Exerzitienvorträge 1885

      

7. Vortrag: Einfachheit und Pünktlichkeit.

Morgen ist der letzte Tag der Exerzitien. Ich lade euch ein, heute Abend und morgen den ganzen Tag eure Seele in Sammlung zu erhalten, damit Gottes Geist euch allezeit bereit, schweigend und die Ohren den Geräuschen der Welt verschlossen finde, sodass er mit euch sprechen und sich offenbaren kann. Ich denke da an die Einkehrtage, deren Zeuge ich lange Jahre in der Heimsuchung war. Da fiel mir dabei stets auf, dass sämtliche Schwestern – ausgenommen eine oder zwei – denen etwas Ungewöhnliches im Laufe des kommenden Jahres begegnen sollte, mir gestanden, es handle sich dabei um göttliche Gnade oder um Prüfungen. Die einen sagten mir: „In diesem Jahr muss ich gut auf mich aufpassen. Der liebe Gott machte mir begreiflich, dass über mich Prüfungen kommen werden.“ Sie irrten niemals. Andere wieder empfingen in großer Fülle Erleuchtungen und Gnaden für ihre Familien, und es geschah das in aller Einfalt, „offenherzig“ und ernst, wie der hl. Franz v. Sales sich ausdrückte.

Die Mitteilungen Gottes während der Exerzitien.
Die Einkehrtage haben somit etwas an sich, was wir im übrigen Jahr nicht feststellen können: sie vermitteln uns besondere und innere Mitteilungen Gottes. Ich war anfänglich überrascht über die Wichtigkeit, die man in der Heimsuchung den Exerzitien beimaß. Schließlich ist man doch das ganze Jahr hier in Exerzitien, dachte ich mir. Worin soll da schon ein Unterschied bestehen? Es sei denn, die religiösen Übungen sind hier weniger zahlreich, weil man den Schwestern mehr Zeit lassen will, sich mit dem lieben Gott intensiv zu befassen. Doch bald sah ich ein, dass dies die Zeit eines sehr bedeutsamen Gedanken- und Gnadenaustausches zwischen der Seele und Gott war.

Messen darum wir den Exerzitien große Wichtigkeit bei. Und in diesem Jahr muss ich gestehen, dass derartiges auch in unserer Gemeinschaft feststellbar ist. Der Geist des liebenden Gottes sich auf eine besondere Weise bemerkbar, wie ich es in solchem Ausmaß bisher nicht festgestellt habe. Man achtet nicht nur aufmerksamer auf Gott. Auch die Ehrfurcht vor ihm und seiner Gegenwart, vor seinem hl. Willen sowie vor allem, was eure dem liebenden Gott näherbringt, nahm zu. Woher kommt das? Ganz offensichtlich von einer Spezialgnade und einem Beistand, der sich auf alle erstreckt und den ich unserer guter und verehrten Mutter Maria Salesia zuschreibe. Aus der Höhe des Himmels schaut sie auf unsere Gemeinschaft herab in der Freude ihrer Seele. Und ihr, wolltet doch diese letzten Augenblicke der Exerzitien gut benutzen.

Foicy, Ort des Segens. Morgen nach dem Mittagessen möge jeder einzelne nach Foicy wandern. Sprechen wollen wir vermeiden. Vielmehr möge jeder die Exerzitien weiterführen, indem er seinen Geist mit den Lehren unseres hl. Stifters und vor allem der Guten Mutter nähre. Die Engel des Himmels sind mehr als einmal auf dieses Foicy herabgestiegen, um Gnaden den Seelen zu bringen, die sich während so langer Zeit dort geheiligt haben, seit der Zeit des hl. Parres bis zu den letzten Ordensfrauen, die dort wohnten. An sie sollten wir uns wenden. Man erbt immer etwas von seinen Verwandten und Freunden, pflegte die Gute Mutter zu sagen. Und von so zahlreichen heiligen Seelen, die dort von Gott während so vieler Jahrhunderte ausgezeichnet wurden, erbt man immer etwas. Das macht uns Foicy zu einem richtigen Wallfahrtsort. Wir wollen dort morgen die Novizen und eine gewisse Anzahl von Professpatres in die Kongregation aufnehmen. Übermorgen singen wir dort eine hl. Messe für Frau de Trousset, für alle unsere Wohltäter sowie für jene des früheren Konvents von Foicy.

