Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1888

      

1. Vortrag: Über die Wichtigkeit der Gelübde

Montag Vormittag, 3. September 1888

Meine Kinder, ich bitte unseren Herrn, dass er in jede von euch alle Anlagen lege, die nötig sind, um sehr gute Exerzitien zu machen. Ich rufe zu diesen Exerzitien alle eure Seelen, damit jede vollkommen das finde, was sie braucht. „Möge der, der heilig ist, sich noch mehr heiligen“, heißt es in der Offenbarung des Johannes. Möge der, der Gott nahe ist, sich ihm noch mehr nähern. Möge jede von uns zu diesen Exerzitien den richtigen Wunsch bringen, sie nicht nur ungefähr und allgemein zu nützen, sondern innig, ganz und gar.
Als unser Herr durch Judäa und Galiläa wanderte, hatte er gewisse die Macht, alle zu bekehren. Er war Gott! Er hätte durch einen einzigen Willensakt alle Herzen gewinnen können. Er war Gott! Warum aber hat er es nicht getan? Weil er die Freiheit einer jeden Seele achtet. In seinem apostolischen Leben bekehrte unser Herr nicht alle, mit denen er sprach. Und selbst unter denen, die an ihn glaubten, empfingen nicht alle die gleichen Gnaden. Einige hatten das Glück, bei ihm zu leben, seine Apostel zu werden, für würdig gefunden zu werden, an der Bekehrung der Welt mitzuarbeiten. Andere wurden berufen, nur seine Jünger zu sein, andere schließlich erhielten keine Aufgabe in der entstehenden Kirche. Er hätte jedoch allen den Eifer des heiligen Petrus, die Liebe des heiligen Johannes geben können. Warum hat er es nicht getan? Das ist sein Geheimnis.
Nun, wer unter euch wird aus den Exerzitien keinen Nutzen ziehen? Der liebe Gott weiß es. Es ist sein Geheimnis, das Geheimnis seiner Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Es gibt vielleicht welche, die keinen Nutzen daraus ziehen werden. Könnte ich sie trotzdem veranlassen, sie zu nutzen? Nein, ich werde es nicht können. Die Gemeinschaft beginnt, zahlreich zu werden. Es ist unmöglich, dass es unter allen keine gibt, die Schatten und Flecken machen. Das ist ihre Angelegenheit. Unser Herr sagte zu den Juden: Hier ist einer, der ist größer als Salomon. Er war ja da. Ich werde nicht sagen: Hier ist etwas Größeres als Salomon. Ich sage: Hier ist die Macht des Heilands selbst anwesend. Ich rufe alle Seelen, diesem göttlichen Meister zu folgen. Mögen die, die kommen wollen, kommen. Möge die, die nicht kommen wollen, nicht kommen. Jede bereitet ihre Ewigkeit des Glücks oder des Unglücks vor. Meine Kinder, wir werden unsere Exerzitien ernsthaft machen, ruhig und friedlich. Noch einmal rufe ich die Seelen, die guten Willens sind, auf zum Heiland zu kommen, die aufrichtigen Seelen, die gerechten Seelen, die ein zartes Gewissen haben, die Seelen, die die Stimme unseres Herrn gehört und darauf geantwortet haben. Ich rufe besonders jene, die das eingekleidet werden oder die Profess machen werden, denn sie müssen sich auf einen Akt größter Wichtigkeit vorbereiten.
