Exerzitienvorträge 1884

      

8. Vortrag: Die Armut.

Heute Morgen möchte ich über das Gelübde der Armut sprechen.
Ziel und Zweck: uns unserem Herrn gleichförmig zu machen.

Die Armut bezweckt nicht nur, uns von den Zerstreuungen und den Anhänglichkeiten an die Güter dieser Erde zu trennen; vielmehr zielt es vor allem darauf ab, uns mit Gott zu vereinigen. Wir sollen uns Jesus Christus gleichgestalten. Gott aber und sein Sohn geben sich nur dem, der von allem losgeschält ist.

Die Armut im Alten Testament. Die von unserem Herrn geübte Armut ist nicht erst evangelischen Ursprungs: sie wurde bereits vor Christus auf dieser Erde praktiziert. Die Propheten waren arm. Saul sagte auf der Suche der Eselinnen seines Vaters: „Ich habe weder Brot noch Geld, um es dem Propheten anzubieten.“ Samuel nahm Almosen an. Und Elias… „Wie sieht der Mann aus, der diese Dinge gesagt hat?“ fragte der König Israels. „Er ist gekleidet in ein Tierfell, trägt einen langen Bart, und sein ganzes Äußeres zeugt von Armut. – „Das ist er, man tötet ihn!“ …

Daniel und die jungen Hebräer lebten in strengster Armut am Hof des Königs Nabuchodonsor. Die Rechabiten hausten in Zelten, und ihre Nahrung konnte gar nicht ärmlicher sein. Die Kinder der Propheten lebten von primitivster Kost. Als der Koch eines Tages nichts in seinen Kessel zu werfen hatte, pflückte er eine Art Gurke, die er auf dem Feld fand. Beim Mittagessen schmeckte die Speise so bitter, dass die Gäste sich vergiftet glaubten: „Der Tod steckt im Topf!“ riefen sie. Elisäus jedoch, der auf ihr Schreien herbeilief, ließ die Bitterkeit des Gerichts verschwinden, indem er etwas Mehl hineintat. Der Geist der Armut machte folglich aus gewöhnlichen Menschen Propheten. Lohn dieser Armut war die Gabe der Wunder.

Der hl. Johannes der Täufer. Er lebte die Armut der Wüste. Gekleidet war er in ein kamelhärenes Gewand und lebte von Heuschrecken und wildem Honig.

Unser Herr. Jesus Christus war der Ärmste der Menschenkinder. In einem Stall geboren wuchs er im Häuschen von Nazareth auf. Nach der Legende trugen Engel diese Hütten nach Loretto, damit wir seine Armut kennenlernen können. In seinem öffentlichen Leben konnte er sagen: Die Vögel des Himmels hatten ihre Nester und die Füchse ihre Höhlen. Der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann. Wenn er sich in Kafarnaum aufhielt, dann in einer Mietwohnung.

Die Heiligen. Die Heiligen folgten diesem Beispiel. Der hl. Paulus stellte Zelte her, um seinen Unterhalt zu verdienen. Der hl. Augustin lebte die Armut eines Gemeinschaftslebens.

Und der hl. Franz von Sales. Zur hl. Mutter Chantal, die ihm eine neue Soutane brachte, sagte er: „Behandeln Sie mich nicht, als wäre ich reich. Ich weiß mit zwei Talaren nichts anzufangen. Ich brauche alle zwei Jahre nur einen.“ Kamen Arme, um ihn zu bitten, die hl. Messe für sie zu lesen, nahm er gerne an, was sie ihm anboten: er steckte sorgsam ihre Nüsse und Kastanien in die Talarfalten, weil es die Spende der Armen war.

Die religiösen Orden. Alle Orden übten die Armut. Ja, die Franziskaner wurden mit ihren groben und geflickten Kutten geradezu die Apostel der Armut.

