Exerzitienvorträge 1885

      

4. Vortrag: Die Armut.

Die Lehre von der Armut kam allein von den Lippen des Erlösers. Deshalb will ich heute vom zweiten Gelübde sprechen: von der Armut. Es ist sehr bemerkenswert, dass unser Herr sich das Vorrecht reserviert hat, von der Armut und den Armen zu sprechen. Vor der Zeit der vier Evangelien finden wir nur wenig darüber. Den anbetungswürdigen Lippen des Heilands war es vorbehalten, davon zu sprechen. Zachäus allein hat im Evangelium jenes Wort gesagt: „Die Hälfte meiner Güter, Herr, will ich den Armen schenken.“ An wen richtete er diese Worte? An unseren Herrn selbst, indem er also unter der Eingebung Jesu sprach. So kann man wohl behaupten, das Wort von der Armut stamme aus dem Mund des Herrn. Oder sollte das rein zufällig geschehen sein? Können wir das annehmen? Nein, unser Herr hat sich diese Lehre vorbehalten. Das weist aber auf etwas Bedeutsames hin. Als der große hl. Franz von Assisi sein Herz dem Erlöser Jesus hinopfern, ihm seine Seele ohne Vorbehalt und Schranken weihen wollte, was hat er da erwählt? Die Armut. „Du bist meine Freundin“, singt er. „Ich suche vergeblich eine dem Herrn liebere Braut, die unter allen ausgezeichnet ist. Dich hat geliebt vor allen andern, dich hat er als erster geliebt. Denn vor ihm brachte man dir keine Sympathie entgegen. Ich suche und finde nur dich, o heilige, erhabene und göttliche Armut.“

Die Armut im Alten Testament. Gewiss wurden Arme im Alten Bund gepriesen, und darin unterscheidet sich die hl. Schrift des AT vor allen übrigen Geschichten und Literaturen der heidnischen Zeit. So lesen wir im AT die Geschichte der Rut, einer armen Frau. Sie verlässt ihr eigenes Land, wandert mit ihrer Schwiegermutter ins Land Juda, um den göttlichen Willen zu erfüllen. Sie ist nicht reich, muss Ähren lesen, um Brot unter der Asche zu backen und es mit ihrer Schwiegermutter zu teilen. Sie geht auf die Felder des Booz. Ihr wisst, was die Schrift über die Tugenden der Rut erzählt.

Ein anderer Armer ist Tobias. Er ist Arbeiter und wird blind. Seine Frau verdient die nötige Nahrung im Tagelohn, Pfennig für Pfennig. Wohin geht sie? Zu einem Zeltmacher. Da seht ihr echte Armut, und die hl. Schrift lobt sie als Tugend dieser Menschen.

Die Armut im Evangelium. Wird aber die Armut auch gelobt, so stellt man sie doch nicht auf den ersten Platz, vor allem in alten Zeiten. Die Hl. Schrift erkennt an, dass sie sich mit Großmut verbinden kann. Sie lobt also den Armen, aber nicht die Armut. Das blieb unserem Herrn vorbehalten. Und wenn in der Folgezeit Menschen ihn mehr lieben und seinem Herzen näherkommen wollen, dann wählten sie die Armut.  Jesus hat sie mit seinen Verheißungen ausgestattet: „Selig die Armen.“ Er sagt nicht: „Selig die Armen, denn sie werden das Land besitzen“, sondern: „Selig die Armen, denn ihrer ist das Himmelreich.“ Sie tragen also das Himmelreich in Händen, sie tragen es im Herzen. Nun, die großen Heiligen und alle Ordensgründer haben die Armut erwählt, weil Christus sie gepriesen, geliebt und geübt hat.

Unsere Armut und die des Erlösers. Sollen wir also die Armut eines hl. Franz v. Assisi praktizieren, der das Gewand der Armen trug, barfuß dahinzog, mit grober Kutte bekleidet, die die Farben der Armen aufwies, der fastete und sein Fleisch kreuzigte? Nein, denn unsere Regel will, dass wir die Armut lieben, wie sie unser Herr liebte, dann lieben wir sie genug! O göttlicher Meister, so wie Du! Was wir wollen, bist Du allein! Wo wohnst Du? Kommt und seht! Wir gehen mit Dir nach Kafarnaum wie die Apostel, von denen heute Morgen das Evangelium sprach. Was finden wir dort?