Man hat sich jetzt in der Welt angewöhnt, die heilige Religion als etwas Unbedeutendes zu betrachten. Man gibt zu, dass man ins Kloster eintreten und austreten kann. Ein Ordenskleid macht in der heutigen Welt keinen großen Unterschied mehr zu einem anderen Kleidungsstück, weil die Weltlichen nur das Äußerliche sehen. Aber wir, die wir hineinsehen, die verstehen, was unsere Gelübde sind, wir wissen, dass versprochen ist, was unserem lieben Gott versprochen wurde. Es ist eine heilige Verpflichtung, eine Verpflichtung, die man nicht mehr zurücknehmen kann. Jeder kann predigen, jeder kann Augenblicke des Vergessens, der Verirrung haben, die menschliche Natur ist leicht zerbrechlich und folglich entschuldbar in ihren Schwächen, aber unmöglich sollte sein, was unentschuldbar ist, nämlich das Wort zu brechen, das man dem gegeben hat, dem man sich geschenkt hat, zu versuchen, das Joch abzuschütteln, das man freiwillig angenommen hat. Und wem schenkt man sich im Ordensleben? Unserem Herrn selbst. Und dennoch sind heute die Leichtigkeit, das Fehlen religiöser Erziehung in der Welt so, dass die dem lieben Gott gegebenen Versprechen scheinbar nichts mehr bedeuten. Nach eine gewissen Zeit wird man des Lebens müde, das man angenommen hat, man ändert die Sichtweise und man glaubt, sich von dem wieder befreien zu müssen, das man dem lieben Gott versprochen hat. Meine Kinder, es gibt schwierige Probleme zu lösen … ich konnte nie verstehen, dass eine Ordensseele, eine Priesterseele ihre Berufung aufgeben könnte, ohne dadurch sehr schuldig zu werden. Es kommt vor, dass man am Totenbett eines schlechten Priesters Reue findet, wenn man das Erbarmen Gottes auf ihn herabruft. Aber am Totenbett einer schlechten Nonne findet man das weniger oft. Warum? … Ich weiß es nicht …
Ich sage euch das, meine Kinder, um euch im Vorhinein in der Umgebung, in der wir leben, vor diesem Niedergang und dieser moralischen Schwächung zu bewahren, die bewirkt, dass die Seele nach einer gewissen Zeit kein Leben, keine Energie mehr hat, also wie tot ist. Deshalb sind die Exerzitien, die wir heute beginnen, etwas so Ernstes. Schreiben wir ihnen also diese Wichtigkeit zu. Machen wir sie gut, meine Kinder. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis wird uns dabei ganz besonders helfen. Sie ist hierher gekommen, sie hat dieses Haus durch ihre Anwesenheit geheiligt, die Alleen und diesen Park. Ihr Geist verweilt immer da, ihre Gnade, ihr Segen sind dageblieben. Und wenn wir sie aus ganzem Herzen anrufen, wenn wir sie aufrichtig rufen, wird sie kommen, um uns das Licht und die Hilfe zu bringen, die wir brauchen (Diese Worte wurden mit absichtlicher Zurückhaltung in völliger Übereinstimmung mit dem Dekret von Papst Pius IX. bezüglich Heiligsprechung gesagt.)
Ich bestätige euch mit voller Überzeugung, meine Kinder, glaubt mir: die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis wird mit euch sein. Wir müssen uns also gut mit ihr vereint halten und sie bitten, dass sie uns unseren Teil an ihrem Erbe gibt. Als Elischa Elija sah, wie er die Welt verlassen wollte, sagte er zu ihm: „Vater, Vater, gibt mir deinen Geist, diesen doppelten Geist, den du hattest, um zu Gott und zu den Menschen zu sprechen.“ (Vgl. 2 Kön 2,9). Auch wir, meine Kinder, bitten die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis, dass sie für uns den Geist des heiligen Franz von Sales erlange. Halten wir uns in diesen Tagen in ihrer Nähe auf, um zu empfangen, was sie uns vom Heiland erwirken wird. Ich gebe euch wenige Empfehlungen für diese Exerzitien, denn sie sind so wichtig für alle, dass jede, wenn sie auf den Grund ihres Herzens hinabsteigt, mühelos verstehen wird, wie glühend und gesammelt sie sein soll. Macht also die Exerzitien sehr ernsthaft. Ihr habt so viele Gründe dafür. Sie sollen uns eine genügend starke Gnade bringen, um euch euer ganzes Leben dem treu zu machen, was ihr dem lieben Gott versprechen werdet. Diejenigen, die eingekleidet werden, werden zwar noch keine feierlichen Verpflichtungen übernehmen. Die Zeremonie am Samstag wird nur die ihrer Verlobung sein. Aber haben sie nicht schon im Grunde ihres Herzens dem lieben Gott versprochen, ihm ganz zu gehören? Und ist das zum ersten Mal gegebene Versprechen von Hingabe und ewiger Liebe nicht alles? Ohne Zweifel ist da auch die menschliche Schwäche. Prüfungen und Entmutigungen können kommen, aber der Leuchtturm ist nicht erloschen, das Licht, das uns den rechten Weg zeigen wird. Dieses Licht hat sich nicht in Finsternis verwandelt. Jesus ist immer in seinem Tabernakel da. Dieser mühevolle Tag, diese schweren Stunden werden vorübergehen und der, der uns gerufen hat, der, dem wir unsere Liebe geschworen haben, wird nicht vergehen. Er wird immer derselbe sein … Ja, Herr, wir sind wie ein Kleidungsstück, das sich abnützt und das man ersetzen muss, aber du änderst dich nicht!
