Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1889

      

8. Vortrag: Über die Frömmigkeit in der Nächstenliebe

Freitag Abend, 6. September 1889

Wir haben schon über die verschiedenen Frömmigkeiten gesprochen, die das Fundament der Seele einer Oblatin des heiligen Franz von Sales sein müssen. Es bleibt mir noch, euch eine letzte ganz besonders zu empfehlen, nämlich die Frömmigkeit in der Nächstenliebe. Wie ist man in der Nächstenliebe fromm? Ich werde es euch sagen. Wenn ich die Briefe und das Evangelium des heiligen Johannes aufschlage, sehe ich, dass die Liebe dort nicht nur wie ein Akt einer vernünftigen Tugend dargestellt wird, sondern wie ein Instinkt unserer Natur, wie ein Glück, ein Glücksgefühl, das unsere Seele braucht. So muss man sie ins Auge fassen. Vergessen wir jedoch nicht, dass die Liebe zum Nächsten eine sehr große und eine sehr vollkommene Tugend verlangt. Wenn sie das Gebot schlechthin ist, ist sie auch die am schwersten zu übende Tugend. Was schön ist, kostet immer sehr viel.
Übt die Frömmigkeit in der Nächstenliebe wie sie unser Herr und der heilige Johannes sie uns lehrten. Eure Seele sei tief gesammelt und die Liebe herrsche darin wie etwas ganz Göttliches, stark genug, um eure Neigungen zu beherrschen und gleichzeitig wie etwas Sanftes, Einfaches, Hingebungsvolles, das ganz den lieben Gott atmet.
Was soll man tun, um dahin zu gelangen? Ihr werdet es durch ein Beispiel verstehen. Ich nehme einmal an, ihr habt ein Problem mit einer Mitschwester. Ihr zollt dem keine große Aufmerksamkeit und ihr werft es euch auch nicht groß vor. Denn andererseits erfüllt ihr eure Pflicht, seid ihr treu in den verschiedenen Punkten eurer Ordensregel und haltet euch sogar für ein wenig fromm … Das ist sehr gut. Aber bei dieser Mitschwester empfindet ihr einen gewissen Gegensatz. Euer Herz fühlt sich ihr gegenüber nicht wohl. Ist das Nächstenliebe? Nein, und infolge dieses Gefühls macht ihr einen Fehler. Und wenn ihr diese Antipathie in euch nährt, fehlt ihr am Geist eurer Berufung. Ihr habt vielleicht ziemlich richtige Gründe für das Gefühl dieser Abneigung, aber, ich wiederhole es, ihr dürft ihr nicht folgen. Es ist keine Sünde, sie selbst stark zu empfinden, es ist aber böse, ihr zuzustimmen. Bemüht euch also, diese Gefühle zu beherrschen. Es wird euch leicht fallen, wenn ihr Gott liebt. Vielleicht habt ihr Seelen gekannt, die sich ganz unserem gekreuzigten Herrn, dem Schmerz, der Prüfung hingaben und sagten: „Mein Gott, ich nehme an zu leiden, was du willst, ich liebe dieses Kreuz, das mir von dir zukommt.“ Meine Kinder, gebt auch ihr euch dem Leiden der Liebe hin. Es ist wirklich die Hingabe an den gekreuzigten Heiland, zum beschimpften, geschmähten, mit Dornen gekrönten Jesus. Man muss ihm sagen, dass auch ihr wollt, was er will, dass ihr liebt, was er im Nächsten liebt, nicht mit eurem natürlichen Gefühl, sondern mit eurem Herzen. Seid fromm und hingebungsvoll bei allen Akten der Nächstenliebe, vor allem bei denen, die euch mehr kosten. Je größer die Schwierigkeit ist, desto mehr Milde der Nächstenliebe muss in eurer Seele sein. Wie kann man da hingelangen? Bereitet euren Tag in diesem Punkt in der Betrachtung vor. Überlegt, was an Unangenehmem auftauchen könnte und bittet den Heiland, euch zu helfen. Wenn ihr dann ein lebhaftes Gefühl der Ablehnung, der Zurückweisung empfindet, sagt: „Mein Gott, lass nicht zu, dass ich unterliege. Ich will mich an dich binden, dich lieben, und um es dir zu beweisen, nehme ich deinen Willen an, liebe ich, was du in diesem Augenblick zulässt, schenke ich mich dir rückhaltlos.“ Dann betet man ein wenig, macht eine geistige Kommunion, spricht ein Laudate für die Mitschwester, zu der man dieses Gefühl der Abneigung hat, und man nimmt sich fest vor, bei der ersten Gelegenheit sagt, herzlich, entgegenkommend zu sein. Trefft eure Maßnahmen, um dahin zu gelangen.