Die Zelle. Ein sauberes, geziemendes Zimmer, das ist des Herren Unterkunft. Seine Jünger blieben zwei Tage bei ihm. Der Erlöser will nicht allein sein und will sie auch nicht alleine lassen. Auch ich wohne lieber mit dem Erlöser zusammen in seiner Zelle am See Genezareth, als in der Zelle jener demütigen Ordensleute, die knauserig deren Aussehen und Licht ausgerechnet haben, um unserem Herrn zu gefallen. Das ist sicherlich schön und gut, aber ich ziehe die Unterkunft des Heilandes vor, denn ich tue lieber, was er getan hat. Seine Zelle ermangelte nicht des Notwendigen. Herr Jesus, wenn ich Deine Zelle mit der Unterkunft des hl. Franz von Sales vergleichen darf, so möchte ich sagen: Das ist ein und dasselbe. So und nicht anders hat er gewohnt. Kommt und seht!

Die Nahrung. Unsere Ernährung sei einfach und nicht mit Abtötungen überlastet. Wir sollen bei Tisch den Herrn nachahmen. Beim Mahl unseres Herrn fehlte es an vielem: sein Einkommen war nicht bedeutend, nur die Handarbeit des hl. Josef, der hl. Jungfrau und des Herrn selbst kamen dafür auf. Das Brot, das man dort aß, war um den Preis der Schweißtropfen eines Gottes erworben. O kostbares Brot. Wie du doch den heiligst, der Dich isst! Und solches Brot wollen auch wir essen.

Die Kleidung. Haftet unserer Bekleidung etwas Außerordentliches an? Nein, sie gleicht dem Kleid unseres Herrn. Jeder von uns lasse da jene äußerliche Reinlichkeit walten, jene unvergleichliche Sorgfalt, womit die hl. Jungfrau die Kleider ihres Sohnes behandelte. Jeder von uns wende die gleiche Sorgfalt dafür auf, wie der Herr selbst es tat.

Der hl. Paulus. Der Apostel Paulus beschwor die Korinther, sich als echte Christen durch Bescheidenheit gemäß der Verhaltensweise Jesu Christi auszuweisen, damit man sie als dem Herrn ähnlich erkenne. Und die Gute Mutter sagte von den Oblaten „man wird in ihnen den Erlöser wieder über die Erde gehen sehen.“ Man sähe den Oblaten also die Menschen grüßen, sich mit ihnen zu unterhalten „gemäß der Verhaltensweise Christi“. Das ist unsere Lebensform, unsere Kleidung. Welche Kraft, welche Gnade liegt doch darin, das Gewand Jesu Christi zu tragen!

Die Ordensfrau und ihr Kopfschleier. Das erinnert mich an etwas, was mir vorgestern passierte. Ich sah zwei Ordensfrauen, eine Generaloberin und ihre Assistentin. Die Assistentin sagte zu mir: „Sehen Sie, wovon ein Beruf abhängen kann. Ich war fest entschlossen, in der Welt zu bleiben! Ich hatte die Hoffnung auf eine ausgezeichnete Heirat vor mir und dachte, in eine reiche Familie einzutreten. Da kommen Schwestern einer Kongregation zu uns, um meinen Vater in seiner Todeskrankheit zu pflegen. Eine der beiden musste bei uns die Nacht bei dem Kranken verbringen. Sie nimmt vor mir die Kopfbedeckung ab, zieht den Schleier weg und faltet ihn mit einer so ehrfürchtigen Bewegung und Haltung zusammen, dass ich bis ins Innerste davon gerührt wurde. Ich sagte mir: wenn man im Ordensleben so weit geht und die Heiligkeit so tief wirkt, dann ist es genau das, was ich brauche. Und alles, was mein Herz erträumte, stellt ich beiseite und vergaß es und fasste im selben Augenblick den Entschluss, in diesen Orden einzutreten, nur weil ich eine Nonne ihren Kopfschleier mit solcher Ehrfurcht zusammenlegen sah!“

Küssen wir ehrfürchtig des Morgens unser Ordenskleid, unsere Soutane beim Anziehen, als wäre es die Tunika unseres Herrn, jenes nahtlose Kleid, das ihm die hl. Jungfrau gewoben hatte. So bekommen wir die Gnade, ganz mit unserem Herrn bekleidet zu werden, vom Kopf bis zu den Füßen.

