Exerzitienvorträge 1886

      

2. Vortrag: Gewissenhaftigkeit (Treue).

Liebe Freunde, verbringen wir unsere Exerzitien ernst, vollständig und gewissenhaft. Das Gewissen, o Gott, ist etwas, das überall zu schwinden droht. Es spricht so leise zur gegenwärtigen Zeit, dass man fragen muss, ob es sich überhaupt noch vernehmen lässt.  Es spricht, leider Gottes, sagen wir es ruhig, kaum vernehmbar und auch nicht zu wenigen Ordensleuten; so gedämpft, dass man nicht mehr unterscheidet, was es sagen will. Meine Freunde, ich möchte euch nicht angreifen; aber ich muss gerade die jungen Leute, die zu uns stoßen, darauf aufmerksam machen, dass unser Gewissen, unser Oblatengewissen – es hört sich vielleicht komisch an – sich vom Gewissen der übrigen Menschen unterscheidet. Sind wir Skrupulanten? Durchaus nicht, wir sollen vielmehr ein zartes Gewissen haben, ja durchaus ein äußerst zartes. Wem das abgeht, ist nicht zu unserer Lebensform berufen. Sie mögen als Priester, als Missionare gut und tüchtig sein, ab nie werden sie gute Oblaten abgeben. Wenn ich nun eure Seelen im Lichte Gottes betrachte, so bin ich nicht beunruhigt, was die Beobachtung der Gebote Gottes und der Kirche betrifft – wenigstens möchte ich das glauben. Doch die geringsten Verstöße mangelnder Gewissenhaftigkeit bezüglich des Ordenslebens erfüllen mich mit großer Pein. Achtet also darauf. Man kann Entschuldigungen anführen, ich weiß es. Man sieht merkwürdige Dinge in der Welt draußen vor sich gehen. Hört mitunter Bemerkungen und Fragen, die ein vollständiges Fehlen des moralischen Empfindens und des religiösen Sinns beweisen. Und wir alle unterliegen einem mehr oder weniger starken Einfluss von Seiten der Christen draußen.

Im Ordensstand aber bedeutet Mangel an Gewissenhaftigkeit ein großes Übel. Sagte nicht die Gute Mutter, wir Oblaten hätten das Evangelium neu im Druck herausgegeben, das sei unser Gründungszweck. Ohne dies hätten wir höchstens mit dem Steindruck oder mit Handschriften zu tun, die es an Sauberkeit und Vollkommenheit fehlen lassen. Weder die Formen, noch die Linienführung noch die Lettern treten da gebührend klar und vollkommen hervor. Zum Drucken bedarf es metallener Typen, und solche sollt ihr sein, wenn Gott durch euch seine Frohbotschaft neu drucken will. Womit wollt ihr es sonst neu auflegen? Mit euerem Wissen? … Ihr kennt das geflügelte Wort aus der Zeit des hl. Franz von Sales: „Wollt ihr Irrlehrer aufklären“, sagte ein Prediger, „schickt sie zu mir. Wollt ihr sie aber bekehren, dann müsst ihr sie zum Bischof von Genf schicken.“ In eurem Herzen und nur da muss sich selber die Gussform, das Formeisen, die Type (gem. sind die Letter) sein und zwar zur Gänze – nicht nur in der Art zu sprechen oder zu handeln, sondern in eurem ganzen Sein. Und dazu braucht ihr ein zartes und großmütiges Gewissen, nicht bloß bezüglich der Gebote Gottes. Auch betreffs der klösterlichen Observanz und in der Aufnahme dessen, was Gott euch für die Seelsorge schenkt. Darum lasst uns diesen drei Punkten ein paar Worte widmen: Gebote Gottes, Ordenspflichten und Seelsorgsgnaden.