Versteht wohl den Gedanken des heiligen Johannes über die Nächstenliebe. Es ist der des heiligen Franz von Sales und unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis. Wenn man die Schriften des Lieblingsjüngers liest, fühlt man, dass sein Herz durchdrungen war von diesem Werk der Liebe, von diesem Gefühl der Liebe zu seinen Jüngern, die ihm folgten, und vor allem zu seinen Feinden. Er wünschte nur eines: die Liebenswürdigkeiten der Nächstenliebe. Habt auch ihr diese Hingabe zu allen, die euch nicht passen, für die ihr Differenzen spürt. Ihr werdet mir sagen: „Ich bin sehr unglücklich, niemand gefällt mir, passt mir! Ich finde bei allen Fehler. Von denen, die gut sind, denke ich, dass ihre Vollkommenheit nicht sehr groß ist; über die, die Urteilsvermögen und Verstand haben, sage ich mir, dass sie sich Illusionen machen, dass sie nicht viel wissen; das ist nicht wahr, ich weiß es, aber dennoch fühle ich es.“ Das kann sein, meine Kinder, ich kritisiere euch deswegen nicht, aber ich würde euch kritisieren, wenn ihr diese Eindrücke nicht sogleich zurückweisen würdet, wenn ihr sie nicht nützen würdet, um einen Akt der Gottesliebe zu machen, und sofort sagt: „Herr, ich übergebe es dir, es ist für dich.“ Die Liebe opfert sich, es gibt keine Gottesliebe ohne Verzicht. Übt also fromm die Nächstenliebe. Es wird euch Ruhe und Frieden geben. Eure Seele und sogar eure Gesundheit werden gewinnen und ebenso alle, die euch umgeben. Ihr werdet also den Himmel verdienen, ihr werdet den Anteil verdienen, die Belohnung, die unser Herr versprochen hat.
Die Nächstenliebe ist die Frömmigkeitsübung schlechthin, und wenn ich auf ihrer Übung beharre, so ist das deshalb, weil man durch sie zur Vollkommenheit gelangt. Wenn ihr sie vollständig übt, werdet ihr Heilige und große Heilige sein. Dieser Aufschwung der Liebe gibt der Seele die Kraft, die größten Hindernisse zu überwinden, und sie mit der Begeisterung des Aufopferns zu überwinden. Betrachtet unseren Herrn Jesus Christus: Ihr kennt sein Leben, sein Leiden, seinen Tod. Sein Antrieb war die Nächstenliebe. Sie war in ihm im höchsten Grad. Findet in allem, in jedem Umstand das Mittel, diese größte Liebeshingabe zu üben. Hängt euer Herz daran, in dem ihr liebt, was Gott zulässt, und seinen Willen anbetet, dann werdet ihr auf dem Weg der Heiligkeit sein.
Es heißt in der Heiligen Schrift: „Beim ersten Ausdruck deines Willens schmolz meine Seele in Liebe, in der Liebe zu dir.“ Lernt also, in allen mühevollen Umständen, in allen Schwierigkeiten mit dem Nächsten, die Zulassung, den Willen Gottes zu sehen, um darin die himmlische Nahrung der göttlichen Liebe für eure Seelen zu finden. Was macht uns Leben aus? Was wir lieben, woran wir uns hängen, sonst haben wir kein Sein, das Übrige ist uns fremd. Bindet euch also an den Heiland, an seinen göttlichen Willen. Die Seelen, die ganz dem lieben Gott gehören, verstehen das gut. Sie haben Achtung und Ehrfurcht vor den göttlichen Dingen, vor seinen geringsten Zulassungen und folglich vor den Personen, die ihnen Kummer und Schmerz bereiten. Es ist sehr schön, was ich euch in diesem Augenblick vortrage. Ich möchte selbst dort sein! Betet zum lieben Gott, dass ich hingelange, ich werde auch für euch beten.
Macht euch an diese Arbeit, oder versucht wenigstens euch darin zu üben. Wenn ich so zu euch spreche, erfinde ich keine schönen Theorien. Was ich euch sage, sah ich von Seelen ausgeführt, die Gott liebten, und die er selbst liebte. Das ist nicht leicht und man darf nicht damit rechnen, beim ersten Anlauf gleich hinzukommen, aber ihr verliert nicht den Mut, und wenn ihr nicht sehr gut gehandelt habt, wenn ihr euren Ärger, eure Abneigung nach Außen gezeigt habt, werdet ihr demütig unserem Herrn sagen: „Mein Gott, ich bitte dich um Verzeihung, ich komme zu dir zurück, schenke mir diese Liebe, die unser Vater uns empfiehlt.“ Und der liebe Gott wird euch erhören, ich verspreche es euch. Wenn ihr alle, vor allem ihr, die ihr gleich euer Ordensleben beginnen werdet, doch das für euch mitnehmen könntet!
