Exerzitienvorträge 1883

      

4. Vortrag: Die Liebe.

Die besondere Tugend der Oblaten. Eine Spezialtugend, deren Praxis sich dem Oblaten vor allen anderen Tugenden aufdrängt, ist die Nächstenliebe.

Sie ist das Gebot des Erlösers, sein neues Gebot: „Ein neues Gebot gebe ich Euch: liebet einander!“ (Joh 13,34). Im alten Gesetz hatte Gott zweifellos bereits die großen Umrisse gezeichnet, aber das war wirklich sein Neues Gebot.
Und die seligste Jungfrau? „Ich bin die Mutter der schönen Liebe“ (Eccl. 24,24). Diese Liebe ist schön, vor allen Tugenden, und Maria wollte die Mutter dieser Liebe sein.

Und der hl. Franz von Sales? Er wollte gar einen großen Orden gründen, wo die Liebe ohne sonstige Gelübde das einzige Band sein sollte. Finden wir das nicht ein bisschen in der Heimsuchung vor? Denn zusammen mit dem Gehorsam, was füllt ihre Satzungen denn aus, wenn nicht die Liebe?

Die Nächstenliebe hält eine gewisse Ordnung ein. Wie sieht diese Ordnung beim Oblaten aus?

Zunächst unsere Eltern. Widerspreche ich da wohl den Heiligen und Meistern des geistlichen Lebens? Nein, sondern ich werde sagen: Liebt eure Eltern und beweist ihnen diese Liebe durch das Gebet, das Gebet am Altar. Ziehen wir also Gottes Segnungen auf unsere Eltern herab! Stellen wir uns zwischen sie und Ihn, und sie werden bald die Wirkungen seiner Gnade spüren. Das Heil und Glück unserer Eltern muss uns am Herzen liegen. Selbst zur Zeit des hl. Franz von Sales und der Mutter Chantal drängten sich die Eltern um die Heimsuchung, um dort das Licht und die Gnaden Gottes zu empfangen.

Sodann unsere Mitbrüder in der Berufung. Das Maß unserer Liebe, die wir zu ihnen hegen sollen, ist das Maß der brüderlichen Liebe. Vor Gott sind wir Brüder, lieben wir uns also wie Brüder. Muss ich euch da Vorwürfe machen? Gott sei Dank, nein; ich danke Ihm für das, was ich sehe und höre. Könnten wir darin aber nicht mehr tun? Besonders jene, die irgendeine Autorität auszuüben haben, z.B. in der Art zu befehlen, zu tadeln? Wie liebe ich Franz von Sales in der Art, wie er seine Hausangestellten behandelte: „Franz, wenn es Sie nicht mehr stören würde, mir mein Brevier zu bringen…“ Übernehmen wir von ihm diese Art der Liebe! Das ist schwierig, ich weiß es… man muss dafür ständig sein Herz in der Gewalt haben.

Dann kommen jene Seelen an die Reihe, die uns anvertraut sind, denen Gott einen Teil unserer Gnaden zugedacht hat;  in denen wir einen Ruf des göttlichen Meisters feststellen, an denen Gott eine Berufung zu unserer Lebensweise offenbart. Schenken wir uns ihnen, öffnen wir ihnen unser Herz. Gewiss heißt es da klug und vorsichtig sein. Hier müssen wir zehn- und hundertmal mehr Vorsicht anwenden, um die Gefahren zu meiden, als um die Gnade zu fördern. Es ist da wie mit dem Feuer, das der Cherub vom Altare nimmt, nicht mit seinen Händen, noch weniger mit seinem Herzen, sondern mit der Goldzange vom Brandopferaltar (Is 6,6). Von dieser Einschränkung abgesehen, erweisen wir diesen Seelen all unsere Sorgfalt und Liebe! Unterstützen wir die Berufe, sie werden zahlreich sein. Man hat mir versprochen und versichert, ihre Zahl wird groß sein.

Schließlich kommen alle Seelen dran, die uns durch denselben Glauben verbunden sind und die uns noch inniger verbunden sein sollen durch die Bande der Liebe, da sie unsere Brüder und Schwestern sind. Maria kommt zu Jesus, zusammen mit Jakobus und Judas, den Vettern Jesu. Man sagte zu Jesus: „Deine Mutter und deine Brüder sind da und warten auf Dich.“ – „Wer immer den Willen meines Vaters im Himmel tut“, antwortete Jesus, „der ist mir Bruder, Schwester, Mutter“ (Mt 12,46-50).

Lieben wie also jene, die uns auf diese Art Brüder und Schwestern sind und meiden wir alles, was in Worten und Werken die Liebe verletzen kann.

Man möge uns verachten oder unterschätzen; aber nie soll man von uns sagen können, dass wir die Liebe nicht üben.