1. Hegen wir Ehrfurcht vor dem Gebote Gottes! Allerorten bringt man dafür kein Verständnis mehr auf, und das greift auch auf uns über. Wir nehmen teil an einem allgemeinen Absinken, Erstarren und Schläfrigwerden. Die Sünde bringt in uns nicht mehr jenes Erschrecken, jenen Widerwillen hervor, wie es sich gehört.  Gewiss rinnt sie nicht an unserer Seele nieder wie ein Tropfen auf einem Wachstuch: Aber der Eindruck, den sie auf uns macht, recht nicht sehr tief. Warum weinten die Heiligen selbst über leichte Sünden? Warum bereute ein hl. Aloysius seine Fehler so tief und ehrlich? Die Heiligen besaßen eben ein übernatürliches Licht, eine überfließende Gnade, die ihnen die Ungerechtigkeit der Gott zugefügten Beleidigung in höchstem Maße, selbst in den leichtesten Dingen zeigte. Seien wir auf der Hut, bleiben wir wachsam und meiden wir jede Art von bösen Gedanken, schlechten Neigungen und Handlungen, alles, was dem Willen Gottes in Bezug auf den Nächsten, das Gewissen, und die Reinheit der Seele entgegensteht. Gebt auf alles Sündhafte acht, auf alles, was einem Gebot Gottes widerspricht. All das sei in unsere Herzen tief eingraviert, nicht nur mit Tinte, wie der hl. Paulus sagt, sondern mit dem hl. Geist, in Lettern von Feuer und Leben, sodass wir es selber wie auch unsere Umgebung spürt.

Wie könnten wir aber diese Gnade eines guten Gewissens den Geboten Gottes und der Kirche gegenüber erwerben? Durch die Treue. Indem wir die kleinsten freiwilligen Verstöße vermeiden. Hat uns ein Fehler überrascht – denn es ist schwer, sie alle zu vermeiden – dann heißt es, Gott unser Bedauern auszudrücken, einen Akt echter und solider Reue zu erwecken. Das ist die Grundlage. Ohne das kein Fortschritt. Unser Bau würde sonst auf beweglichem Sand stehen. Erbitten wir von Gott also ein zartes Gewissen. Ich wiederhole es: wir brauchen die Überängstlichkeit nicht zu fürchten, sie ist nicht aktuell in unserer Zeit. Einen Skrupulanten zu sehen, macht fast Freude: es gibt so viele, die das Gegenteil davon sind.

Erforscht euer Gewissen, legt Rechenschaft ab von dem, was das Gebot Gottes verlangt. Stellt ihr fest, dass eure Neigung euch zu etwas drängt, was ihm widerspricht, dann werde euch das Gebot zur unübersteigbaren Grenzmauer, vor der ihr entschlossenen Mutes stehen bleibt. Ihr sollt spüren, wie euch innerlich etwas zurückhält, dem Hang der Natur zu folgen. Wir alle haben an unsere Brust zu klopfen, was die Gewissenhaftigkeit betrifft. Klafft eine Leere in unserer Seele, fehlt ein Stein am Fundament derselben, dann liegt es daran. Handeln wir nicht als Halb- und Schwachgläubige!

2. Gewissenhaftigkeit unseren Ordenspflichten gegenüber. Pater Rollin sprach mit mir über das Noviziat. Es kommen da kleine Verstöße gegen den Gehorsam vor, wenn auch nicht in bedeutenden Dingen. Ein gegebener Gehorsam wird als etwas angesehen, über das man ohne Bedenken hinweggehen kann. Stillschweigen und Gehorsam wird uns sicher nicht unter Sünde geboten. Dagegen verstoßen ist aber schlimmer als eine Sünde. Es ist ein Fehler. Eine Sünde lässt sich durch Reue tilgen, ein Fehler nicht immer. Gott gibt kein zweites Mal, was zum Wiederaufbau eines Gebäudes, das wir verkommen ließen, benötigt wird. Ihr habt dann die Steine des Heiligtums vergeudet, habt weggeworfen, was Gott zusammensetzen hieß. Wird er ein neues Wunder wirken, um das Gebäude von neuem aufzurichten? Gewiss ist Gott nicht verpflichtet, eine Sünde zu verzeihen. Tatsächlich tut er es aber. Die einmal vergeudete Gabe aber bleibt verloren, er gibt dieselbe nicht mehr zurück. Das Ordensleben ist eine Sondergabe. Er hat sie verliehen, ihr nutzt sie nicht: wird dieses Geschenk ein zweites Mal angeboten? Nein, Gott mag euch andere Gnaden anbieten, doch nie jene, die ihr zurückgewiesen habt. Darum sollte unser Gewissen erschrecken vor Untreuen. Gott ist strenger in diesen Dingen als auf dem Gebiet des positiven Gebots. Der Ordensstand ist für euch nicht heilsnotwendig, obwohl ihr euch durch Zurückweisen der Berufung auf einen gefährlichen Pfad begebt: ein Weg durch Wasser und Feuer hindurch, durch das Feuer der Trübsale, und vielleicht auch durch ein langwährendes Fegefeuer, wenn ihr nicht gar in das Feuer geratet, das niemals endet.

