing.
Wie sieht nun die Praxis dieser Tugend aus? Bei uns sollte diese Praxis etwas Besonderes aufweisen. Es ist ja einleuchtend, dass der Verwirklichung der Keuschheit eine besondere Wichtigkeit zukommt und sie darum unsere ganze Aufmerksamkeit erfordert. Es kommt darauf an, alle seine Gedanken, Blicke, Worte und Handlungen zu überwachen, dass sich nichts Unreines und Schlechtes in sie einschleichen kann. Das ist die negative Seite dieser Tugend: alles Schlechte weit von sich weisen, Gedanken, Lektüre, Blicke und Eindrücke unter Kontrolle halten. Tun wir das einfach, ehrlich, ohne heftige Gewaltanwendung, ohne unsere Einbildungskraft und unseren Willen zu ermüden, als handle es sich um einen verzweifelten Kampf. Gehen wir aber doch mit Entschlossenheit, Tatkraft und Vertrauen auf Jesus, Maria und Josef an die Arbeit. Erwecken wir ein kurzes Stoßgebet: Herr, rette uns! Ein Gebet des Herzens also, das uns am leichtesten fällt. Lassen wir uns nicht erschrecken, sondern schneiden wir kurz ab, wie die gute Mutter empfahl, bei allem, was vom Teufel kommt. Zeigen wir etwas Festigkeit und Großmut und lassen wir uns vom Bösen nicht einschüchtern! Wahren wir eine kluge und vernünftige Wachsamkeit: der liebe Gott und unsere unverbrüchliche Treue erwirken uns das. Die Versuchung kann eine wahrhaft tugendliebende Seele nicht aus dem Gleichgewicht bringen, weil sie es nicht macht wie die Frau des Loth, die neugierig nach dem Feuer zurückschaut und schließlich davon ergriffen, unbeweglich auf der Stelle stehen bleibt. Gebrauchen wir im Augenblick der Versuchung diese Mittel, rufen wir uns unsere guten Vorsätze ins Gedächtnis und denken wir an die Gegenwart Gottes. Ist die Versuchung vorüber und scheint die Sonne wieder, dann kehrt mit dem Sieg die Heiterkeit und der Friede der Seele zurück. Denn sie kann sich beglückwünschen, die Freude gewahrt zu haben. Tut das, meine lieben Freunde, als wahre Söhne des hl. Franz v. Sales!
Halten wir also unsere Herzen keusch und meiden wir selbst den Schein des Bösen. Unsere Kontakte in der Seelsorge bringen Gefahren mit sich. Fallen tut aber nur der, der fallen will.
Gleich beim ersten Angriff sollen wir uns in Gott versenken und uns nicht dabei aufhalten, von der Versuchung loszukommen. Der kluge Vogel, der die Leimrute meidet, wird nicht gefangen. Berührt er sie auch mit der Flügelspitze und bemüht sich davon loszukommen, gerät er immer mehr in den Leim. Man soll darum auf der Hut sein, aber auch keine außerordentlichen Anstrengungen machen, Personen des anderen Geschlechtes aus dem Weg zu gehen.
Schauen wir sie ganz einfach an und behandeln wir sie wie alle andern. Werden wir aber auch nicht vertraulich mit ihnen. Vermeiden wir andererseits jene aufgezwungenen Allüren, die manche Meister des geistlichen Lebens empfehlen. Ich betrachte das als unweigerlich gefährlich. Erregt man nämlich die Einbildungskraft und die Ängstlichkeit, so schwebt man in größerer Gefahr als wenn man ganz einfach und offen vorgeht. Lassen wir die Hand unseres Schutzengels nicht los. Beachten wir keine überspannten Empfehlungen, sie überfordern uns nur und bringen uns vom geraden Weg ab. Erfassen wir also gut diese negative Seite unseres Gelübdes.
