Exerzitienvorträge für die Novizinnen der Oblatinnen 1879

      

3. Vortrag: Über die Betrachtung – Fortsetzung; Vorbereitung auf den Tag

Dienstag Vormittag, 9. September 1879

Meine Kinder, wenn ich euch die Art erkläre, wie ihr die Betrachtung machen sollt, berufe ich mich auf das Wort unseres Herrn, er sagte: „Wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und rechnet, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? Sonst könnte es geschehen, dass er das Fundament gelegt hat, dann aber den Bau nicht fertig stellen kann. Und alle, die es sehen, würden ihn verspotten und sagen: Der da hat einen Bau begonnen und konnte ihn nicht zu Ende führen“ (Lk 14,28-39). Das Gebäude des Ordenslebens ist etwas sehr großes. Wenn ihr euch für einen so wichtigen Bau nicht fähig macht, setzt ihr euch der Gefahr aus, ihn irgendwann nicht fortsetzen zu können, und man wird über euch sagen: „Ah, sie wollte es besser machen als die anderen, sie machte es viel schlechter. Sie wollte Großes unternehmen und machte etwas sehr Kleines, sehr Elendes.“
Deshalb, meine Kinder, ist es sehr notwendig, dass wir unser um e Tag bei der Betrachtung vorbereiten. Wenn wir nicht Zeit haben, alle Übungen durchzuschauen, betrachten wir wenigstens die Handlungen, wo wir die meisten Fehler machen, um gute Vorsätze zu machen, sie zu vermeiden.
So werden wir also in der Morgenbetrachtung alles sehen, was wir tagsüber zu machen haben. Wir werden daran denken, wir werden Gott bitten, uns zu helfen. Wenn es uns an Mut fehlt, werden wir uns daran erinnern, was wir so oft unserem Herrn versprochen haben, und wenn wir ein wenig Herz haben, werden wir unser Versprechen halten.
Heute Vormittag will ich zu euch über die Beschäftigungen sprechen. Das ist sehr notwendig, denn die Arbeit ist kaum mehr an der Tagesordnung. Seht, wie die Mädchen zur Ziererei, zur Eigenliebe und auch zur Faulheit getrieben sind. So ist es ein wenig überall. Dennoch ist die Faulheit ein Verbrechen. Gott hat sie verflucht. Es heißt in der Heiligen Schrift: „Ich ging am Feld des Faulen vorbei, ich fand es schlecht gepflegt, mit Stacheln und Dornen bedeckt, und ich habe es verflucht“ (vgl. Spr 24,30-32). Seht noch die vom Propheten angekündigte Strafe: „Wegen eurer Verbrechen habe ich den Wurm an die Traube gesetzt.“ Das lässt sich gut auf unsere Zeit übertragen. Die heilige Jungfrau hat uns in La Salette damit gedroht. Derzeit gibt es in Frankreich vielleicht nicht mehr als ein Viertel der Weingärten, die etwas erzeugen. Man sagt, man habe ein Mittel gefunden, um die Weinrebe zu heilen. Und was ist das für ein Mittel? Das nicht wahrnehmbare Insekt zu vergiften, und wenn man es vergiftet, tötet man die Pflanze ab. Wahrlich das gute Mittel! Seht wie sich die Gerechtigkeit Gottes auf die Welt auswirkt. Das Übel ist heute tief und neigt dazu, überall einzudringen. Selbst das Ordensleben ist davon nicht ausgenommen. Ich greife euch nicht an, aber achtet gut auf die Versuchungen von Sinnlichkeit und Faulheit.
Man wird also am Morgen bei der Betrachtung an seine Arbeit denken. Es scheint mir, dass ich euch das wohl sagen kann. Ich glaube nicht, mir vor dem lieben Gott vorwerfen zu müssen, wenigstens seid meiner Erstkommunion eine Stunde verloren zu haben. Meine Eltern, meine Lehrer haben mich zu erzogen, ich habe immer auf sie gehört, und noch jetzt kann ich sagen, dass ich nicht eine Minute verliere! Wenn ich nicht arbeite, so ist es, weil ich nicht mehr kann. Mach es wie ich.
Alle müssen arbeiten! Das Gesetz der Arbeit ist ein allgemeines Gesetz. Gott gab es Adam im irdischen Paradies, um es durch seine Arbeit zu verschönern. Ohne Zweifel war ihm damals die Arbeit nicht mühsam, aber er machte daraus nicht weniger eine Pflicht. Aber seit dem Sündenfall ist der Mensch verurteilt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu verdienen. Niemand ist davon ausgenommen. Man muss arbeiten, entweder mit dem Kopf oder mit den Händen. Daran muss man ernsthaft denken, weil heute das Böse tief sitzt. Ihr habt keine Ahnung, wie weit es geht. Vor einiger Zeit sprach ich vor einer Versammlung frommer Seelen über die Heiligkeit der Arbeit, über das Glück, in der Nachfolge der heiligen Jungfrau zu arbeiten. Wohlan! Jeder ärgerte sich über mich, dennoch hatte ich niemanden angegriffen, ich war vorsichtig gewesen.
Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis sagte, dass der liebe Gott über die Arbeit der Ordensgemeinschaft wacht. Das also lehre ich euch von ihr, meine Kinder. Macht euch die Arbeit zur Gewohnheit. Ihr werdet alles gut machen, was ihr zu machen haben werdet. Wenig wichtig, was man euch befehlen wird, es wird der Wille des lieben Gottes sein. Die Oberinnen haben den Geist des lieben Gottes, man muss sich beschäftigen lassen. Es wird vielleicht für eine Arbeit sein, für die wir kein Geschick haben werden, wir würden etwas anderes besser machen, es ist gut, wir werden davon nur mehr Verdienste haben, wir sind Nonnen!
Fragt euch also bei der Betrachtung: „Bin ich nicht faul? Mache ich alles gut, was ich muss? Mein Gott, verwende ich alle Quellen des Verstandes und des Willens, die du mir gegeben hast?“ Eine Nonne muss bereit sein, durch Wasser und Feuer zu gehen, um zu machen, was der liebe Gott will. Sie muss an ihre Aufgabe gehen, wie ein Soldat in den Kampf geht. Wenn der Hauptmann zu ihm sagt: „Marschier!“ gehorcht er, und das kann ihm viel kosten, vielleicht sogar das Leben.
Prüft euch gut über das, was man euch zu tun gibt. Macht ihr ganz? Mit Mur oder mit Gleichgültigkeit? Seid ihr faul, fahrlässig, schleppt ihr euch von einer Sache zu einer anderen, als ob ihr euch ihrer entledigen wolltet, ohne den geringsten Mut hineinzulegen? Glaubt ihr, dass unser Herr und die heilige Jungfrau so gearbeitet haben?
Meine Kinder, wenn der liebe Gott eine Nonne so handeln sieht, verlässt er sie und dann fällt sie sehr tief. Nichts ist so abstoßend wie eine Nonne, die so kraftlos arbeitet. Prüft euch in diesem Punkt schon am Morgen, bereitet euch darauf vor, eure Beschäftigung mit Herz zu verrichten; sagt euch: „Wer befiehlt mir zu kochen? Der liebe Gott. Und wenn es nicht sein Wille wäre, würde ich etwas anderes machen.“ Sehr also gut, ob ihr eure Beschäftigung mit Herz, mit Mut macht, wenn ihr macht sie für den lieben Gott. Der Beweis dafür ist, dass ihr sie nicht verrichten würdet, wenn ihr euch ihm nicht geschenkt hättet. Prüft also, ob sich die Faulheit euer bemächtigt, oder ob ihr eifrig seid, ob ihr euer Amt mit Hingabe, mit einem großmütigen Schwung ausführt.
Bemüht euch bei eurer Arbeit, meine Kinder, legt allen nötigen Ernst hinein, denn der liebe Gott hat uns auf die Erde gestellt, um zu arbeiten. Ohne die Liebe zur Arbeit würden wir nichts erreichen, nichts machen. Ich lenke eure Aufmerksamkeit bei der Morgenbetrachtung auf eure Beschäftigungen. Ihr werdet ihr einen großen Teil einräumen, denn sie ist die Grundlage des geistlichen Palastes, den ihr erbauen wollt. Arbeitet mit Eifer und ich verspreche euch einen sehr hohen Platz im Himmel. Die Arbeit hat in sich eine solche Erhabenheit, dass nach dem heiligen Augustinus Gott sie sogar in seinen Feinden belohnt. Umso mehr belohnt er sie bei jenen, die ihn lieben! O, wenn ich Jesus als kleines Kind im Arbeitsgewand sehe, und als er sich später mühte, um das tägliche Brot zu verdienen, wenn ich ihn auf seinen apostolischen Wanderungen sehe, wie er zu Fuß auf den schwierigen und bergigen Wegen geht, die von Nazaret nach Jerusalem führen, wenn ich ihn in der prallen Sonne Judäas sehe, wie er am Rand eines Brunnes sitzt und auf die Nahrung wartet, um die zu holen seine Jünger in die Stadt gegangen sind, o, dann verstehe ich die Heiligkeit der Arbeit! Und dort bei diesem Brunnen höre ich unseren Herrn mit der Samariterin sprechen. Er bittet sie um Wasser. Sie erklärt ihm die Schwierigkeit, die sie hat, um welches aus diesem so tiefen Brunnen hochzuziehen und der Heiland sagt zu ihr: „Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, dann hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“ „Bist du etwa größer als unser Vater Jakob,“ sagte sie, „der uns den Brunnen gegeben“ (Joh 4,10.12). Unser Herr belehrte und bekehrte diese Frau. Das Wasser, das er von ihr verlangte, was das Wasser der Arbeit. Die Samariterin konnte es nur mit großer Mühe mit der Kraft ihrer Arme schöpfen, und unser Herr sagte ihr, dass er als Belohnung dieser Arbeit ein Wasser hat, das bis zum ewigen Leben quillt. Seht, welche Gnaden unser Herr an die Arbeit bindet. Alle Heiligen habe es verstanden.
Der heilige Franz von Sales ist mit 55 Jahren verstorben, und dennoch haben wenige Heilige so viel Arbeit geliefert wie er. Er war in allem sehr langsam, seine Langsamkeit machte manchmal seine Umgebung ungeduldig, und dennoch grenzt, was er alles machte und schrieb, an ein Wunder. Er hatte dem lieben Gott versprochen, keine Minute zu verlieren, und er verlor keine einzige.
Meine Kinder, wir sind nicht nur die Kinder der Heiligen, sondern wir sind auch ihre Nachfolger in ihren Arbeiten. Deshalb werden wir bei unserer Morgenbetrachtung an Jesus in der Werkstatt von Nazaret denken, wie er dort arbeitet und sich abmüht. Wir werden ihn bitten, unsere Arbeit zu segnen und zu heiligen. Amen.