Die Gussform des Oblaten. Heute Abend möchte ich euch eine möglich exakte Vorstellung vermitteln von dem, was wir nach der Gründungsabsicht der Guten Mutter Maria Salesia werden soll. Diesen Morgen ich aus, dass sie unsere Gründung ganz im lieben Gott sah als ein Mittel, die noch nicht verwendeten, überfließenden Gnaden des Erlösers anzuwenden. Was sie darüber sagte, war so eigenartig und „intim“, dass man davon etwas beim Oblaten wiederfinden muss. Die meisten, die die Oblaten kennlernten, sagen von ihnen: „Die Oblaten gleichen sich alle. Sie haben dieselben Ideen, dieselben Anschauungen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sie innerlich alle übereinstimmen.“ Nun, das wäre in der Tat für uns das beste Zeichen. Dies wird nämlich auch von den Heimsuchungsschwestern von Rom, Neapel, Antoura in Syrien und von denen in Frankreich bezeugt, weil sie alle derselben Form gegossen sind, äußerlich wie innerlich. Denn das Äußere der Heimsuchung ist nur Ausdruck ihres Innenlebens.

Wir sollen uns nämlich auch im Äußeren irgendwie gleichen, oder besser gesagt, unserem hl. Stifter wie unserem Herrn Jesus. Diese Ähnlichkeit bringt zwangsläufig eine große innere Übereinstimmung hervor. Die wesentliche Voraussetzung dafür ist die Einfachheit. Was gab es einfacheres als unseren hl. Stifter, als die Gute Mutter? … Einfachheit bedeutet aber Heiligkeit. Gott ist das vollkommenste Wesen, weil er das vollkommenste Wesen ist. Je vollkommener man ist, umso regeltreuer, umso einfacher ist man.

Einfachheit und Einheitlichkeit in der Kleidung. Seien wir in unserer Kleidung einfach und meiden wir alles Gesuchte und alle Eitelkeit. Einfachheit ist übrigens Zeichen großer Vornehmheit. Damit diese Einfachheit vollkommen sei, haben wir im Rat beschlossen, dass in Zukunft alle Patres unserer Häuser die Kleider tragen, die wir ihnen von hier aus zuschicken. Das wird kleine Abtötungen mit sich bringen. Wir gleichen da ein bisschen den Soldaten. Es wird vielleicht nicht immer ganz passen. Aber darin finden wir einen großen Vorteil. Jeden Morgen bringen wir dem lieben Gott unser kleines Opfer dar, wenn wir unsere Soutane anziehen. Ihr werdet trotzdem alle gut und geziemend gekleidet sein, aber eben einheitlich, und schon dadurch gleichen die einen den anderen. „Das Kleid macht nicht den Mönch aus“, aber es hilft, ihn zu heiligen. Die Soutanen werden ja auch gesegnet. Ich wünsche, dass man diese Sitte beibehält, und dass wir bei jedem Überziehen des Talars ein Kreuzzeichen machen.

Einfachheit im Essen. Gewiss, die Nahrungsfrage ist nicht eure Angelegenheit, aber wenn ihr irgendwo zu Gast seid, tragt dann in eurer ganzen Art, euch zu geben, große Einfachheit zur Schau. Vergesst nicht, dass es ohne Abtötung nicht geht. Wenn ihr aus Höflichkeit oder aus Liebe gezwungen seid, eure Meinung zu sagen über das, was man euch vorsetzt, dann versucht nicht, euch als Fachleute über Essen und Trinken auszugeben, wie es die Weltmenschen gern tun. Das Leben ist zu kurz, als dass man es für solch überflüssige Dinge vergeuden soll. Unser Benehmen verstoße nicht gegen die guten Sitten. Ich empfehle dringend, die Regeln der Höflichkeit und des Taktes zu beachten. Vermeidet alle Nachlässigkeit, und ein gewisses Sichgehenlassen, das allgemein bei Tisch eingetreten ist. Hütet euch, das nachzuahmen und euch dieser Kategorie von Menschen anzugleichen. Wir werden uns Handbücher der Höflichkeit verschaffen, die nur für Geistliche geschrieben sind. Nach denen werden wir uns richten und so auch auf diesem Gebiet einander ähnlich werden. Im Übrigen hoffe ich, euch dieses Jahr noch ein Gebräuchebuch zusammenzustellen, das alle diese Fragen im Einzelnen regelt. Heute möchte ich nur die großen Umrisse zeichnen. So wie das beste Wasser keinen besonderen Geschmack noch Geruch aufweist, weder salzig noch herb ist, so soll auch unsere Lebensweise in nichts auffallend sein.
Die Verzichte unserer Missionare in Südafrika.
Bezüglich der Einfachheit im Essen, von der ich eben sprach, müssen wir immer bereits sein zu gewissen Verzichten, die vielleicht auf uns später warten. Hier muss ich den Patres am Kap der guten Hoffnung wirklich mein Lob aussprechen. Seit mehreren Jahren leiden sie nicht bloß unter der Rauheit des Klimas, sondern unter richtigem Hunger, das es ihnen allzu oft in ihrer äußersten Armut an der nötigen Nahrung mangelt.

