8. Vortrag: Die Liebe.
Die Exerzitien in der Heimsuchung von Troyes.
Heute ist der letzte Tag der hl. Exerzitien. Trachten wir, was Gott in unser Herz gelegt hat, dort fest zu verankern. Gestern sprach ich von den Exerzitien in der Heimsuchung von Troyes, über die Gnaden und Erleuchtungen, die er über die Schwestern während dieser Tage ausgoss. Heute möchte ich hinzufügen, dass Jahr für Jahr die Auswirkungen der Exerzitien bewundernswert waren und diese Tage jedes Mal für jede Ordensfrau eine wirkliche und vollkommene Erneuerung mit sich brachten, die sie auf eine spürbare Weise auf dem Weg der Vollkommenheit voranbrachte. Das gilt für alle, sodass man durch sehr positive Tatsachen den Fortschritt einer jeden deutlich feststellen konnte. Es handelte sich dabei nicht um eine vorübergehende Besserung, sondern um eine dauerhafte, um eine Schicht im Aufbau des Gebäudes, um einen neuen Schritt auf dem Weg näher zu Gott hin. So müsste es auch bei uns sein. Die Exerzitien sind hier von entscheidender Bedeutung. Sie sind ein Mittel, die Elemente des vergangenen Jahres, die Mühen, Opfer und Erfahrungen zusammenzufassen, die man da und dort auf diesem oder jenem Gebiet gemacht hat. Das sind die Steine für den Bau, die wir während der Exerzitien aufhäufen. Die Gnade Gottes wird sie zusammenschweißen wie mit festem Zement. Erbitten wir vom Geist Gottes die nötige Einsicht in diesem Sinn der Einkehrtage und machen wir uns bereit, unsere guten Vorsätze dann auch zur Ausführung zu bringen.
Foicy. Heute Nachmittag wollen wir jeder für sich nach Foicy gehen zur Zeremonie der Aufnahme der Novizen und der Professpatres. Auch dort wollen wir in Sammlung verharren. Wie gestern ausgeführt, wollen wir Gott bitten, der so oft seine hl. Engel an diesen Ort geführt hat, dass er sie von neuem dorthin schicken möge und seine Gnaden überbringen mögen. Das war auch die beständige Gewohnheit unseres hl. Stifters, wohin immer er ging, sich unter den Schutz der Engel dieses Ortes zu stellen. Tun wir desgleichen, grüßen wir die Schutzengel unterhalten wir uns mit ihnen.
Gestern sprach ich auch über die Einfachheit und Pünktlichkeit. Sie sollten unsere Zier bilden, das Zeichen, das Kleid der Oblaten, eine wesentliche Voraussetzung, die in unserem spezifischen Geist wurzelt. Zierde, Gewand und Wesenselement auch unseres gemeinsamen Lebens und unseres Geistes ist aber auch die Liebe.
Die Ordnung in der Liebe. Ich danke Gott, dass man bei uns, wie ich meine, nicht gegen die Liebe fehlt. Jedenfalls sehe ich nichts, worüber man sich in diesem Punkte beklagen müsste. Die Hl. Schrift jedoch belehrt uns, dass es in der Liebe sehr viele Stufen und Grade gibt und man in ihr immer höher steigen kann. Denn sie soll nicht nur jene Menschen umfassen, sie uns umgeben und die uns anvertraut sind, sie soll weiter und höher zielen. Vor allem soll sie sich auf Gott erstrecken, Ziel und Urquell aller Liebe. „Er richtete auf mich seine Liebe.“ In der Liebe herrscht also eine Rangordnung: Sie umfasst die selige Jungfrau, die Engel und Heiligen, die alle unserer Liebe würdig sind. Sie verdienen unsere Ehrfurcht und Zuneigung. Dann gilt unsere Liebe den uns Nächststehenden: Vater und Mutter, Brüdern, Freunden. Sodann allen Mitmenschen und besonders denen, die uns vor Gott geistig verbunden sind. Unterhalten und bewahren wir ihnen dieses Wohlwollen in echter Gemüts- und Tatliebe. Zu den Nächsten wie Vater, Mutter und Verwandten gehören an erster Stelle nach dem lieben Gott und den Heiligen die Mitbrüder, mit denen wir im Geist eine Gemeinschaft bilden. Sie haben Anspruch auf den höchsten Grad unserer Liebe und unserer Herzensneigung. Dann folgen jene, die uns irgendwie anvertraut wurden: Beichtkinder, Menschen, deren Seelenführung wir übernommen haben, und Schüler. Und schließlich müssen auch jene, mit denen wir in irgendwelchen Beziehungen stehen, geschäftlich oder sonst wie, einen Platz in dieser Rangordnung der Liebe haben.