Lasst darum äußerste Umsicht walten! Der liebe Gott ist nie unzufriedener als wenn man eine Sondergnade geringschätzt. Er verzeiht die Schwäche, nicht aber Undankbarkeit und Verachtung. Ich übertreibe nicht, im Gegenteil. Die Tatsachen bestätigen unablässig diese Behauptung. Wenn so viele Seelen im Ordensstand dahinsiechen und am Rand der schweren Sünde und des Ärgernisses dahin wanken, kann man das nicht dem lieben Gott zum Vorwurf machen. Er gab mehr als das Notwendige. Er gab so viel, dass man heilig werden konnte. Euer Gewissen kann nie zarter sein, als Gott euch gegenüber zarte Aufmerksamkeit bewies. Gott vergibt der menschlichen Schwachheit, er kennt unser Elend, und züchtigt uns nicht entsprechend unseren Fehlern. Er verzeiht aber nicht Unachtsamkeit gegenüber seiner Gnade, und nicht die Vernachlässigung klösterlicher Pflichten. Und noch einmal: Wir sind beauftragt, das Evangelium neu zu drucken, und zwar sollt ihr selber die Buchstaben dieses neuen Druckes sein. Gott ist gleichsam Tinte und Druckerpresse, wenn ihr wollt…Der Abdruck wird euer Spiegelbild sein.

Lasst uns jetzt von den Gnaden sprechen, die Gott euch überträgt zum Wohl der anderen. Als der hl. Apostel Paulus auf dem Weg nach Damaskus war, was machte ihn da zum Apostel? Das einzige Wort: Herr, was willst Du, dass ich tun soll? Hier findet sich der ganze Paulus ausgedrückt, sein ganzes Apostolat, seine Bekehrungen, seine Schriften, einfach alles. Liegt er lange am Boden, bevor er sich erhebt? Nein, Gott sieht seine Treue, und das genügt ihm. Auch euch wird Gott alle nötigen Gnaden zum Nutzen der anderen geben, wenn er euch treu findet. Schwester Genofeva war eine einfache Dienstmagd, als sie eines Tages vor dem Portal des bischöflichen Palais vorübergeht. Sie sieht einen Wagen einfahren, eine herrliche Kutsche. Ihre erste Regung ist, das Schauspiel zu beobachten. Gott aber sagt ihr, nicht hinzuschauen. Und sie gesteht: „Ich habe nicht hingeschaut.“ Sie geht in den Dom, und der liebe Gott sagt ihr da: „Du wolltest nicht neugierig hinschauen, dafür sollst Du mich immer sehen.“ Und Gott hielt in ihrem Willen, in ihrem Herzen, in allem, was ihr zu tun oblag. Auch uns werden während der Exerzitien Gnaden mitgeteilt. Nutzt sie aus zu eurem und der euch Anvertrauten Vorteil. Hier geht es um etwas Sicheres und Zuverlässiges, worauf das ganze Leben beruht. Davon hängen Leben und Tod ab.

Die Gute Mutter praktizierte dermaßen diese Lehre von der Treue zur Gnade Gottes, dass ich mehr als fünfzig Zettel besitze, auf die sie ihre Versprechen schrieb, Gott in diesem oder jenem Punkt treu sein zu wollen, sich bei dieser oder jener Begegnung abzutöten und auf nichts anderes Rücksicht zu nehmen. Sie schrieb das und reichte es mir durch das Sprechgitter hindurch. Glaubte sie, eines dieser Versprechen nicht gehalten zu haben, drängte sie auf eine sofortige Beichte: „Aber nein, Gute Mutter“, sagte ich ihr, „heute verweigere ich das Bußsakrament.“ Doch sie bat so dringend: „Hören Sie bitte meine Beichte, das verbindet mich wieder mit Gott.“ Und ich willfahrte ihrem Wunsch.