Freilich genügt dieser negative Aspekt der Keuschheit in keiner Weise zur Erfüllung des Gelübdes. Unser hl. Stifter legt starkes Gewicht auf einen anderen Gedanken, der die positive Seite bildet: dass wir nämlich nur in Gott ein- und ausatmen. Er macht aus der Übung der Keuschheit, die für andere gleichbedeutend mit Flucht und Verteidigung ist, ein Band, das uns mit Gott verbindet. Die Keuschheit gibt der Seele, so gesehen, einen Anstoß, der sie zu Gott hin drängt. Und so lasst uns diese hl. Tugend mit Vorzug betrachten als gleichbedeutend mit Gottesliebe, als eine stets neue Entscheidung für Gott. Der Leib liebt körperliche Dinge, weil er infolge seiner Natur dahin neigt. Die Seele hingegen hat andere Neigungen und Leidenschaften. Die positive Keuschheit drängt uns darum zur Liebe Gottes und Jesu Christi.
Vielleicht wendet man dagegen ein, die Liebe sei mehr Sache der Frauen. Ich stehe auf dem Standpunkt, die Liebe sei mehr eine männliche Angelegenheit. Damit will ich nicht behaupten, Frauen könnten Gott nicht lieben, wie es ihre Pflicht ist. Sie können es. Ich behaupte lediglich, der Mann sei für die Liebe geeigneter als die Frau. Denn sie ist ein Akt des Großmutes, der seelischen Kraft, zu denen ein Mann mehr befähigt ist. Seine Liebe weist mehr Entschlossenheit auf und – lasst es mich sagen – mehr Zartgefühl. Die heiligen Männer liebten mehr als die heiligen Frauen. Es liegt mir fern, letztere herabzusetzen, besonders nicht die Gute Mutter. Kannte ich doch keine Seele, die ihr an Liebe zu unserem Herrn gleichkam. Doch allgemein gesprochen glaube ich, dass der Mann zu einer aufmerksameren Liebe fähig ist. Nicht zu Maria Magdalena sagte der Herr: „Liebst Du mich?“, sondern zum hl. Petrus. Er fragt ihn drei Mal und will damit seine Empfindsamkeit und Empfänglichkeit reizen. Bis ihm Petrus ungeduldig antwortet: „Aber, Herr, Du weißt ganz genau, dass ich Dich liebe: warum fragst Du so oft?“
Das ist also die positive Seite des Gelübdes, die es zu sehen und zu verwirklichen gilt. In der Gottesliebe gibt es keine Lappalien, da ist alles groß und göttlich. Nichts ohne Liebe, sagt der hl. Augustinus. Außerhalb der Liebe findet sich nur das Nichts. Die Liebe allein bringt alle Wirkungen hervor.
Das Gelübde der Keuschheit zieht einen schönen Lohn nach sich: „Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Im Himmel? Nein, schon hier auf Erden. Je reiner die Seele, desto klarer schaut sie Gott und versteht ihn. Je unreiner, umso weiter entfernt sie sich von ihm.
Die hl. Schrift beweist auf vielfache Weise diese Wahrheit: „Wer steigt den Berg des Herrn hinan? Wer steht im Heiligtum vor ihm? Der reine und schuldlose Hände hat.“ Und viele andere Stellen: alle Güter, der Friede und das Reich Gottes auf Erden sind dem verheißen, der ohne Schuld und mit reinen Händen vor Gott steht.
Beten wir zum Herrn, zur seligen Jungfrau, zum hl. Franz v. Sales und zur Guten Mutter Maria Salesia, dass sie uns ins Verständnis und in die Praxis des Keuschheitsgelübdes einführen. Sie mögen uns auch eine gesunde Vorstellung geben von den Mitteln, diese hl. Tugend zu verteidigen. Nutzen wir die Vorteile, die und das Leben aus dieser Tugend einbringt und gewinnen wir die Früchte der herrlichen Verheißungen, die mit ihr verbunden sind.