Ihr Leben ist doch sehr oft dem Zufall ausgeliefert, ohne regelmäßige Mahlzeiten. Und was gewöhnlich ihren Speisezettel ausmacht, ist Mehl und Kleie, in Wasser gekocht. Seht nur die Briefe, die sie schreiben. Da spürt man zwischen den Zeilen den lieben Gott und die Gute Mutter. Und so verwirklicht sich dann die Einfachheit und in der Nahrung. Sie leben unter den Prüfungen der bittersten Not und preisen dafür den lieben Gott. Da wir Brüder sind, meine Freunde, denken wir also an sie. Das Direktorium will, dass wir im Refektorium, wenn wir etwas vorgesetzt bekommen, das uns nicht schmeckt, an die Wüstenväter denken. Ich erlaube euch, an unsere eigenen Missionare zu denken und für sie zu beten. Das wird unsere Einheit im Denken und Fühlen vertiefen.

Die Einfachheit unseres Herrn und der Guten Mutter.
Unsere Einfachheit sollte ein besonderes Gepräge tragen. Hat sie etwas Niedriges, Vulgäres, Entwürdigendes an sich? Nein, durchaus nicht. Sondern die Einfachheit, die uns nottut, ist das Zeichen der Auserwählten der Herde Christi, das Zeichen, dass wir in das Haus des Herrn eintreten dürfen, um uns noch inniger mit ihm zu verbinden. Betrachtet die Einfachheit des Heilandes: er löscht den glimmenden Docht nicht aus, bricht nicht das Schilfgras, lässt seine Stimme nicht im Lärm erschallen. Trachtet also sehr nach Einfachheit, sie ist das schönste Charakteristikum und der sicherste Ausweis der Oblaten. Gab es etwas Einfacheres als die Gute Mutter? Sie entbehrte sicher nicht der Geistesgaben, und war doch so unkompliziert in ihren Worten, ihren Urteilen, ihren Auffassungen, in ihrem Umgang mit jedermann. Alle konnten sich davon überzeugen.

Die Gute Mutter und der Engländer. Wir fuhren in der Postkutsche nach Reims. Eine englische Familie, mindestens 6 Personen, stiegen außer der Guten Mutter und mir ein: Vater, Mutter, Großmutter und zwei oder drei Töchter. Der Engländer grüßt die Gute Mutter und bietet ihr etwas an: eine Frucht. Und von ihren einfachen aber vornehmen Manieren überrascht, flüstert er mir zu: „Diese Dame ist aber eine hohe Persönlichkeit, nicht wahr? Eine große Persönlichkeit.“ Seht ihr, solche Einfachheit ist unser Ideal. Sie verleiht ein Gepräge ausgesprochener Vornehmheit, stört niemanden, und passt sich allen Situationen an.

Die Genauigkeit in der Beobachtung der hl. Regel und des Direktoriums.
Das zweite Kennzeichen des Oblaten ist die Pünktlichkeit unseren Pflichten gegenüber. Bringen wir unseren Sonderübungen, den Intentionen des Direktoriums eine religiöse Pünktlichkeit entgegen. Seien wir nicht wetterwendisch in all diesen Vorschriften. Machen wir sie zu unserer Gewohnheit und wenden wir Eifer an, ganz so wie es vorgeschrieben ist. Zu dieser Stunde, zu dieser Minute haben wir dies oder jenes zu tun. Tun wir es, wenn nicht der Obere uns davon dispensiert oder erlaubt, es zu anderer Zeit zu verrichten. Auch Gott ist pünktlich in den Abläufen der Schöpfung. Verschieben oder verändern wir hingegen etwas, beweist das einen Mangel vielleicht nicht an gutem Willen, aber an vollkommener Pünktlichkeit und Regeltreue. Das fällt auf und gereicht nicht zur Erbauung. Wo treffen wir heutzutage noch Menschen, die in dieser Sorge, alles exakt auszuführen, herangebildet sind? Man tut heute alles nur so ungefähr.