Der Mönch und das Stück Tuch. Ein Mönch, erzählt Rodriguez, hatte seinen Habit zerrissen und setzte ein schönes Stück neuen Stoffes ein. Er betrachtete selbstgefällig das schöne Werk, das er vollbracht hatte. Doch am Abend bemerkte er einen Affen von widerlichem Aussehen, der ebenso wohlgefällig das eingesetzte Stück ableckte, als wäre es für ihn lecker und voller Wohlgeruch.

Der Fürst von Hohenlohe. Fürst Hohenlohe, der Wundertäter unseres Jahrhunderts, lebte inmitten seiner Reichtümer völlig arm. Und sicher verdankt er diesem Geist der Losgeschältheit seine Wundergabe und seine erstaunlichen Heilungen, die ihn so volkstümlich machten. Er und die Gute Mutter schätzten und verstanden sich sehr.

Die Gute Mutter. Sie liebte die Armut über alles. Mitunter übte sie eine sehr harte Armut, in Metz z.B. wohin sie als junge Ordensfrau geschickt wurde und infolge all der Entbehrungen krank wurde. Aber gerade in Metz erlebte sie große Tröstungen und wunderbare Begegnungen Gottes.

Der Lohn der Armut ist die Liebe.
Einst bestand der Lohn der Armut in der Wundergabe, heute in der Vereinigung mit Gott, der Gottesliebe.

Der hl. Franz von Assisi. Der große Franz v. Assisi war in diese schöne Tugend ganz verliebt. Er hatte sie zu seiner Herzensdame erwählt und sang ihr Loblieder: „Heilige und glorreiche Braut meiner Seele, ich grüße Dich. Mit dem Erlöser sehe ich Dich am Kreuz; Du allein hast ihn nicht verlassen in dieser Stunde, wo alles ihn im Stich ließ…“ So sang er auf dem Berg Alverna, und ein gekreuzigter Seraph stieg vom Himmel hernieder und prägte seinem Leib die Wundmale der Passion ein.

Die hl. Theresia. Sie sagte zu ihren Töchtern: „Gott wird uns so lange lieben wie wir arm sind. Tragen wir unseren groben und rauen Habit gern, lieben wir unsere Zelle, wo wir auf Stroh schlafen. Gehen wir auch gern ins Refektorium, weil dort die Abtötung unser Festmahl ist. Tragen wir gern unser Kreuz, weil Jesus daran hängt.“
Der große Luxus der Ordensleute ist die Armut.

Die Kartäuser von Bosserville und ihr Mobiliar. Geht zu den Kartäusern. Ich besuchte oft die Kartause von Bosserville. Jede Zelle sicherlich groß, fast wie eine Pfarrerswohnung. Dort findet sich ein Refektorium, so geräumig wie die Hälfte dieser Kapelle, ein Oratorium, mehrere Wohnungen, eine Werkstatt. Und alles ist mit Sauberkeit und Sorgfalt unterhalten; trotzdem atmet alles die größte Armut; eine wurmstichige Matratze, zwei Decken, einige Bretter, das ist das Bett; ein Hocker zum Sitzen. In einer Ecke ein Betstuhl mit einem Stuhl zum Beichthören sowie ein kleiner Arbeitstisch.

