Exerzitienvorträge 1885

      

2. Vortrag: Der Gehorsam: seine Theorie.

Die Wichtigkeit der Exerzitien: Reaktion gegenüber der allgemeinen Erschlaffung.
Den Exerzitien dieses kommt eine große Bedeutung zu. Mehr denn je stehen wir vor einer unsicheren Zukunft. Nichts um uns herum erscheint mehr fest begründet und gesichert. Eine gleiche Strömung zieht die Scharen wie die einzelnen in denselben wetterwendischen und schwankenden Strudel hinein. Ein enormer Verfall zeigt sich in den Seelen, ganz anders als in der Vergangenheit. Nicht bloß im Äußeren lässt sich kein christlicher Glaube mehr feststellen, auch im Verhalten eines jeden einzelnen scheint der Glaube tot zu sein. Wenn wir die Gesamtheit der religiösen Menschen betrachten, so finden wir keine Christen mehr, wie sie vor einem oder zwei Jahrhunderten noch gab. Trifft zu, was der Apostel sagt, dass Gottes Gnade uns im Stich lässt? Nein, sondern der menschliche Wille hat seine Kraft verloren.

Der Gehorsam, wesentliche Voraussetzung jeder Kreatur.
Heute Abend wollen wir uns über einen ernsten Gegenstand unterhalten: das Gelübde des Gehorsams. Gehorsam ist die Grundbedingung alles Geschaffenen. Darüber muss ich euch keinen philosophischen Vortrag halten. Aus welchem Grund existiert die Materie? Warum verändert sie sich oder wandelt ihre äußere Gestalt? Sie tut es gemäß den Befehlen, die sie vom Schöpfer erhalten hat. Die gesamte Materie gehorcht. Die Wissenschaft ist nichts anderes als die Kenntnis des „Gehorsams“ der Materie. Der Stoff richtet sich nach bestimmten Gesetzen, und das Wissen um die Gesetze ist eben die Wissenschaft. Die Materie fügt sich zwangsläufig und kann sich dem Gehorsam gar nicht entziehen. Dieser Gehorsam ist so zwingend und umfassend, dass, wenn sich die Materie ihm entzieht, sie einem höheren Gesetz folgt, das noch unbekannt ist. In der Natur gehorcht alles, die Sonne, die Sterne, usw.

Der Amazonas. Auch dieser heute so viel besprochene Strom gehorcht mit einer mathematischen Exaktheit. Gäbe es bei ihm ein An- und Abschwellen, würde dadurch das Land völlig unbewohnbar und die Sonnenhitze würde die Rückstände der tierischen und pflanzlichen Stoffe so zersetzen, dass es keinem Lebewesen mehr möglich wäre, dort zu leben. Doch der Strom bleibt gehorsam in seinem Bett und hält stets die gleiche Höhe. Die Zuflüsse von rechts ergießen ihre Wasser sechs Monate ins Flussbett, während die linken Zuflüsse trocken bleiben oder kaum wahrnehmbare Beiträge leisten. Die Trockenheit der einen wird also aufgewogen durch das Hochwasser der anderen.

So gehorcht alles, wie ihr seht. Entzöge sich eine Kreatur dem Gehorsam, würde sich außerhalb ihrer Existenzbedingungen stellen. Die Tiere gehorchen: der Selbsterhaltungstrieb und das Verlangen nach natürlicher Vervollkommnung sind ihr Lebensgesetz.

Gehorsam also überall. Wir stellen uns vor, wenn wir den Gehorsam verweigern, dann setzen wir eine freie Handlung, einen überlegenen Akt, eine persönliche Tat; wir meinen, wir zögen daraus großen Nutzen. Das ist ein Irrtum. Ungehorsam bedeutet für uns Verletzung eines streng verpflichtenden Gesetzes, nicht bloß der Vervollkommnung, sondern unserer Existenz. Je mehr Mängel unser Gehorsam aufweist, umso näher steht das Ende unserer Persönlichkeit. Je vollkommener wir gehorchen, umso sicherer erreichen wir das Ziel unseres Lebens. Der Grund dafür ist mathematisch gesichert.