 

In der Welt keine Exaktheit und keine Vollständigkeit.
Wo finden sich in der Welt von heute, meine Freunde, noch echte Meisterwerke der Architektur und der Literatur? Gewiss, es gibt wissenschaftliche Werke, aber keine Meisterwerke. Man macht Entdeckungen, oft stößt man rein zufällig darauf.  Man belohnt den Eifer und die Hingabe, aber man sucht vergeblich Meisterwerke des Schönen und des Vollkommenen. Man gibt nicht mehr das Letzte her, man skizziert nur noch Modelle. Der letzte Meißelhieb fehlt. Wir hingegen wollen exakt sein und gehorchen, wie es das Programm, wie es das Merkblatt, der Tagesplan vorschreiben. Aus dieser Genauigkeit erblüht dann ein Ganzes, eine Harmonie, die das Wohlgefallen der Engel erweckt. Und Gott, der die Harmonie liebt, steigt in unserer Mitte herab. Das ist großartig.

Stellt euch einen Menschen vor, der nachlässig ist. Er gleicht einer Maschine, deren Räderwerk Defekte aufweist. Und was ist aber das Resultat? Sicher kann Pünktlichkeit Mühen bereiten, aber ist eine Maschine, bei der sich alles richtig bewegt, nicht etwas Schönes? Alle Oblaten sollten an diesem Kennzeichen ersichtlich sein. Dann gehören sie zur Familie unseres hl. Stifters. Jeder erforsche darüber sein Gewissen und fasse entsprechende Vorsätze. Gab es einen pünktlicheren Menschen als die Gute Mutter? Alles tat sie zur rechten Zeit, war treu in der Guten Meinung wie im Gedanken an den Tod!

Es genau nehmen wollen. Ist das Sache des Verstandes? Nein, es ist Sache des Wollens. Man muss alles genau nehmen wollen! Zwingen wir uns etwas zur Genauigkeit, auch wenn wir natürlicherweise nicht veranlagt sind. Soll dieser Zwang aus einer Willensanstrengung erfolgen? Nein, sondern aus Liebe. Dann wird unser ganzes Ordensleben ein anderes Gesicht bekommen. Und wenn wir später einmal versetzt werden, wird der liebe Gott unsere Stütze sein, und die Genauigkeit, die uns zur Gewohnheit geworden ist, wird uns eine kostbare Helferin sein.

Unsere Mission in Brasilien. Sprechen wir von unseren Missionaren. Ich empfehle eurem Gebiet dringend unsere jetzigen und künftigen Missionare in Brasilien. Möge Gott uns offenbaren, ob wir dieses Werk aufgeben oder fortsetzen sollen. Herr Gossein hatte gemeint, in diesem Land seien gerade Oblaten des hl. Franz v. Sales notwendig, um zu missionieren. Der sittliche Zustand, die geheimen Gesellschaften, der Mangel an Arbeit und Ausbildung machen die Seelsorge dort äußerst schwierig. Da bedarf es innerlicher Menschen. Sie müssen unbedingt voll von Gott sein, um mit dem allgemeinen Sichgehenlassen und der Nachlässigkeit fertig zu werden. Ihre Unternehmungen müssen Stärke und Stabilität aufweisen, damit sie von Dauer sind. Wenn Gott will, dass wir die Brasilienmission übernehmen, dann möge er uns auch für diese schwierige Arbeit vorbereiten. Und wir, die hier zurückbleiben, unterstützen durch das Gebet unsere Missionare. Letztere mögen nie vergessen, dass Einfachheit und Treue dort mehr Gutes wirken alles andere, bzw. all das zustande bringen wird, was man auf andern Wegen nicht erreichen konnte.

Bitten wir die Gute Mutter um Verständnis für alle diese Dinge.
Es sieht so unbedeutend aus und ist doch so entscheidend.

Das geistliche Gebäude der Kongregation.
Möge zum Beginn des neuen Schuljahres in St. Bernhard und überall alles in Einfachheit und Gewissenhaftigkeit geschehen. Die einfache und pünktliche Arbeit eines jeden formt ein komplettes Ganzes, bei dem nichts Anstoß erregt. Wieviele Steine und Materialien setzen einen Bau zusammen! Wie heißt es da arbeiten! Steht aber das Gebäude vollendet vor uns, konstatieren wir nur noch ein einfaches, einheitliches Werk, wo alles harmoniert. Auch wir haben nach dem hl. Paulus ein Gebäude aufzurichten, das hoch und vollkommen sein soll. Ja, bis zum Himmel soll es reichen. Auch hier gilt es, Stein um Stein, Schicht um Schicht mit Geduld und Ausdauer aufeinander zu legen. Nur ein so errichteter Bau wird dann Gott und den Nächsten aufnehmen können. Er wird sich umso schöner, umso vollendeter und solider präsentieren, je beharrlicher und einheitlicher man zu Werke ging.

Möge Gott und die Gute Mutter uns große Einfachheit und Gewissenhaftigkeit schenken, weil diese beiden Eigenschaften und dem lieben Gott näherbringen, der das einfache und vollkommene Wesen mit Auszeichnung ist.