Die Gottesliebe. Über sie brauchen wir nichts weiter zu sagen: das Direktorium tut das ausgiebig. Denn dieser „Leitfaden“ will ja nichts anderes als die Vereinigung der Seele mit Gott, und stellt einen ununterbrochenen Austausch mit ihm her. „Kommt und seht!“ Mit Hilfe des Direktoriums sind wir den Händen Gottes anheimgegeben. Der hl. Augustinus beginnt seine Ordensregel mit den Worten: „Gleich am Anfang werde Gott über alles geliebt!“
Liebe zu den Mitbrüdern. Franz von Sales wollte zuerst eine Kongregation ohne Gelübde gründen, nur durch das Band der Liebe zusammengehalten: „Die Liebe ist stark wie der Tod.“ Er glaubte, mit Hilfe dieser Tugend alle übrigen Bande des Ordenslebens zu ersetzen, und er hatte recht. Unsere Mitbrüder müssen wir darum in besonderem Maße lieben.
Die Gefühlsliebe. Geht es hier um eine Liebe des Gefühls, der Sympathie, der Zuneigung? Jawohl, diese drei Dinge gehören zu unserer Liebe. Wir müssen unsere Mitbrüder wirklich mit dem Herzen lieben. Über diesen Gegenstand habe ich keine andere Bemerkung zu machen als die des hl. Augustinus: „Würde man sagen: Holt die Liebe jenseits der Alpen, jenseits des Meeres, so könntet ihr Einwände vorbringen. Aber wir müssen sie nirgendwo anders suchen als in unserem Herzen.“ Lasst euer Herz sich zum Gegenstand eurer Zuneigung hinwenden, wie die Blume sich zur Sonne dreht. Erwärmt euer Herz mit der Liebe zu Gott, dann werdet ihr eure Mitbrüder lieben, wie es sich gehört. Ihr werdet sie lieben mit einer echten Liebe des Gefühls. Sie werden euch nicht mehr fremd sein. Ihr seid von derselben Familie, liebt sie also wie Brüder. Man verteidigt sich gegenseitig, man beschützt einander. Manchmal gibt es auch einen harmlosen Streit untereinander, der nie tragisch verläuft und nicht lange währt, und der lebendigen Nächstenliebe keinen Abbruch tut. Immer jedenfalls ergreift einer Partei des andern, wenn er angegriffen wird, und verteidigt dessen Sache, als sei es die Eigene.
Liebe der Sympathie. Diese Sympathie für einen anderen bewirkt, dass man sich seiner Stimmung und seiner Art zu urteilen anpasst. Tut das so viel wie möglich. Ist er aufbrausend, bleibt sanft und versöhnlich. Wie aber gütig und liebenswürdig bleiben, wenn er Streit sucht? Gewiss gibt es Ecken und Kanten am Charakter des Mitbruders, an denen man sich zwangsläufig stößt. Aber er hat auch andere Seiten. Er widerspricht dir und ärgert dich, aber hat er nicht auch Liebenswürdiges an sich? Ist er nicht fromm, eifrig, großzügig, pflichttreu? Hat er nicht vielerlei gute Eigenschaften? Betrachtet ihn nur von diesen Seiten! Das empfiehlt uns jedenfalls der hl. Franz von Sales. Ihr könnt und sollt darum ehrliche Sympathie hegen zu euren Mitbrüdern. Es gibt keinen, in dem wir nicht Gott begegnen würden, der nicht gewisse Gaben Gottes an sich hätte. Gehen wir ihn doch von dieser Seite an. Stellt ihr aber einmal fest: so kann es nicht weitergehen, dann nehmt trotzdem keinen Anstoß an ihm, übergeht und überseht, was euch verletzt.
So also soll eure Nächstenliebe beschaffen sein, aufmerksam und zartfühlend. Hütet euch, ausfällig zu werden und so euch beiden zu schaden. Wozu soll Brutalität schon nütze sein?
