Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1889

      

10. Vortrag: Über das Gelübde der Armut und der Keuschheit

Samstag Abend, 7. September 1889

Meine Kinder, ich habe euch noch ein Wort über die Gelübde der Armut und der Keuschheit zu sagen.
Um das Gelübde der Armut gut zu verstehen, muss man sich vorstellen, dass man tot ist. Ein Toter hat kein Geld und braucht keines. Ein Toter beschäftigt sich nicht mehr mit seinen Interessen, mit dem, was er hat, und was er nicht hat. Er kann nicht mehr über das verfügen, was ihm während seines Lebens gehörte. Wir müssen also ganz wie Tote sein, das heißt, dass wir uns an überhaupt nichts hängen, dass es nichts bei uns gibt, das nach Besitz riecht. Wenn wir etwas haben, das von unseren Eltern kommt, können wir es nicht mehr verwalten, es gehört uns nicht mehr. Wenn uns etwas durch Erbschaft zufällt, können wir sagen, wofür wir wünschen, dass es gemäß der Verfügungen verwendet wird, die wir vor der Profess getroffen haben. Aber von uns aus können wir nicht darüber verfügen. Wir können nichts für uns besonders haben, wir können ohne besondere Erlaubnis über gar nichts verfügen.
Man muss dieses Gelübde gut verstehen und gut üben. Ich kenne Gemeinschaften, wo man es abgelegt hat und dennoch nicht einhält. Aber man wird nie die unzähligen Übel erfahren, die zerstörend über diese Gemeinschaften kamen. Der liebe Gott ist in diesem Punkt äußerst streng, denn die Armut ist die Hauptsache des Ordenslebens. Eine Nonne, die sie nicht übt, ist keine Nonne, und sie setzt sich der Gefahr aus, vom lieben Gott streng behandelt zu werden.
In einem Kloster sah ich eine Ordensschwester sterben, die die Armut nicht geübt hatte. Sie hatte die sonderbare Eigenheit angenommen, alles, was sie fand, aufzuheben. Bleistiftstummel, Seifenstücke, Federn, alte Fingerhüte, und das alles gab sie in verschiedene Schachteln. Diese Nonne fehlte dadurch gegen die Armut, da sie ohne Erlaubnis handelte. Sie war nicht glücklich und sie war eine der am wenigsten erbauenden Ordensschwestern. Eines Tages fand man auf dem Dachboden die Schachteln, in denen sie alle diese alten Gegenstände anhäufte, und man sagte es der Oberin. Die Ordensschwester wurde dadurch sehr gedemütigt, bat um Verzeihung, blieb aber einige Zeit, ohne sich über den Fehler, den sie gegen die Armut begangen hatte, Rechenschaft abzulegen. Schließlich schickte ihr der liebe Gott eine furchtbare Krankheit; sie, die sehr aktiv war, wurde auf völlige Unbeweglichkeit eingeschränkt. Eines Tages sagte ich zu ihr: „Meine Schwester, verstehen Sie, warum Sie so sehr leiden?“ „Nein“, sagte sie mir zuerst. „Bitten Sie den lieben Gott, dass er Sie erleuchte.“ „O, mein Vater“, sagte sie mir ein wenig später, „ich verstehe … es ist, weil ich gegen die Armut gehandelt habe. Nun, ich nehme an, was der liebe Gott will.“ Sie hat so einige Monate gelitten und ist schließlich in einer guten Veranlagung gestorben; aber ich musste denken: „O, wie streng ist der liebe Gott wegen einiger Stückchen Seife! Wie teuer lässt er sie bezahlen!“
Wenn ihr etwas behalten wollt, meine Kinder, sagt euch wohl, dass es eine Versuchung ist, und habt den Mut, euch davon zu trennen. Hängt euch an nichts, und dann wird euch der liebe Gott gestatten, euch an ihn zu hängen, und er wird euch selbst geben, was ihr brauchen werdet. Macht es nicht wie diese Ordensschwester, die so hart bestraft wurde. Aber es ist nicht genug, nichts Eigenes zu besitzen. Man muss auch sehr sorgfältig sein, sorgfältig wie die Armen, mehr als die Armen, um zu bewahren, was wir in Gebrauch haben. Bedenken wir, dass unsere Kleidung und alle Dinge, deren wir uns bedienen, der Gemeinschaft oder eher dem lieben Gott gehören. Die Armen bewahren ihre Sachen möglichst lange, weil sie nicht die Mittel haben, andere zu kaufen. Haltet also eure Kleidung und alles, was man euch anvertraut, gut in Ordnung, damit alles um euch herum diese Sorgfalt, diesen Geist der Armut atmet, der einer Nonne gebührt.