Der Teil, den ich nicht den poetischsten, sondern den harmonischsten nennen möchte, der am meisten Herz und Phantasie erfordert, ist die Armut. Nehmt die Annalen der alten Orden her: wie viel köstliche und wunderbare Züge werden da erzählt über die Armut! Man spürt es, wie Gott gerade hier das meiste Glück hineinlegt. Ich möchte als Beispiel nur eine Tatsache anführen, die dem hl. Bernhard passiert ist.

Der Mönch von Clairvaux. Ein Ordensmann, berichtet der Chronist, wollte absolut nicht sterben. Seine Mitbrüder warteten vergeblich auf seinen letzten Seufzer. Schließlich hebt der Mönch seinen Kopf vom Kissen hoch und sagt: „Liebe Mitbrüder, ich werde jetzt noch nicht sterben.“ – „Wir bitten Sie“, flehen die andern Mönche, „nehmen Sie den Willen Gottes an und handeln Sie ihm nicht zuwider.“ – „O, ich stelle mich ihm nicht entgegen, aber der Augenblick des Todes ist für mich noch nicht gekommen, sondern erst in zwei Tagen. Richtet mich aber trotzdem schon für den Tod her. Bringt Wasser herbei, um mir Hände und Füße zu waschen, holt abgetragene Kleider, Mantel, Kutte, Skapulier, die man den Ordensleuten nach dem Hinscheiden anlegt. Ich verlange dringend danach, so gekleidet zu sein, damit ich mich besser auf mein Sterben vorbereite.“ Man sagt es dem hl. Bernhard und tut dem Mönch seinen Willen. Man wäscht ihn, und legt ihm Totenkleider an. Sogleich fällt er in eine tiefe Beschauung. Am nächsten Tag mittags sagt er zu den Mitbrüdern, die ihn umstehen: „Seid stille, der Lieblingsjünger Johannes ist bei mir und will sich mit mir unterhalten. Er sitzt auf dem kleinen Schemel, auf dem eben noch der Krankenwärter saß.“ Jetzt führen die beiden eine leise Unterhaltung. Des Abends meint er: „Seid noch stiller, die hl. Jungfrau sitzt neben mir, sie macht mir Mut, und stärkt meine Hoffnung.“ Und die ganze Nacht hindurch er sich mit der hl. Jungfrau. Am nächsten Morgen aber sagt er: „Liebe Mitbrüder, kniet euch nieder, der Heiland selbst kommt, sich mit mir zu unterhalten.“ Das Zwiegespräch verlängert sich, und als es zu Ende ist, schließt der Mönch die Augen, und seine Seele fliegt zum Himmel empor.

Was ist der Sinn all dieser Erscheinungen? Und was dachte sich der Schreiber dieser Tatsachen? Dieser Mönch war ein außerordentlicher Liebhaber der Armut. Um diese Gunstbezeigungen des Erlösers selbst bei seinem Tod zu erleben, wollte er in diesem entscheidenden Augenblick als Armer gekleidet sein.

Geht solch ein Ordensmann in den Himmel ein, so singen die Engel: „Ihr Tore, hebt hoch eure Häupter. Ihr ewigen Pforten, weitet euch. Der König, glanzumstrahlt, will Einzug halten.“ Der König der Glorie tritt also ein. Die Glorie des Ordensmannes ist es, arm zu sein. Sein Königreich ist das Nichtbesitzen, nichts anderes also, als was der Erlöser geliebt hat.

Der beherrschende Gedanke der religiösen Orden ist die Losschälung, die Armut. Die Mittel, den Erlöser am tiefsten kennen zu lernen, besteht somit darin, sich von allem zu trennen. Schätzen wir das Armsein nicht gering, liebe Freunde. Wir haben das Gelübde der Armut abgelegt, lassen wir diesen Schatz nicht verloren gehen. Man beweist seine Liebe zum Heiland, wenn man sich kleidet wie er, wenn man wohnt und sich nährt wie er, wenn man seine Manieren, sein Verhalten, seine Worte und seine Art, zu kleiden, nachahmt.

Je mehr ihr euch dem Herrn angleicht, umso mehr nimmt eure Liebe zu ihm zu, umso mehr wächst auch seine Liebe zu euch.

Ich will mich nicht länger über die Übung der Armut verbreiten. Lest einfach nach, was die hl. Regel darüber sagt. Ihre Vorschriften lassen keine Unklarheiten zu, lest sie wieder durch und tut alles, um dem ähnlich zu werden, für den ihr alles tun wollt und der euch die Gnade schenken wird, ihn kennen und lieben zu lernen, jetzt und immer.