11. Vortrag: Das Glück der Ordensberufung
Sonntag, 8. September 1889
Meine Kinder, ihr habt euch soeben dem lieben Gott in der Einsamkeit ganz geschenkt (die Feier fand in der Kapelle in Morangis statt), weit ab der großen Städte, aber ihr seid nicht fern von euren Familien, nicht fern von dem, was Gegenstand eurer besten Zuneigung ist. Es scheint sogar, dass in der Vertrautheit des heutigen Festes etwas sehr Sanftes für das Herz liegt, denn unser Herz hat die Eigenheit, dass es, wenn es ein großes Glück genießt, um sich daran zu erfreuen, sich friedlich und still in einem sehr engen Kreis wahrer und aufrichtiger Zuneigungen befinden muss. Deshalb ist man im Allgemeinen mehr an sein kleines Dorf gebunden, als man es an eine große Stadt sein könnte. Der heilige Ludwig, König von Frankreich, unterschrieb nie mit „Ludwig von Frankreich“, sondern immer mit „Ludwig von Poissy“, ein kleines Dorf in der Umgebung von Paris, wo er getauft worden war. Er liebte mehr die bescheidene Kirche dieses Ortes und das kleine Umfeld, das bei seiner Taufe zugegen war, als die Kathedrale Notre Dame und das strahlende Gefolge der Herren und Barone von Frankreich, die bei diesen Feiern dabei gewesen wären, wenn sie in Paris stattgefunden hätten. Dankt sehr dem lieben Gott für die zarte Aufmerksamkeit, die er euch schenkte. Wenn ihr fern von der Umgebung seid, in der ihr euch gewöhnlich befindet, so seid ihr nicht fern vom lieben Gott und von denen, die euch lieben. Ihr seid von ehrenwerten Geistlichen umgeben, die euch durch ihre Gegenwart auf den Weg ermutigen wollen, den ihr nun betreten werdet, und deren Gebete für euch eine sehr wertvolle Hilfe sind.
Die Krone, die ihr tragt, zeigt an, dass ihr eine Vereinigung eingehen werdet, und mit wem? Mit dem lieben Gott. Die Welt glaubt, dass es etwas Trauriges ist, sich dem lieben Gott zu schenken. Zwar hat die heutige Feier für einige etwas Ernstes und sogar Trauriges; bei den weltlichen Vereinigungen ist am Hochzeitstag alles nur Fest und Freude, aber nachher vergießt man mehr als eine Träne, und diese Tränen sind manchmal sehr bitter! … Bei der Hochzeit der Gemahlinnen Jesu Christi vergießt man ohne Zweifel einige Tränen, da man glaubt, dass die Trennung endgültig ist, aber nachher fließen keine mehr. Ich bin alt, ich habe viele Nonnen kennengelernt. Nun? Unter allen, die treu waren, sah ich nie eine einzige über ihre Berufung weinen und bedauern, sich dem lieben Gott geschenkt zu haben.
Liebe Eltern, diese Kinder, die ihr dem lieben Gott schenkt, werden nie eine Träne über ihre Berufung vergießen, ich bestätige es euch. Die Nonnen haben sicher ihre Prüfungen, ihre Leiden; sie wären sicher nicht die Gemahlinnen eines gekreuzigten Gottes, würden sie auf ihrem Weg nicht Mühe und Abtötung antreffen. Aber sie haben sich dem lieben Gott geschenkt, er ist stets bei ihnen, um sie zu stützen, sie fühlen ihn, sie sehen ihn, sie finden in ihm die Hilfe und Stütze, die sie brauchen. Ohne Zweifel hat die junge Nonne nicht die Freuden der von kleinen Kindern umgebenen Mutter, die sie lieben; aber welche Mutter hat über ihren Sohn, ihre Tochter nicht geweint? Muss sie nicht auch die Prüfungen, die Arbeit, die Krankheiten, die Unglücksfälle fürchten? …. Sie kann sich auf alles gefasst machen. Die Freude der Familienmutter kosten viel, sie kosten sehr viel! …
Ihr seid übrigens nicht der Zuneigung beraubt, meine Kinder, ihre wisst es. Ihr habt Mädchen um euch, die euch ihre Schwester, ihre Mutter nennen. Wenn sie euch verlassen haben, kommen sie euch gerne wieder besuchen, und bis zu ihrer Todesstunde halten sie euch die treueste Dankbarkeit. Ihr habt also die Weltlichen um nichts zu beneiden, euer Anteil ist groß und schön, und wenn euer Herz das Bedürfnis hat, großmütig geliebt zu werden, wird es sich mühelos verschenken, hingeben können.