Meine Kinder, wenn eines Tages Mutlosigkeit unsere Seele erfasst, wenn unsere Augen zum Sehen zu schwach sind, warum schließen wir sie nicht und halten uns einfach in der heiligen christlichen Hoffnung, dass Gott diese Prüfung beendet? Er hat versprochen, uns nicht zu verlassen, uns alle notwendigen Gnaden zu schenken, um zu ihm zu gelangen. O meine Kinder, fasst Mut! Es ist gut, dem göttlichen Meister zu dienen. Und wenn ihr auch noch so wenig treu seid, werdet ihr n eurem ganzen Leben keine Sekunde bedauern, den Schritt getan zu haben, den ihr bald machen werdet. Ich habe nie jemanden gesehen, der das Pflaster des himmlischen Jerusalem betrat und dann bedauerte, eingetreten zu sein. Um es zu bedauern, müsste man ein wenig den Kopf verloren haben. Man kann ihn kurz verlieren, in einem Augenblick der Traurigkeit und der Prüfung, aber es wäre sehr schlecht, in einem solchen Gefühl zu verharren, es wäre eine große Beleidigung der Güte Gottes, der uns gerufen hat.
Ohne Zweifel legt man bei der Einkleidung noch kein Gelübde ab, aber es ist so wunderbar, schon äußerlich dem lieben Gott zu gehören! Es ist etwas so Gutes, ihm zu gehören! Wenn man das Ordenskleid empfängt, soll man sich sagen, soll man sich versprechen, dass man es wahrlich nicht mehr verlassen wird, dass man nie einem anderen Weg folgen wird als dem des Ordenslebens. Kommt also voller Vertrauen, kommt, um euch mit unserem Herrn zu bekleiden nach dem Wort des Apostels (vgl. Röm 13,14): Bekleidet euch mit der Bescheidenheit Jesu Christi. Kommt, um euch das Gewand anzuziehen, das beweist, dass ihr ihm gehört, dass ihr aus seinem Haus seid, dass er jedes Recht über euch hat, und seid stolz, denn es ist das Gewand des unsterblichen Königs aller Zeiten, dessen, der in seiner Liebe unendlich, in seiner Belohnung wunderbar ist. Haltet euch in diesen Gefühlen fest, um euch auf eure Einkleidung vorzubereiten.
Und ihr, meine Kinder, die ihr Profess haben werdet, versteht gut, was die Gelübde sind. O, legt sie nicht ab, wenn ihr sie eines Tages aufgeben wollt! Ihr werdet mir sagen: „Aber unsere Gelübde sind noch nicht die ewigen, sondern die zeitlichen!“ Meine Kinder, hört mir zu und versteht: Früher kamen in der Champagne am Tag des heiligen Johannes die Burschen und Mädchen vom Bauernhof auf den Dorfplatz und verdingten sich für ein Jahr. Aber die Söhne und Töchter des Hauses verdingten sich nicht, sie blieben immer bei ihren Eltern, deren geliebte Kinder sie sind. Ihr seid die Bevorzugten des Heilands, die, welche er glücklicherweise berufen hat, seine Gemahlinnen zu sein, und ihr wollt euch ihm wie eine Dienstmagd nur für ein Jahr verdingen? Warum wollte die Kirche, dass die Gelübde in den ersten fünf Jahren nur zeitlich sind? Es ist wegen des Mangels an Glauben und an Seelenkraft. Sie macht es, aus Verständnis über die Schwäche des Menschen.
Meine Kinder, wisst ihr wohl, was Gelübde sind? Versteht ihr wohl die Schwere der Verpflichtungen, auf die ihr eingeht? Wenn ihr sie ablegt? … Es gibt die Zehn Gebote Gottes. Ihr legt nun die Ordensgelübde ab. Ihr habt jetzt für euch dreizehn Gebote zu beachten. Das ist wahr, dass ihr, wenn ihr schwer gegen die Armut fehlt, einen tödlichen Fehler begeht. Wenn ihr bei einem förmlichen und schweren Befehl ungehorsam seid, begeht ihr ebenso Böses als würdet ihr eine 100 Francs Geldschein stehlen. Wenn ihr leichtfertige Gespräche führt, wenn ihr dem lieben Gott in eurer Art zu handeln und zu sprechen untreu seid, wenn ihr in euren Blicken die Bescheidenheit nicht einhaltet, wie weit geht ihr? Wer wird je den Grad eurer Schuld kennen? Ich wiederhole es, die Gelübde sind ebenso ernst zu nehmen wie die Gebote Gottes und der Kirche. Es gibt nicht zwanzig Lehren. Geht zu einem guten Landpfarrer beichten, er wird euch sagen, er wird euch sagen, dass die Gelübde für euch wir das elfte, zwölfte und das dreizehnte Gebot sind. Wendet euch an den Heiligen Vater, er wird euch dasselbe sagen. Das lehrt die Theologie. Es ist ganz klar. Bedenkt es. Wollt ihr euch verpflichten, dreizehn Gebote Gottes einzuhalten? Die drei letzten sind umso schwerer einzuhalten, da das Gewissen für das, was sie verbieten, nicht ebenso viel Abneigung hat wie für die Sünden gegen die anderen Gebote: den Diebstahl, das falsche Zeugnis zum Beispiel. Und dennoch ist eine schwere Verfehlung gegen den Gehorsam, die Armut und die Keuschheit, mit einem Wort alles, was ernsthaft die drei Gelübde betrifft, ein ebenso beträchtlicher Fehler wie ein Diebstahl oder ein falsches Zeugnis. Ich kann euch nichts anderes sagen, meine Kinder, das ist die Lehre der Theologie.
