Exerzitienvorträge 1884

      

6. Vortrag:  Die Eigenschaften des Gehorsams.

Das Leiden der Exerzitien. Es ist nicht nötig, dass die Einkehrtage euch über Gebühr ermüden: „Ertraget den Herrn!“

Im Friedhof von Genua las ich folgende Inschrift: „Ich trage nur das mit mir fort, was ich gegeben und gelitten habe.“ Sprechen wir also noch einmal vom Gehorsam. Die Gute Mutter verehrte folgende Worte des Psalmisten sehr: „Zeige mir Deine Wege und lehre mich Deine Pfade.“ Sie sagte sie oft auf.

Unsere Satzungen legen uns auf, dem Hl. Vater zu gehorchen, desgleichen dem P. General sowie den Provinzial- und Hausoberen des Instituts.

Gehorsam dem Papst gegenüber. Wir sollen Diener und Kinder des Hl. Vaters wie der Kirche sein, nicht nur in den befohlenen Dingen und denen des Glaubens, sondern auch in dem, was Papst und Kirche wünschen. Die Gute Mutter Maria Salesia hegte eine tiefe Würdigung für Kirche und Papst. Sie arbeitete eifrig für die Rückkehr Frankreichs zur römischen Liturgie; das ist eine Tatsache, die für die Geschichte als gesichert gelten wird. Sie bestimmte die Diözese Troyes zu dieser Rückkehr, und das Bistum Troyes war das erste, das zur römischen Liturgie zurückfand.

Beten wie darum treu das Gebet „für den Papst.“ Rufen wir oft den Schutzengel des hl. Vaters an, ihn zu beschützen und zu inspirieren und vergessen wir nicht, was Leo XIII. uns empfahl, Männer des Opfers zu sein „bis zum Vergießen des Blutes.“

Gehorsam dem P. General gegenüber. Der Gehorsam gegen den Hl. Vater fällt uns nicht schwer, desgleichen der dem Generaloberen gegenüber. Ihm zu gehorchen, ist nicht schwierig; er stellt euer Urteil auf keine harten Proben, und wenn man ihm ganz diskret, aber nachdrücklich und klar einen Vorwurf machen kann, dann wäre es der, dass er behutsam ist, in seiner Art zu befehlen. (Anm.: P. Brisson mein damit sich selbst, da er Generaloberer damals war).

Gehorsam gegen die Hausoberen. Auch der Gehorsam dem Provinzial gegenüber kostet uns wenig, da er weit weg. Bei dem Lokaloberen ist es etwas anderes: ständig Seite an Seite mit ihm zusammen leben, einen Oberen haben, der einem nicht gefällt, der nicht sehr tüchtig ist, ein „Zweigroschenoberer“ also, und ihm beständig und vollständig gehorchen, ihm vor allem sein Urteil unterwerfen, das ist schwierig. Ich für mich erkläre, meine lieben Freunde, dass dies menschlich unmöglich ist. Ich selbst könnte es niemals: mein Urteil vor dem Urteil eines anderen zum Schweigen bringen, nie! Dafür brauchen wir eine ganz besondere Hilfe Gottes. Es sei denn, man ist eine gute, ganz naive, um nicht zu sagen ganz dumme, einfältige Seele… Denn das ist ein Wunder! Aber dieses Wunder muss geschehen. Jawohl, ihr müsst nicht nur euren Willen unterwerfen – das versteht sich von selbst – und das tut jeder. Sondern es gilt auch, sein Urteil zu unterwerfen, kurz abschneiden, nicht räsonnieren, alles dem lieben Gott aufopfern und geradeaus vorangehen, gleichsam mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen: Das ist mir vorgeschrieben und ich tue es, weil es mir vorgeschrieben ist. Denkt nicht einmal darüber nach, ob es möglich ist, den Befehl mit eurem eigenen Urteil in Einklang zu bringen. Es geht leichter mit geschlossenen Augen und ihr setzt euch weniger Gefahren aus. Blinder Gehorsam, absoluter und vernunftwidriger Gehorsam: Seid ihr entschlossen, all das zu tun?

Schwester Martha-Elisabet und die Statue des hl. Josef.
In der Heimsuchung lebte eine sehr intelligente Schwester dieses Namens. Man brachte eines Tages eine Statue des hl. Josef, die von der Gemeinde sehr bewundert wurde: „O, wie schön er ist! Und wie fromm! Welch ein Gesichtsausdruck! …“ Da kam auch Schwester Martha-Elisabet, die ihren ersten Eindruck nicht zurückhalten konnte: „Aber, Würdige Mutter, man hat offenbar den hässlichsten Mann von Troyes geholt, um sein Portrait anzufertigen.“ Diese Bemerkung war offenbar ebenso klug wie schalkhaft. Aber die Oberin wollte der Schwester, die so an ihrem eigenen Urteil hing, eine Lektion erteilen: „Nun gut, Schwester, da dieser hl. Josef nicht Ihrem Geschmack entspricht, machen Sie uns einen schöneren! Lehm nehmen Sie neben dem Brunnen und fertigen daraus eine andere Statue…“ Die arme Schwester gehorchte so gut sie konnte, und als sie fertig war, brachte sie ihr Werk herbei. „Stellen Sie es in die Treppennische, und da Sie der Gemeinde ein gutes Beispiel geben müssen, wenn diese dann vorübergeht, marschieren Sie immer an der Spitze der Kommunität und knien sich vor Ihrem hl. Josef nieder, während die Gemeinde vorbeigeht.“ Die Schwester gehorchte, und ihre Buße sollte lange dauern. Bischof des Hons war eines Tages Zeuge davon und fragte nach dem Sinn dieser Zeremonie: Man ließ Schwester Martha-Elisabet kommen und sie erzählte demütig ihre Geschichte. „Würdige Mutter“, meinte des Hons, „da wundert es mich nicht, dass Sie Heilige machen.“

Prompter Gehorsam. Die Regel verlangt von uns, dass wir beim ersten Glockenzeichen einen Buchstaben halbgeschrieben lassen. Solch ein Maß von Gehorsam wird von uns erwartet.

Herzlicher Gehorsam. Eine gute Miene zu jedem Auftrag machen; von einem Oberen nicht das erbitten, was ein anderer bereits verweigert hat, ohne ihm die Abschlagung der Bitte mitzuteilen. Sich von Herzen bemühen, genau die kleinsten Vorschriften der Regel zu befolgen, das bedeutet: herzlich gehorchen.