Fürchtet nicht, liebe Eltern, dass dieses Leben der Hingabe eure Tochter von euch trennt. Die Nonne, die sich dem lieben Gott schenkt, wird nie andere Zuneigungen haben als die zu ihrer Familie. Die Zärtlichkeit ihrer Mutter wird immer zurückgezahlt werden, das Vertrauen ihres Vaters wird nicht getäuscht werden, ihre Geschwister werden bei ihr immer Rat und Hilfe finden. Sie wird für euch ihren Familiennamen behalten, sie wird viel mehr Tochter und Schwester sein, als wenn sie sich in der Welt niedergelassen hätte. Wird ihre Einsamkeit nicht immer für einen Vater sein, der leidet, für eine Mutter, die sich müht, für einen ausgesetzten Bruder, für eine Schwester, die sie braucht?
Liebe Kinder, ihr werdet gleich dem lieben Gott sagen, dass ihr ihm gehört, und der liebe Gott wird euer Geschenk entgegennehmen, er wird auf diesen Liebesakt antworten, in dem er euch viel Kummer und viele Ängste erspart. Der Weg, der sich vor euch öffnet, ist gesichert, das Ziel, dem ihr zustrebt, ist gewiss. Wiederholt oft nach unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis: Vias tuas demonstra mihi et semitas meas edoce me. Herr, zeige deine Wege meiner Seele und lehre sie die Wege, auf denen man bis zu dir geht.
Diese Wege werden euch, meine Kinder, zum vertrauten Leben eurer Seele mit dem lieben Gott führen. Was belebt und erhält das Leben? Es ist das Herz. Es braucht das Mädchen Nahrung für sein Herz, da ist sein ganzes Leben, außerhalb davon ist sein Tod. Werdet ihr also diese Freuden, diese Glücksgefühle nicht haben, die euer Herz braucht? O, doch, ganz sicher. Ihr werdet sie in eurer Vereinigung mit dem Heiland finden. Schon beim Erwachen am Morgen schenkt ihr euch ganz dem lieben Gott. „Herr, alle Handlungen meines Tages werden für dich sein, ich will stets bei dir bleiben.“ Und unser Herr antwortet euch: „Sei großmütig und treu, ich werde bei dir sein in deinem Kummer, in deinen Prüfungen.“ Und tatsächlich werdet ihr ihn tagsüber nicht verlassen, und ihr werdet in dieser Vereinigung mit ihm das süßeste und vollständigste Glück finden. Welche Tröstungen habt ihr nicht auch in euren Werken, bei den Mädchen, den Kindern, mit denen ihr betraut seid! Ihr betet für sie, und es ist so gut, für die Seelen zu beten, mit denen man sich beschäftigt, zu fühlen, dass man ihnen Gutes tut.
Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis machte mir große Prophezeiungen über unser Werk. Man hat sie nicht schriftlich aufbewahrt, das könnte Unannehmlichkeiten bereiten, denn gewisse Personen, um die es in diesen Prophezeiungen geht, leben noch. Sie hat mir angekündigt, dass uns große Prüfungen treffen werden, aber dass diese Prüfungen vorbeigehen werden, nachdem sie der Gemeinschaft viel Gutes getan hätten. Sie würden ihr ein Siegel der Ähnlichkeit mit unserem Herrn verleihen. Als die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis von euch sprach, sagte sie: „Es wird durch sie viel Gutes geschehen, man wird fühlen, dass die Hand des Heilands wirkt.“ Wir sehen schon, dass sich diese Prophezeiung für unsere Missionsschwestern erfüllt, die in diesem Augenblick in fernen Ländern sind, wohin das Evangelium noch nicht vorgedrungen war. Der liebe Gott umgibt ihr Amt mit unsagbaren Tröstungen. Diese kleinen Hottentotten bringen ihnen ihre ganze Seele, ihr ganzes Herz entgegen und unsere Ordensschwestern können mühelos die Keime des Glaubens und der Tugend hineinlegen. Was ist frischer, anmutiger als die Briefe, die uns diese Kinder schreiben! Man fühlt, dass unsere Missionarinnen wirklich ihre Gedanken und Gefühle inspirieren und lenken. Dankt also dem lieben Gott, meine Kinder. Wie ist euer Anteil schön und glücklich! Wie gut ist der Heiland, dass er euch gerufen hat! Schenkt euch ihm rückhaltlos.
Liebe Verwandte, liebe Freunde, lasst sie nicht allein zum Altar kommen; mögen eure Herzen sie hinbegleiten, damit der liebe Gott euch mit dem Blick der Liebe umfängt, den er in diesem Augenblick auf sie wirft, und euch, eure Familien, eure Arbeiten, eure Pläne segnet … Bitten wir den Heiland, dass das Herz dieser lieben Kinder immer ihr Mädchenherz bleibt, dass er ihm alle Zärtlichkeit und alle Feinheit bewahrt, damit wir sie eines Tages so wiederfinden, wie wir sie gekannt und geliebt haben, um uns gemeinsam im Himmel zu freuen, wo es keine Trennung mehr geben wird, wo das Glück unendlich und grenzenlos sein wird. Wir werden dort alle um den Thron Gottes sein und für immer das Lied der Seligen und der Heiligen singen, das ewige Halleluja, das unser Vereinigungswort und unser Liebeslied sein wird. Amen.
Gott sei gebenedeit.