Die Treue ist eben eine kostbare Perle, ist ein liebender Blick Gottes auf euch, ist die Aufmerksamkeit, die er euch schenkt. Achtet ihr aber diese Gnade gering und geht nicht auf ihren Impuls ein, dann trifft das ein, was der hl. Augustinus meint mit den Worten: „Ich fürchte, dass Jesus vorübergeht und nicht mehr zurückkommt.“ Ihr haltet solch eine kleine Gnade für nichts, nicht wahr? O, es ist enorm viel, ja es ist alles, absolut alles. Was taugt schon ein Ordensmann, der nicht treu ist? Ein untreuer Oblate ist ein Nichts. Treu sein setzt einen guten und starken Willen voraus, eine Tatkraft, die uns nur Gott geben kann. Er unterlässt es auch nie: „Es genügt, dass man will“, pflegte die Gute Mutter zu sagen, „dann ist es bereits vollbracht.“
Soviel, liebe Freunde, über das Gewissen, die Gewissenhaftigkeit in Bezug auf die Gebote Gottes und die Kirche, Treue zu den Ordenspflichten und den Gnaden, die uns Gott für die anderen anbietet, damit wir so wirklich ein Abdruck (oder Stempel) unseres Herrn Jesus seien: Impulse, die die Welt erneuern sollen. Denn Gott muss am Anfang wie am Ende von allem stehen, er muss das Alpha und das Omega sein. Alles in Christus erneuern, sagte der hl. Paulus. In und mit Jesus müssen alle Dinge erneuert werden. Das entspricht genau der Lehre der Mutter Maria Salesia. Auch die Gute Mutter pflegte Andachts- und Frömmigkeitsübungen. Darüber will ich später sprechen Diese Andachten bilden aber nur die Gewürze, die den Wohlgeschmack bereichern, nicht den Kern und das Fundament. Seid vielmehr treu, bleibt vereint mit unserem Herrn, eins mit ihm: das ist unsere eigene Lehrweisheit, die Doktrin, die die Welt retten wird.

Pater Claude, Novizenmeister U.L. Frau von den Eremiten, sagte und schrieb mir: „Wenn diese Lehre der Mutter Maria Salesia richtig angewandt wird, bewirkt sie eine Erneuerung der Welt. Schwenkt die Welt aber auf diesen Weg ein, wird sie nicht nur Heil und Rettung finden, sondern Heiligung und Vollkommenheit. Jesus muss angewandt und verwirklicht werden, nicht bloß sein heiligstes Herz, sondern seine ganze Persönlichkeit. Wir müssen uns in ihn verwandeln, um alles in ihn umzugestalten.“

Ein Maurer, der Mörtel und Zement mischt wie unser Bruder Peter schafft ein solides Werk, er hantiert mit Kelle und Hammer. Der Goldschmied, der Juwelier, gebraucht keinen Hammer, sondern geht mit Vorsicht, Kunst und Klugheit zu Werk, gebraucht seine ganze Intelligenz. Die heutige Zeit braucht nicht mehr bloß raue Arbeiten, sondern feine Münzen, Tresore, Juwelen, Diamanten, um die Welt „loszukaufen“. Die Welt ist verloren, wenn man sie nicht um einen enormen Preis rettet. Viel Silber und noch mehr kostbares Gold sind dazu notwendig. Es bedarf also des Goldes. Mit unserer Gewissenhaftigkeit, unserem klösterlichen Leben, unserer Genauigkeit und Treue verfügen wir über dieses Gold. Mögen die Worte der Geheimen Offenbarung an einen Bischof nicht für uns gelten: „Ich war mit Dir zufrieden: Du hast die Nikolaiten bekämpft. Doch das habe ich gegen Dich: Dass Du von Deiner ersten Liebe abgewichen bist. Warum gabst du mir kein Gold mehr? Ich hätte Dir welches gegeben, reines, im Feuerofen geläutertes, erstklassiges Gold. Kehre zu Deinem früheren Zustand zurück und tue Buße! Sonst komme ich und rücke den Leuchter von der Stelle, auf dem er steht.“

Bitten wir die Gute Mutter Maria Salesia, die ein herrliches Beispiel vollkommener Treue gab, ihren Kindern etwas davon abzugeben und in den Herzen ihrer Söhne etwas von dem aufleuchten zu lassen, was in so reichem Maße der Mutter glühte.