Der spanische Prinz. Dort traf ich auch einen Vetter der spanischen Königin. „Er ist faul“, sagt mir der Prior, „er muss gedemütigt werden. Er will sich nicht daran gewöhnen, lateinisch zu sprechen. Reden Sie ihn lateinisch an und sagen Sie ihm etwas, was ihn abtötet!“ – „Aber die Abtötung wird auf meiner Seite liegen, denn ich habe fast keine Übung im Lateinisch sprechen.“ Ich fragte ihn also auf Latein, was sein Vater täte. „Finanzminister“, antwortete er. Der Prior begann zu schimpfen: „Ihre Zelle ist schrecklich unsauber. Man schämt sich, hier einzutreten.“ Der Novize fiel auf die Knie und küsste demütig die Soutane des Priors. Sein Besen hing unter dem Kruzifix, ein armer, kleiner, abgenutzter Besen. Und unter diesen beiden Gegenständen hatte der Assistent ihm befohlen, seine Betrachtung über die Armut abzuhalten. Am nächsten Tag führte mich der Prior in diese Zelle zurück. Der arme Prinz schwitzte dicke Tropfen, um mit einem Seehundfell eine alte, wurmstichige Fichtenleiste zu behobeln. „Sie verlieren Ihre Zeit. Warum tun Sie das?“ fragte der Prior. Der Assistent hatte ihm aufgetragen, daraus ein Kreuz zu machen, um es auf der Mauer seines Gartens anzubringen.
Am folgenden Tag fand ich bei der hl. Messe des Novizenmeisters meinen Prinzen wieder. Er sah gut aus unter seinem Kartäuserhabit. Ich erblickte auch den Prior, der ihn schon wieder ausschimpfte. Nach der Messe streckte er sich in seiner ganzen Länge im Chor aus. Ich fragte den Prior: „Was hat der arme Prinz denn schon wieder angestellt?“ – „Nun, ich habe ihm gewiss schon zehnmal gezeigt, wie man die Kännchen darreicht; aber er tut es nicht, wie es sich gehört…“

Die drei Brüder. Im gleichen Kloster lebten drei Brüder. Eines Tages hatte man den Prior benachrichtigt, dass drei junge Männer ihn an der Pforte zu sprechen wünschten. „Lasst sie nur warten“, sagte der Prior. Diese verlieren nicht den Mut und warten. „Gebt jedem ein Stück Brot“, sagt der Prior. Sie lassen sich nicht abschrecken. „Aber wir wollen nicht um Almosen bitten, sondern in den Orden eintreten“, sagen sie. Endlich führt man sie vor. „Wer seid Ihr?“ – „Wir sind drei Brüder.“ – „Ihr seid Faulenzer. Warum seid ihr nicht bei eurem Vater geblieben, um ihm zu helfen?“ Die drei fallen dem Prior zu Füßen und bitten um Aufnahme. „Aber was wollt ihr denn hier?“ – „Geben Sie uns die mühsamsten und widerlichsten Beschäftigungen!“ – „Euer Wunsch soll erfüllt werden!“ Und wirklich wurde der älteste in der Wäscherei beschäftigt, der zweite bereitete Käse zu und dem dritten begegnete ich, als er gerade Mist trug. „Was tun Sie gewöhnlich hier?“ fragte ich ihn. „O, ich trage nicht immer Mist, ich habe ein wichtigeres Amt, ich…“ Das Übrige möchte ich hier nicht sagen… - Seht ihr, das sind echte Ordensleute, und das ist der wahre Geist der Armut.

Die Zellen. Bemühen wir uns, auch in unserem Leben um diesen Geist der Armut. Unsere Zellen sollen immer einfach sein: ein einfaches Bett, ein Tischchen, ein primitiver Stuhl, ein paar Bücher, die wir nach besten Kräften pflegen, da sie nicht uns gehören.

Die Kleidung. In unserer Bekleidung soll es etwas geben, was uns ein bisschen belästigt, vorausgesetzt dass niemand es bemerkt. Nichts soll in unserem Äußeren auffallen. Wir sollen die Abtötungen spüren, ohne den Trost der alten Orden zu haben, dass unser Opfer von der Öffentlichkeit bemerkt wird. Diese Befriedigung bleibt uns versagt. Denn man kann in der Selbstüberwindung und der Armut auch einen Genuss finden. Wenn die jungen Kapuziner von Annecy sich gut benommen haben, erhalten sie als höchste Belohnung, dass sie am Freitag das gleiche Essen wie die Patres vorgesetzt bekommen – und welch ein Essen -, und dass sie an Wintersonntagen barfuß ausgehen dürfen.

