Exerzitienvorträge 1883

      

6. Vortrag: Die Predigt

„Der Geist ist es, der lebendig macht“ (Joh 6,64). Der Geist gibt das Leben. Setzen wir den Vortrag dieses Morgens fort und sehen wir nach, welches unser Geist beim Predigen sein soll.

Man predigt heutzutage nicht mehr genügend für seine Zuhörer.
Man versteht heutzutage nicht mehr, zu predigen. Das letzte Konzil (1. Vatikanum, Anm.) - ich weiß es aus einer guten Quelle – wollte sich mit diesem wichtigen Thema der Predigt befassen und Regeln aufstellen und einen andern Weg aufzeigen als den man heute geht. Man lehrt Gottes Wort nicht mehr auf eine Art, die den Bedürfnissen entspricht. Man predigt wie man es im 17. und 18. Jahrhundert tat; Unterricht und Lebensart haben sich aber seitdem gewandelt. Der hl. Chrysostomos sagt in seinem „Traktat vom Priestertum“: „Ich sah auf den Priester seine Hand ausstrecken und den Leib des Herrn auf die Erde fallen lassen. Ich sah einen Priester auf der Kanzel seinen Mund öffnen und auf die Erde fiel das göttliche Wort, das die Seelen nicht zu erreichen vermochte.“  Das Wort der Prediger gelangt also nicht mehr zu den Seelen. Es sind vielmehr gelehrte Abhandlungen, Thesen, schöne Ausführungen, aber wer versteht sie und hört sie aufmerksam an? Wenn ihr so vor Leo XIII. und seinem Hofe predigen würdet, könnte ich es verstehen – der Papst bewahrte die alte Sitte, jeden Mittwoch zur Predigt zu gehen. Sprächt ihr vor Theologen, wäre nichts einzuwenden… Wo aber sind die Gottesgelehrten eurer Zuhörerschaft?

Predigen wir wie Jesus Christus. Der Oblate soll predigen wie unser Herr Jesus Christus.

Kurze Darlegung der Doktrin. Die lehrhafte Darlegung, die Verstandesüberlegungen seien kurz und klar. Richtet sie an eure Zuhörer, versetzt euch auf ihr Niveau und seid praktisch in euren Ausführungen.
Betrachtet unsern Herrn: Sein Lehrvortrag – ausgenommen nach dem Abendmahl und allein vor seinen Aposteln, die Jünger waren nicht zugegen – ist kurz. Der Heiland erklärt seine Lehre, macht sie seinen Zuhörern verständlich durch Vergleiche und Gleichnisse, z.B. bei der Bergpredigt. Er wendet sich an jeden seiner Zuhörer und versetzt sich in die Fassungskraft jedes einzelnen Geistes.
Seine Zuhörer interessieren. Spricht er zu Fischern, dann sagt er: „Das Himmelreich ist einem Netze gleich, das ins Meer hineingeworfen wird.“ Ist er in Kafarnaum, der Zoll- und Handelsstadt, sagt er: „Das Himmelreich gleicht einem Kaufmann.“; er spricht von einem Geldinstitut. Redet er zu Bauern von Galiläa: „Das Gottesreich gleicht einem Acker…“, spricht vom Sämann, vom Unkraut.
Wendet er sich jungen Leuten zu: „Ein Vater hatte zwei Söhne; der jüngere kommt, um ihn um sein Erbteil zu bitten…“ Redet er zu Mädchen, dann führt er das Beispiel einer Hochzeit an: „Das Reich Gottes wird zehn Jungfrauen gleich sein.“ Seht, so muss man predigen:  seine Zuhörer studieren, sich ganz einfach an sie wenden, sich nicht verworrener Redensarten bedienen, gut gedrechselt und wohl einstudiert: das hieße das Wort Gottes profanieren. Lasst dem Wort der Wahrheit sein jungfräuliches Kleid!
Im Evangelium steht alles drin. Ihr kennt das Gleichnis jener indischen Akademie, wo die Gelehrten die bedeutsamen Bücher lasen und erklärten. Eines Tages fiel ihnen das Evangelium in die Hände. Der Präsident nahm es und las es vor. Nach Beendigung der Lektüre schwieg er, statt es zu erklären. „Aber Sie sagen ja nichts, statt es zu kommentieren“. Der Gelehrte nahm eine Vase und füllt sie so voll Wasser, dass kein Tropfen mehr Platz hatte und man kein Blatt hätte darauf legen können, ohne dass es sich überlief und sagte: „Zu diesem Buch, das wir lasen, lässt sich nichts hinzufügen, hier ist alles komplett, alles randvoll ausgefüllt.“
Tun, bevor man predigt. Predigt also das Evangelium, aber so, wie es unser Herr tat; indem ihr es zuerst ausführt, die Tugenden übt, die ihr lehren wollt: „Jesus begann zu handeln und zu lehren.“ Ihr predigt über die Buße. Tut also Buße! Dreißig Jahre lang übte Jesus alle Tugenden, bevor er sie von den andern verlangte.
An einem Festtag, der Darstellung Mariens, ging ich aus der Heimsuchung und trat in die Kapelle der Schwestern von der Göttlichen Vorsehung ein. Man war dort gerade im Begriffe, die Gelübde zu erneuern, und ihr Gründer, Pater Boigegrain hielt ihnen einen Vortrag. Er war schon sehr alt und sprach ganz einfach und familiär: „Mit wem wollt ihr eure Gelübde erneuern? Mit Maria und Jesus. Ihr müsst es machen wie Maria am Tag der Darstellung und wie Jesus am Tag der Reinigung. Die Gedanken und Empfindungen Mariens waren die gleichen wie die Jesu, weil sie diese vorher von Jesus gelernt hatte.“ Und nun begann er, die Gedanken, die Jesus und Maria bei dieser Gelegenheit empfanden, in so einfachen, aber so tiefgreifenden Worten zu entwickeln, dass mir die Tränen kamen. Gegen Ende dieses Vortrags bemerkte er, dass ein Fremder zugegen war und sagte: „Hochwürden, ich möchte Sie etwas fragen; versprechen Sie mir, die Wahrheit zu sagen. Sie sehen, dass ich recht alt bin. Früher schrieb ich meine Predigten auf, aber ich kann jetzt weder lesen noch schreiben. Glauben Sie, dass ich im Gewissen noch fähig bin, meinen Schwestern zu predigen?“ Ich antwortete ihm, er sei dessen noch in einem Maße fähig, dass er mich zu Tränen gerührt habe. Da seht ihr die Demut und Einfachheit dieses guten Greises, der so beredt war, indem er Jesus und Maria predigen ließ.