Gehorchen: der schönste menschliche Akt. Die schönste und erhabenste Tat des Menschen heißt Sicheinfügen. Die Erde folgt schicksalhaft dem Lauf, der ihr eingeprägt ist. Das Tier handelt notwendig nach seinem Instinkt in dieser oder in jener Funktion, die es vollbringt. Der Mensch hingegen ist frei; er unterwirft sich in Freiheit dem Gesetz und stellt sich dadurch auf den höchsten Platz alles Seienden, und darin besteht auch seine Erhabenheit. Versteht wohl dieses Prinzip: es bringt Hilfe und Wohlergehen. Es will uns scheinen, dem eigenen Wollen nachzugeben sei angenehmer. Huldigen wir nicht dieser Ansicht, es wäre ein fataler Irrtum. Gehorchen tut einfach not. Die vollkommene Wissenschaft besteht in vollkommener Kenntnis des Gesetzes. Wer oder was nicht gehorcht, geht unweigerlich seinem Untergang entgegen, mit Sicherheit seiner physischen Vernichtung, und der moralischen fast immer.

Nur mittels des Leides erlernen wir gehorchen. Ihr, vernunftbegabte Wesen, was tut ihr, um zu gehorchen? An welchen Lehrer wendet ihr euch? An welche philosophische Schultür klopft ihr an? Hören wir den hl. Paulus: „Durch Leiden lernte er den Gehorsam.“ Da seht ihr, wo unser Herr selbst seinen Gehorsam herholte. Nur durch Dulden erwarb er diese Wissenschaft. Das ist die einzige Schule, es gibt keine andere. Ihr kennt die Volksweisheit: Nur auf eigene Kosten wird man reich, nur, wenn man etwas hergibt, lernt man etwas dazu. So lautet eine Grundwahrheit und sie stimmt: man muss leiden, um den Gehorsam zu erlernen. Christus war Gott, besaß volle und umfassende Kenntnis  von allem, und siehe da, nur auf dem Weg des Leidens lernte er den Gehorsam lieben. Was nicht Mühe und Anstrengung kostet, darf sich nicht Gehorsam nennen. Es gibt keine Tugend des Gehorsams und man kann seinen Sinn nie erfassen und ergründen, ohne Mühsal auf sich zu nehmen. Darum fordert uns der hl. Stifter bei der Guten Meinung auf, im Voraus ja zu sagen zu allem Unangenehmen,  das mit einer Handlung verbunden ist. Immer ist mit dem Akt des Gehorsams das Kreuz mitgegeben. Im Kreuz und im Leid steckt das Verdienst. Jedes Mal, wenn dem Gehorsam keine Mühe anhaftet, ist es kein wahrer Gehorsam. Das lehrt auch der hl. Thomas. Gehorsam ohne Schwierigkeit und Leid ist unvollkommen und saftlos. Auch der Gehorsam auf Grund des Gelübdes bleibt unvollständig, wenn er nicht mit dem Siegel des Kreuzes Christi gekennzeichnet ist. Er gliche nicht dem Gehorsam, den Unser Herr selbst gelernt und praktiziert hat: Körper, Wille, Verstand durch Unterwerfung des Urteils, all das muss Leid spüren. Der volle Gehorsam kann auf diese Bedingung nicht verzichten. „Durch sein Leiden lernte er den Gehorsam.“

Gegen die Neigung, gegen das eigene Wollen und Urteilen zu gehorchen.
Es heißt sich also entschließen, die Unterwerfung zu bejahen, auch wenn diese unseren Neigungen, unserem Urteil und Willen entgegensteht. „Liebe Söhne“, pflegte der hl. Bernhard zu sagen, „meine teuren Kinder, hütet euch, nur dann zu gehorchen, wenn es euch gefällt. Ihr hättet nicht mehr Verdienst dabei als die Pflanze und die Sonne, die einfach einem Naturgesetz folgen. Das genügt beim Menschen und beim Ordensmann nicht. Er muss das Kreuz in sein Herz pflanzen und es immer darin spüren. Wenn ich euch einen Gehorsam gebe, sollt ihr die Braut des Hohenliedes nachahmen: ihn wie ein Siegel euerm Arm und eurer Brust einprägen.“ Durchdringt euch mit dieser Grundlehre und schenkt dem hl. Bernhard, dem hl. Franz v. Sales und dem Doktor Angelicus Glauben, dass Gehorsam allezeit Kreuz und Leid mit sich bringt.