Seid also sehr arm; seid es euer ganzes Leben lang und bis zum Augenblick eures Todes. Im Heimsuchungskloster war ich wirklich erbaut zu sehen, wie man die Klosterschwestern betreute. Man machte wohl, was der Arzt gesagt hatte, man verabreichte, was der Kranken Erleichterung bringen konnte, aber man hätte nie außergewöhnliche, teure, erlesene Heilmittel anwenden wollen, die nach der Welt riechen. Man hat das Gelübde der Armut abgelegt, man muss in Armut sterben. Das scheint hart, aber wenn man anders handelt, ist der liebe Gott sehr unzufrieden und straft streng. Wenn man sehr krank ist, muss man den Willen des lieben Gottes annehmen und sich dem fügen, das er zulassen wird. Ich sehe nicht gern sterben, ich halte vielmehr meine Welt möglichst fest. Aber ich würde mir einen Vorwurf machen, zu versuchen, euch durch Mittel zu bewahren, die mit der Strenge des Ordenslebens wenig übereinstimmen. Seien wir also zweifellos vorsichtig, nehmen wir Zuflucht zu den Erleuchtungen und zum Engagement der menschlichen Kunst, aber setzen wir unser Vertrauen in den Arzt der Ärzte, unseren Herrn.
Es müssen also, meine Kinder, die Kranken das Gelübde der Armut verstehen, um nicht öfter als notwendig den Arzt zu Rate zu ziehen, nicht allzu erlesene Heilmittel zu verwenden und nichts zu machen, was die Armen nicht machen würden. Wir sind arm, wir müssen leben und sterben wie Arme. Und wie oft hörten wir nicht sagen: „Ah! Wenn wir reich wären, würden wir Heilmittel kaufen!“
Man muss also in der Krankheit, das Gelübde der Armut genauso einhalten, wie wenn es einem gut geht. Beachtet es mit gleicher Hingabe bei der Nahrung. Ohne Zweifel braucht man eine gesunde und ausreichende Nahrung, aber keine erlesene, die nach Welt, nach Luxus riecht. Gehen wir gutmütig, einfach damit um, wie es der heilige Franz von Sales machte. Wenn uns das vorgesetzte Essen nicht passt, nehmen wir es wie Arme aus der väterlichen Hand Gottes an. Seien wir treu in der Ausübung der von der Ordensregel vorgeschriebenen Abtötung. Wenn wir so arm sind, gleichen wir dem heiligen Josef, der heiligen Jungfrau, unserem Herrn. Die Heilige Familie lebte in Nazaret in Armut! … Aus Liebe zu unserem Herrn, um seinem Beispiel zu folgen, das er uns gegeben hat, seien wir sehr arm, meiden wir alles, was in der Kleidung, der Nahrung, dem Mobiliar nicht ordensgemäß ist.