Möge die Liebe einer Mutter euch zum Vorbild dienen. Hört, wie eine Mutter von ihren Kindern spricht. Sie möchte, dass diese weder Laster noch Fehler haben. Kann sie diese nicht verbergen, denkt sie scharf darüber nach, was sie tun kann, dass man die Fehler vergisst, wie sie an ihrer Stelle gute Eigenschaften finden und erfinden kann. Das eine Kinde habe Verständnis für andere, das andere Großmut, das dritte Erfahrung usw. In allen entdeckt sie Qualitäten, derer wegen man sie lieben müsste…
So sollen auch wir es machen. Mit welcher Hochachtung, welcher Liebe und Sorge sollen wir also unsere Mitbrüder umgeben!
Bringen wir unseren Mitbrüdern darum eine Liebe echter Sympathie entgegen, Wohlwollen für den besseren Teil ihrer Seele, der vom lieben Gott kommt.
Liebe der Zuneigung. Wir sollen unsere Mitbrüder mit einer geradezu zärtlichen Liebe lieben. Es ist nicht genug, ihnen ganz allgemein eine Liebe der Hochachtung entgegen zu bringen, sondern eine herzliche Liebe, die den Mitbruder selbstvergessen liebt, die ihm zuvorkommt, die sich hinopfert, um unsere Brüder im Herrn zu retten. Bis dahin sollte unsere Liebe gehen. Darüber wollen wir eine Betrachtung halten. Wählen wir dafür einen bestimmten Mitbruder aus, der Gegenstand unserer Betrachtung sein soll, und bitten wir den lieben Gott, mit diesem eine Einheit zu bilden. „Ich bin eins unter euch“, sagt unser Herr, „und ihr sollt ebenfalls ein untereinander sein, wie ich es bin mit meinem Vater.“ Hier finden wir das Beispiel und das Modell: darüber wollen wir nachdenken. Solch eine Betrachtung wiegt durchaus eine der größten Glaubensgeheimnisse auf. Sie wird Gott gefallen und euch wirksamer und vollkommener zur Praxis des Ordenslebens führen. Diese Art Liebe begegnet ihr im Herzen Jesu bei der hl. Messe und in der hl. Kommunion. Und dann werden sich in eurer Seele Frieden und Wahrheit umarmen, euer Herz wird innig mit dem Herzen Jesu verbunden sein, und durch es mit dem Vater und dem Sohn. Ja, ihr werdet eins sein mit den drei hl. Personen.
Die Liebe wird uns von sich aus entgegenkommen, um uns beim Vorübergehen abzupassen. Nein, wir müssen ihr entgegen gehen. Wie die Weisheit, von der Salomon spricht, uns Liebe verleiht zu unseren Brüdern, vor uns hergeht um uns zu führen, so müssen wir ihr langsamen aber sicheren Schrittes folgen. Bemühen wir uns also um diese Tugend, überdenken wir in der Betrachtung die Mittel, sie uns anzueignen und zu besitzen. Erbitten wir vor allem in der Betrachtung vom lieben Gott die Gnade, unsere Mitbrüder zu lieben. Und haben wir dann Ordnung der Liebe einen Fortschritt gemacht, sagen wir Gott Dank für seine Gnadenhilfe.
Fühlen wir uns andererseits in der Prüfung und Gelegenheit zu sündigen, nehmen wir unsere Zuflucht zum Gebet, zur Wachsamkeit. Tun wir Buße nach dem Fall.
Der hl. Bernhard und seine Mönche. Der hl. Bernhard empfahl seinen Mönchen die Übung, jene auf den Knien um Verzeihung zu bitten, gegen die man lieblos gewesen war, und den Schutzengeln dieser Mitbrüder gebührende Abbitte zu leisten. Eines Tages verstarb ein Mönch, der sich in keiner Weise hervorgetan hatte, weder durch besondere Intelligenz noch durch ein treffendes Urteil. Doch vor seinem Verscheiden erfüllte ein himmlisches Licht seine Zelle. Man fragte ihn nach dem Grund dieser himmlischen Gunst, worauf er die Antwort gab, er sehe keinen anderen Grund, als dass er immer darauf bedacht gewesen sei, um Verzeihung zu bitten und bei jedem Fehler gegen die Nächstenliebe bei dem Schutzengel der Beleidigten Abbitte zu leisten.