Gegenstand des Gehorsams. Wie sieht nun seine Durchführung aus, welches ist sein Objekt? Nun, das ist die Regel, das Direktorium, die Befehle jener, die zwar nicht unsere Vorgesetzten sind, aber mit einem Amt, einer Würde bekleidet sind. Bis dahin reicht der Gehorsam. Alle Befehle verpflichten zweifellos nicht im gleichen Grad und unter schwerer Sünde. Doch um die Tugend des Gehorsams zu üben, wie sie der hl. Bernhard und der hl. Franz von Sales verstehen, müssen wir so weit gehen. „Mit Verlaub“, sagt der hl. Bernhard, „gebt gut acht: Aus wessen Hand nahm unser Herr den Kreuzesbalken an? Etwa von Hohenpriester Kaifas? Oder vom Gouverneur Pontius Pilatus? Wer hat ihm diese Last auf die Schultern gelegt? Ein simpler Soldat, eine völlige Null hat ihm diese ungeheure Bürde aufgeladen. Hat sich Jesus geweigert? Hat er gesagt: Dieses Kreuz kommt ja von dir, ich nehme es nicht an? Ich schulde Gehorsam und Unterwerfung meines Urteils nur den Hohenpriestern meines eigenen Volks, also dem Kaifas. Wie kommt das römische Volk dazu, mir solche Lasten aufzubürden? … Nein, nichts dergleichen hat er gesagt. So gehorcht auch ihr dem geringsten eurer Mitbrüder, sagt ja zum Kreuz und weigert euch nicht!“

Begreift also wohl und fasst einen festen Vorsatz, das blutige Kreuz des Erlösers anzunehmen, von welcher Hand es auch immer gereicht wird. Wird es uns von unten her zugereicht, dann gleichen wir dem Heiland umso mehr. Es mag sein, dass es keine bedeutende Sünde ist, einem nicht aufs Wort zu gehorchen, der uns nicht übergeordnet ist. Für gewöhnlich handelt es sich nicht um eine schwere Sünde. Gleichwohl heißt es aufpassen: sich einem schwerwiegenden Auftrag entziehen, kann mitunter – nach der Meinung der Theologen – bis zu einer Todsünde gehen. Denn der Gehorsam verpflichtet immer und für immer. Man muss die einzelnen näheren Umstände beachten.

Mir ist sehr wohl bekannt, dass Gehorchen schwer ist, Mühe kostet, den Tod des Individuums verlangt. Mir selbst kostet Gehorchen mehr als alles andere. Weder die Armut, noch die Keuschheit, noch die Selbstvergessenheit, noch der Tod, nicht einmal der Martertod, falls Gott diese Gnade gewährt bereiten so viele Schwierigkeiten. Nein, nichts ist dem Gehorsam gleich. Diese Anstrengung, dieses Kreuz, ist jederzeit dazu da, um uns zu zermalmen und auszulöschen. Ja, der hl. Thomas sagt, das heißt den Martertod erleiden, und zwar am Kreuze sterben. Denken wir einmal gut darüber nach.

Ich möchte mich nicht auf Einzelheiten einlassen, das versteht sich. Gehorcht dem Generaloberen, ferner den Studienleitern; dazu all jenen, die befehlen dürfen und sollen. Denn um es zu wiederholen: mangelnder Gehorsam braucht nicht in jedem Fall ein schwerer Verstoß zu sein, aber ein Fehler ist er immer, da er aus Hochmut geschieht, oder aus irgendeinem anderen Laster, das einer göttlichen oder moralischen Tugend entgegensteht.

Die Hüter des Gehorsams. Welche sind das? Hat man gehorchen gelernt, ist man wohl unterrichtet, über die Übung dieser Tugend, was sichert dann ihre Ausführung, ihre Existenz und ihr Leben in uns? Es gibt drei Mittel, um den Gehorsam zu bewahren: die Diskretion, die Demut und die Liebe.