Das ist keine Ermahnung, keine Predigt, die ich euch halte, meine Kinder, aber ich sage euch – weil es meine Pflicht ist, es zu tun – was ihr tun müsst. Ich zeige euch, worauf ihr euch einlasst, ihr gebt euch ja für euer ganzes Leben hin. Wenn ihr getreu befolgt, was ich euch empfehle, habt ihr den lieben Gott bei euch, tragt ihr ihn überall hin. Seht, wie die Leute, die sehr christlich sind, wie die guten und heiligen Nonnen alle diese Grundlagen einer großen Nächstenliebe haben! Was berührt uns an ihnen? Nicht, dass wir sehen, dass sie Rosenkränze beten oder bei der Betrachtung lange auf den Knien bleiben, nicht einmal, wenn sie große Taten vollbringen; nein, es berührt uns ihre Frömmigkeit und Hingabe in der Nächstenliebe. Wir sind überwältigt, es gibt nichts Größeres darüber als den lieben Gott, nichts kommt dieser Frömmigkeit gleich. Kommen wir schon beim ersten Versuch dorthin? Nein, aber wenn wir daran arbeiten, werden wir hingelangen, und dann werden wir, wie der Apostel sagt, der gute Duft Jesu Christi sein. Die Nonne, die diesen mystischen Duft um sich herum verströmt, ist heilig, und sie konnte es nur durch die Übung der Nächstenliebe werden.
Man möge aufschreiben, was ich sage, es wieder lesen, es sei das Fundament eurer Seele, eures Seins, eures ganzen Lebens. Alle eure Handlungen, eure Art zu handeln, zu sehen, zu reden seien von dieser Frömmigkeit in der Nächstenliebe inspiriert, die ich euch in diesem Augenblick empfehle. „Dies ist mein Gebot“, hat unser Herr gesagt. Durch die Mildtätigkeiten der Nächstenliebe für seine Auserwählten werden wir sein Herz gewonnen haben. „Ihr ward liebevoll, demütig, ihr habt euch rückhaltlos hingegeben“, wird er zu ihnen sagen, „kommt, ihr seid meine Geliebten.“ Aber zu den anderen wird er sagen: „Ihr habt die Nächstenliebe nicht geübt, ihr hattet für eure Nächsten nicht die Aufmerksamkeiten, die ihr hättet haben müssen, geht, Verfluchte, ich kenne euch nicht!
Wie der heilige Johannes in Ephesus sage und wiederhole ich oft dasselbe: „Handelt so, meine Kinder. Wenn ihr diese Vorschrift einhaltet, werdet ihr das ganze Gesetz des Herrn erfüllen.“ Seht, wie der Heiland diese Frömmigkeit und Hingabe in der Nächstenliebe hatte. Er wurde geboren und lebte für uns, er gab all sein Blut für uns. Welch größeres Zeichen von Liebe kann es geben, als alles hinzugeben, selbst sein Leben? … Wollt ihr unseren Herrn lieben? Wollt ihr sein Herz entzücken? Dann seid fromm in der Nächstenliebe, gebt alles, was euch etwas kostet, in euren Beziehungen zum Nächsten. Warum wurde die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis vom lieben Gott so sehr geliebt? Weil ihr Leben ein ständiger Akt der Nächstenliebe war. Sie hatte alle Liebenswürdigkeiten der Liebe. Ich wiederhole es, ich sah sie nie irgendwie dagegen fehlen. Warum hatte sie nach der Heiligen Messe ein verklärtes Gesicht? Weil sie das Gebot des Herrn befolgt hatte, und so die wertvollsten Gnaden verdiente. Ihre Seele war geschmolzen beim Wort des Meisters, der ihr gesagt hatte: „Wahrlich, was du den anderen tust, das tust du mir.“
Lasst euch von dieser Wahrheit durchdringen, meine Kinder. Macht sie zum Fundament eures Lebens. Eure Exerzitien für eure Einkleidung und eure Profess sind so wichtig. Es ist der Ausgangspunkt eures ganzen Seins. Schlagt also den richtigen Weg ein. Wenn ihr nach Paris reisen wollt, nehmt ihr nicht die Straße nach Lyon; wenn ihr Oblatinnen des heiligen Franz von Sales sein wollt, ist da euer Weg, es ist der Weg der Nächstenliebe. Wenn ihr eine andere Richtung einschlagt, werdet ihr nie zu eurem Vaterhaus kommen, werdet ihr nie das Kind des heiligen Franz von Sales sein.
Bittet also unseren Herrn, der euch gleich segnet, um diese milde, zarte, liebevolle, beständige und sehr demütige Frömmigkeit und Hingabe in der heiligen und göttlichen Nächstenliebe. Amen.