Sauberkeit und Ordnung. Die Reinlichkeit lässt sich mit Leichtigkeit der Armut zugesellen. Pater Lacordaire, glaub ich, sagte einmal: „Unser Herr liebte die Armen, aber nicht die Schmutzfinken.“

Mutter Chantal sagte: „Eine leere Zelle zieht Gott herbei. Ist sie aber mit Gegenständen vollgestopft, bleibt für ihn kein Platz.“

Die Gute Mutter. Sie praktizierte eine Armut bis zum Übermaß. Bei ihrer Ankunft in Troyes erteilte sie den dortigen Schwestern, die zu ihrem Empfang und ihrer Ehre den Boden gewachst hatten, eine kräftige Lektion. Auf ihrem Sterbebett kannte sie keinen Wunsch und keine Sorge, verlangte nichts und verweigerte nichts. Nach ihrem Tod stellte man fest, dass die Haut ihres Rückens an ihrem Bettlaken klebte und verletzt war. Nie hatte sie darüber geklagt.

Die Prozession nach Vorburg bei Soyieres.
Schon in jungen Jahren begann sie, die Armut zu schätzen. Mit 16 oder 18 Jahren hatte man ihr wie ihren Schwestern ein schönes Kleid von rotem Barchent gekauft. Am Tag der Prozession zu unserer lieben Frau von Vorburg war Therese Chappuis im Begriff, sich der Prozession im Glanz ihres schönen Kleides anzuschließen. Eine kleine arme Nachbarin betrachtete sie mit begierlichen Augen. Das Kleid war einfach zu schön! „Ich bin sicher, mein Kleid stünde Dir vortrefflich“, sagte da Therese zu ihrer Freundin. „Wir haben noch Zeit, willst Du es mal anprobieren? Wie schön sähest Du darin aus!“ Sie führte die Kleine in ihr Zimmer, zieht ihr das neue Kleid über und legt sich selbst ein ganz gewöhnliches an. „Jetzt aber schnell! Keine Zeit ist mehr zu verlieren!“ Und sie zieht ihre Freundin fort, ebenso glücklich über ihren Verzicht wie die andere über das rote Kleid. Man versuchte sie wegen ihres mehr als bescheidenen Rocks zu tadeln. „O, ich fühle mich ganz wohl darin und meine Freundin ist glücklich!“

Die kleinen Löffel. Gott schenkte ihr große Erleuchtungen bezüglich der Armut und verlangte strenge Treue von ihr in diesem Punkt. Als sie in Paris war, verschrieb ihr der Arzt eine ätzende Flüssigkeit, die man nicht mit Metalllöffel einnehmen konnte. Die Ökonomin bat eine Freundin des Klosters, der Guten Mutter einen Löffel aus Elfenbein zu verschaffen. Die sehr reiche Dame glaubte recht zu handeln, wenn sie gleich ein halbes Dutzend fein ziselierter Löffelchen aus Elfenbein kaufte. Stolz auf ihre Erwerbung brachte sie die kostbare Gabe der Guten Mutter. Diese besaß einen ausnehmend guten Geschmack. Sie warf einen wohlgefälligen Blick auf die Löffelchen und konnte es sich nicht verwinden, sie ein bisschen zu bewundern. Am Abend aber, am Tag darauf und auch am nächsten Tag noch fühlte sie die Abwesenheit des Heilands. Auch bei der Kommunion fehlte ihr seine spürbare Gegenwart. Die arme Gute Mutter fragte sich ganz trostlos nach dem Grund ihrer Verlassenheit. Nach drei Tagen kam der Herr zurück: „Warum hast Du mich verlassen, Herr?“ – „Nun, schau nur weiter Deine Löffelchen an! ...“ Die schönen Löffelchen aus Elfenbein wurden nie mehr gesehen und niemand sprach mehr von ihnen.