Wenn ihr die Heimsuchungsklöster von Fribourg, Troyes, Mâcon sehen würdet … alles ist dort von einer Einfachheit, von einer unvergleichlichen Armut. So gibt es in Troyes in der Wäscheabteilung nur Schränke, die aus der Zeit vor der Revolution stammen. Diese Möbel sind also über hundert Jahre alt, aber man achtet sie, man möchte keine anderen kaufen. Man legt keinen Wert darauf, bequem geordnete Sachen zu haben, man will sie nur anordnen, wie es auch Arme machen können, das heißt arm. Ich finde, dass Ordensleute, die schöne Sachen besitzen, Dummköpfe sind. Dazu braucht man weder Herz noch Urteilskraft. Seid ihr Ordensleute oder nicht? Wenn ihr es seid, seid ihr keine Bankangestellten, keine großen Herrn, sondern Arme. Wenn ihr Ordensangehörige seid und euch benehmt wie jemand, der es nicht ist, seid ihr nicht gut ausgeglichen, habt ihr etwas Verschrobenes im Geist. Wenn man das Gelübde der Armut abgelegt hat, und nicht arm ist, hat man verkehrte Ideen und nicht den Sinn einer Ordensgemeinschaft. Wenn uns die Engel besuchen kommen und bei uns nicht das Siegel der heiligen Armut finden, glauben sie nicht bei Ordensleuten zu sein und gehen weg, um die Gnaden und Segnungen unseres Herrn anderswohin zu tragen. Wenn wir in ständigem Kontakt mit den Weltlichen leben, können wir zwar keine Häuser haben, wo alles unbedingt arm ist, aber seien wir jedes Mal glücklich, wenn uns etwas fehlt. Bewahren wir uns gut den Geist der Armut, das zieht den lieben Gott in eine Gemeinschaft.
Ich erzählte euch oft die Geschichte der Schwester Thérèse-Emmanuel Tréfort, die damals 86 Jahre alt war. Sie sagte eines Tages zur Guten Mutter Marie de Sales Chappuis, als sie von mir sprachen: „Ich möchte den guten Herrn gerne sehen.“ „Sie haben ihm also Geheimnisse zu sagen?“ „Ja, ja, meine Mutter Oberin.“ „Verlangen Sie nach ihm im Sprechzimmer.“ „Er wird das vielleicht etwas außergewöhnlich finden, er hat ja keine Zeit.“ „Doch, doch, er wird Zeit haben.“ Sie kam also ins Sprechzimmer und sagte zu mir: „Ich habe gebeten, Sie zu sehen, denn ich möchte gerne etwas wissen.“ Was mich sehr erstaunte, denn sie war eine hervorragende, sehr zurückhaltende und sehr abgetötete Nonne. „Ich bin zwar im Rat, aber welche Ratsschwester würde sich damit abgeben! Mit unseren Mitschwestern wage ich nicht darüber zu reden, nicht einmal mit unserer Mutter Oberin, ich sage es lieber Ihnen. Ich fürchte, dass die Ordensgemeinschaft vielleicht ein wenig zu reich ist und dass der liebe Gott deshalb von hier weggeht.“ Ich antwortete ihr: „Nun, seien sie ganz beruhigt, man hat hier gerade, was man braucht. Wenn man keine Zöglinge hätte, könne man nicht leben.“ „O, ich bin sehr mit dem zufrieden, was Sie mir sagen, mein Vater; wenn wir arm bleiben, werden wir den lieben Gott behalten, wie ihn die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis hergebracht hat.“
Schwester Thérèse-Emmanuel hatte wohl recht! Bemüht euch also, meine Kinder, durch euren Geist der Armut den lieben Gott in eurer Mitte zu halten. Man muss sich daran gewöhnen, mit dem zufrieden zu sein, was man hat, und daher in allem die Interessen der Gemeinschaft bewahren. Sie geht man zum Beispiel durch einen Gang, man sieht einen Gegenstand auf dem Boden und hebt ihn auf. Man geht im Garten und sieht einen Rechen mitten auf dem Weg, man nimmt ihn und lehnt ihn an einen Baum, damit er nicht zerbrochen oder beschädigt wird. Man möge auf das achten, was man hat und nur das unbedingt Notwendige kaufen. Mögen die Amtsschwestern nicht da oder dort eine kleine Schublade brauchen. Wenn ihr mit einer kleinen Einschränkung etwas entbehren könnt, entbehrt es. Wenn ihr euch nichts versagen könnt, warum habt ihr dann nicht einen Herzog oder einen Prinzen geheiratet? Er hätte euch alles gegeben, was ihr braucht. Versteht so die Armut gut und übt euch im Entbehren.