1. Die Diskretion (auch Zurückhaltung oder Verschwiegenheit genannt): Diese muss echt und religiös sein. Ihr wollt in Gemeinschaft leben. Diese aber ist nur denkbar auf Grund einer Vielfalt von Regeln und Vorschriften, denen man Treue und Respekt entgegenbringen muss. Sagt ihr aber indiskret eure Meinung über diese oder jene Maßnahme, glaubt man dann an euren Gehorsam? Kaum, denn ihr fällt Urteile, trefft Entscheidungen. Zunächst wird dieser Fehler euren Verstand verdunkeln, es wird euch an Einsicht gebrechen. Und das wird dann zur Ursache für die meisten Verfehlungen gegen den Gehorsam, für den Verfall des Gehorsams in den Kommunitäten. Geht euch denn die Sache überhaupt etwas an? Seid ihr mit der Beurteilung und der Kritik beauftragt? Worin besteht eure Arbeit? Im Unterrichtgeben, in der Handarbeit usw.…Aber, Herr Pater Brisson, Sie setzen und würdigen uns herab…Ganz im Gegenteil, ich erhebe euch auf das Niveau der Engel. Ihr selbst setzt euch herab. Denn solche Indiskretion verführt euch ja, über diesen und jenen zu Gericht zu sitzen, wie es eurer Ansicht entspricht; sobald ihr damit nicht beauftragt seid, kann solch ein Verhalten euch nur schaden, euch selbst wie auch jenen, über die ihr euren Tadel und Verdacht ausschüttet. Es wird viel gefehlt durch zu wenig Zurückhaltung und Mäßigung. Das ist eine tiefe Wunde, die man dadurch einer Gemeinschaft zufügt. Brecht mit diesen Gewohnheiten!

Diskretion also in der Verwaltung eures Amtes; Diskretion auch, das Briefgeheimnis zu wahren betreffs der Briefe, die ihr erhaltet; Diskretion schließlich gegenüber den Personen, mit denen ihr verkehrt. Durch mangelnde Verschwiegenheit schadet ihr der Kommunität und zerstört das Werk Gottes. Eine Kommunität, das ist etwas Großes, ist ein Zusammenspiel von vielen Wollen und Handlungen. Gott gab ihr ein Ziel und einen Daseinszweck. Sie ist ein Bau, der sich bis zum Himmel erheben soll. Ihr aber reißt Steine heraus und erschüttert das Fundament; ihr verzögert die Fertigstellung und Vollkommenheit dieses Baues. O die Indiskretion! Ich beschwöre euch, seid diskret! Besitzt ihr sie nicht von Natur aus oder durch Erziehung, dann bemüht euch, sie auf Grund der Religion zu erwerben! Bittet Gott um diese Tugend. Sobald ihr das Verlangen danach in eurem Herzen tragt, besitzt ihr sie bereits im Keim. Gott bewahrt sie für euch auf, um sie euch bei Gelegenheit zu geben. Ihr müsst wenigstens den Wunsch und den Willen danach haben!

2. Die Demut. Sie ist die zweite Hüterin des Gehorsams. Ihr seid voll von euch selbst. Der, der euch einen Auftrag gibt, kann euch nicht einmal das Wasser reichen. Ihr nehmt nur das an, was ihr begreift und schätzt, das übrige verachtet ihr. Wie soll man mit dieser Einstellung gehorchen? Der Gehorsam ist doch die allerhöchste Tugend, schwieriger und erhabener als selbst das Martyrium. Für das Gehorchen bedarf es folglich einer wirksameren Gnade als für das Blutzeugnis. Glaubt ihr vielleicht, Gott erwähle den Hochmütigen, um ihm seine Gnaden mitzuteilen?

3. Die Nächstenliebe. Sie ist die dritte Garantin des Gehorsams. Ihr liebt euren Mitbruder nicht, hegt für ihn nicht die Liebe Jesu Christi. Er hat seine Schwächen; habt ihr denn keine? Diese stehen hinter euch, ihr seht sie bloß nicht. Und ihr erblickt in eurem Bruder nicht den göttlichen Strahl der Taufe, seht seinen Namen nicht eingeschrieben in den Himmel, jenen Namen, der eine der göttlichen Vollkommenheiten ausdrückt, die Liebe, die Gott euch die Gehorsams schenke, jene Gnade, die er am Kreuze verdient hat? Der hl. Bernhard sagt, diese Liebe habe dem Erlöser sein Herzblut gekostet.

Hütet also diese heilige Tugend des Gehorsams gut durch die Demut, die Diskretion und die Liebe, damit der Gehorsam eure Seele bis zu jenem Tag bewahre, wo sie vor Gott erscheint und sie sich mit Gott in der Seligkeit, in der Ruhe, im Licht vereinige. Wer Gott gleich geworden ist, wird beim Eintritt in den Himmel die ungetrübte Gottesschau genießen. Gott wird seine Seele, wie einst Gideon sein Vließ, über die Unbegrenztheit seines göttlichen Wesens breiten, weil er auf Erden nichts anderes in diesem Menschen finden konnte als seinen göttlichen Willen.