Positive Akte der Liebe vollbringen. Ich zweifle nicht daran, dass ihr alle von dieser echten Liebe zu euren Mitbrüdern beseelt seid. Nicht wenige Gelegenheiten beweisen mir das. Zeigt sie ruhig, diese Liebe, nicht nur, indem ihr verletzende Zusammenstöße vermeidet. Ihr solltet auch positive Akte vollbringen. In der Gemeinschaft soll man sich gegenseitig helfen und von Herzen gern auch im Äußeren dieses Wohlwollen für den Mitbruder unter Beweis stellen. Ja, helfen wir jedem Mitbruder in einer äußeren Schwierigkeit.
Sehen wir einen mutlos, schwarzseherisch, oder wie ihm alles weh tut, warum nicht ein gutes Wort sagen, ihn ermuntern, es einer kleinen Aussprache kommen lassen, dass er wieder auf den rechten Weg zurückfindet. Und das umso sehr, wenn ein Oberer oder ein Mitbruder diesem etwas gesagt haben, was seine Eigenliebe verletzt hat oder sein Herz und seine innerste Gefühle getroffen hat. Wir müssen da seine verirrte Seele beruhigen und ermutigen. Ein Akt der Liebe, ein gutes Wort gibt wieder Kraft und Lebensmut.
Der hl. Symphorian und seine Mutter. Vorgestern feierten wir das Fest des hl. Symphorian. Der Jüngling geht zum Martyrium, und das ist hart und quälend. Der junge Mann braucht eine Ermutigung in diesem schwierigen Augenblick. Eine bekannte Stimme ruft ihm da ein Wort zu, es ist seine Mutter. Hoch vom Stadttor herunter ruft sie ihm zu: „Mein Sohn, schau zum Himmel auf!“
Die Gute Mutter Marie de Sales. Im Leben der Guten Mutter finde ich zwei bedeutsame Tatsachen: ihre vollkommene Vereinigung mit dem lieben Gott und ihre unvergleichliche Treue zur Nächstenliebe. Während des ganzen Lebensabschnitts, wo ich sie kannte, hörte ich sie nie auch nur das geringste Wort gegen die Liebe sprechen. Als Oberin musste sie Urteile fällen, musste sie sich mit dem Hausgeistlichen besprechen. Nie hörte ich von ihr ein Wort, das dem guten Ruf der Schwestern geschadet hätte. Wohl hörte ich sie notfalls sagen: „Diese Schwester hat gegen … gefehlt“, doch nie eine Anklage, Verurteilung oder Tadel gegen die betreffende Person. Sie bezeichnete den Verstoß, wenn ihr Amt sie dazu verpflichtete, aber sie tat es in einer weisen und maßvollen Art und ging nie über den Fehler hinaus. So sehr ich auch in meinem Gedächtnis suche, ich finde kein anderes Verhalten bei ihr. Und dabei scheint es doch, dass sie keinen Anlass genug gehabt hätte, anders zu verfahren. Und so hielt sie es ihr ganzes Leben, und darin verbirgt sich gewiss ein Geheimnis ihrer Heiligkeit. Wollen wir also heilig werden, gibt es keinen andern Weg als diesen: wir sind Kinder der Guten Mutter. „Seht nur, wie sie einander lieben“, sagten die Heiden von den ersten Christen.
Das Gelübde der Liebe. Ich hätte durchaus nichts dagegen einzuwenden, wenn einer, der sich von der Gnade dazu gedrängt dazu gedrängt fühlt, das Gelübde der Nächstenliebe ablegen würde. Damit würde er sich selbst zu größerer Wachsamkeit und größerem Eifer für diesen wesentlichen Punkt unserer Obliegenheiten verpflichten und wir alle würden die Liebe allumfassender und vollständiger erfüllen. Pater Rollin genießt in diesem Punkt einen guten Ruf. Er sagt manchmal zu mir über diesen oder jenen Novizen: „Es fehlt ihm vollständig an Liebe, er wird sicher nicht bleiben.“ – „Aber, P. Rollin, hat er denn nicht auch gute Qualitäten?“ – „Er wird nicht bleiben.“ Und P. Rollin behält immer recht. Ich meine damit nicht zufällige Verstöße. Man darf auch nicht übertreiben. Aber ich behaupte, dass ein Novize, der gewohnheitsmäßig gegen die Liebe verstößt, große Mühe hat, seinen Beruf zu bewahren. Das ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für den Bestand der Oblatengemeinschaft. Erleben wir von Gott in inständigem Gebet die Gabe dieser heiligen und durch nichts zu ersetzenden Tugend der Nächstenliebe.