Es bleibt mir noch, euch ein Wort über die Keuschheit zu sagen. Was ist die Keuschheut? Der heilige Franz von Sales beschreibt sie mit den Worten, dass wir nur für den himmlischen Gemahl atmen sollen. Aber ehe ich euch seinen Gedanken zu diesem Thema erkläre, werde ich euch zuerst sagen, dass man in der Ausübung dieses Gelübdes zwei Teile unterscheidet. Den ersten, den die Theologen den negativen nennen. Dieser besteht darin, nicht gegen die Keuschheit zu sündigen, das heißt, seinen Geist nicht Gedanken nachgehen zu lassen, die gegen das Gesetz Gottes sind, und auch nicht gegen die Bescheidenheit fehlen. Wenn man sich nur dieser Dinge enthält, fehlt man gewiss nicht gegen sein Gelübde, aber man würde es nicht in dem vom heiligen Franz von Sales angegebenen Sinn erfüllen, man würde nur den negativen Teil beobachten. Um eine wahre Oblatin zu sein, muss man aber auch liebevoll den positiven Teil ausüben. Dieser positive Teil des Gelübdes der Keuschheit, wie es unser seliger Vater Franz von Sales versteht, besteht darin, nur für den himmlischen Gemahl zu atmen. Mit anderen Worten: nur Gott zu lieben, nicht sich selbst und überhaupt niemand menschlich zu lieben.
Es muss unser Herz ganz von der Liebe des Heilands erfüllt sein, ihm ganz hingegeben sein. „Aber dann“, werdet ihr mir sagen, „kann man niemand lieben!“ … Im Gegenteil, man liebt mehr. Und selbst wird man besser geliebt. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis hatte bei ihrer Profess, als sie unter dem Leichentuch lag, verlangt, von niemandem natürlich geliebt zu werden, und dennoch wurden es wenige Nonnen so sehr wie sie. Sie hatte verlangt, dass man ihr keine Wertschätzung, kein Vertrauen aufgrund der Sympathie bezeugt, sie wollte nur um Gottes Willen geliebt werden, und sie wurde erhört. Man liebte sie, wie man Gott liebt. Die Personen, die sie gern hatten, die, die unseren Herrn am meisten liebten; die, welche sie weniger liebten, liebten sich selbst und suchten etwas anderes als den Heiland. Überall liebte man sie um Gottes Willen, ohne auf ihr Gesicht, auf ihren Charakter zu achten; aber man liebte ihr Gesicht, ihren Charakter, weil diese zum lieben Gott führten. Versteht das Gelübde der Keuschheit wie die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis. Sie hatte es so gut verstanden. Achtet darauf, nicht menschlich geliebt zu werden; wenn euch eine Person liebt, bemüht euch, diese Zuneigung sanft dem lieben Gott zuzuwenden, in dem ihr in euren Beziehungen zu ihr gut, genau und treu seid, wenn ihr damit beauftragt seid. Wenn ihr so handelt, werdet ihr euch nach und nach von euch selbst lösen, es wird euch gelingen, nur für den himmlischen Gemahl zu atmen, und ihr werdet das Gelübde der Keuschheit sehr vollständig üben.
Was bewog die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis, diese Gnade unter dem Leichentuch zu erbitten? Warum betete sie nicht für die Kirche, für ihre Familie, die sie so sehr liebte? Sie hatte es gewiss schon sehr oft mit viel Eifer gemacht, aber in diesem feierlichen Augenblick wollte sie den Heiland um die Gnade der Gnaden bitten, die Gnade der Vollkommenheit ihres Gelübdes der Keuschheit. Der Erzbischof von Albi sagte: „Man braucht nicht zu staunen, dass Gott so treu war, die Wünsche seiner demütigen Dienerin zu erfüllen. Sie hatte verstanden, ihm alles gegeben, sie konnte ihm nichts verweigern.“ Wenn ihr tatsächlich wüsstet, wie bedachtsam unser Herr ist, uns zu geben, uns zu belohnen, uns hundertfach zu bezahlen, was wir für ihn tun?
Ihr werdet also eure Gelübde in dem Geist ablegen, den ich euch soeben beschrieb, meine Kinder. O, wie ist man glücklich, das Joch des Herrn zu tragen, nur ihm zu gehören! Ah! Ich glaube, wenn es ein größeres Glück gebe, dann würde der liebe Gott in meine Seele genügend Zuneigung für euch legen, damit ich euch das Mittel lehre, dorthin zu gelangen, aber ich kenne kein besseres. Amen.