Ihr habt noch nicht eure Satzungen. Denn bevor ich sie nach Rom schickte, wollte ich, dass die Gemeinschaft gefestigt ist. Aber die Oblaten des hl. Franz von Sales haben ihre und man sieht dort die ganze Wichtigkeit, die die Kirche den bei der heiligen Profess übernommenen Verpflichtungen beimisst. Ein Oblate kann ohne die Erlaubnis des Heiligen Vaters die Kongregation nicht verlassen. Es sind spezielle Gründe der Exklaustration notwendig. Wenn es einen schweren Grund gibt, diesen oder jenen nicht zu behalten, schreibt man dem Papst und bittet um die Befreiung von den Gelübden. Seht, wie ernst das ist. Man darf also so ernsthafte Verpflichtungen nicht wie etwas betrachten, das man nach Belieben handhaben und ändern kann.
Mögen diejenigen, die bald Gelübde ablegen werden, sich durch ernsthafte Überlegungen darauf vorbereiten. Sie sollen sehr aufmerksam die Verpflichtungen prüfen, die sie eingehen werden. Noch einmal, man darf gegen seine Gelübde nicht fehlen. Der Fehler, den man dann begehen würde, wäre in einem gewissen Sinn schwerer als der, den man gegen ein Gebot Gottes begehen könnte. Der liebe Gott ist sehr viel strenger bei den Verfehlungen gegen die Gelübde als bei allen anderen Fehlern. Seht den untreuen Ordensmann, der gegen seine Berufung fehlt, was begleitet ihn während seines ganzen Lebens? Die allgemeine Verirrung, die Bitterkeit, die Ausweglosigkeit, die Seelenqualen … Was hat dieser Mann gemacht? Verbrechen wie so viele andere? Nein, sein einziges Verbrechen ist es, gegen sein Gelübde gefehlt zu haben! Und er wird von der Gerechtigkeit Gottes mehr verfolgt, als wenn er alle Gebote übertreten hätte. Erinnert euch an Martin Luther (1483-1546). Welche Ängste, welche moralischen Qualen zeit seines Lebens! Es gab damals gewiss ebenso verbrecherische Menschen wie ihn, warum ist scheinbar ihre Seele weniger von Gewissensbissen gequält worden? Warum war die Gerechtigkeit Gottes für sie weniger unversöhnlich?
Ich übertreibe nicht, meine Kinder, und ich sage euch das alles, ehe ihr großmütigen Herzens eure Gelübde ablegt, damit ihr deren ganze Wichtigkeit gut versteht. Es gibt Ordensgemeinschaften, wo die Nonnen nach Belieben ein- oder austreten können. Wenn ihr euch nicht mutig fühlt, euch schon jetzt für immer zu verpflichten, ich bitte euch, geht hin, oder eher nein, geht nicht hin. Ich kannte keiner dieser Ordensgemeinschaften, die Frieden oder sogar materielles Glück hatten, ich sah sie immer über Dornen, über glühende Kohlen gehen … Mein Gott, warum bist du so hart, so streng, so unerbittlich nicht mit einer Seele, mit zwei, sondern mit allen, die dir untreu sind?
Meine Kinder, ich legte Wert darauf, euch an diese Grundsätze am Anfang dieser Exerzitien zu erinnern, weil in diesem Augenblick alles dazu neigt, euch vergessen zu lassen, euch glauben zu machen, dass eure Verpflichtungen nichts Großes sind. Meine Verantwortung ist groß. Ich bin euer Gründer, ich bin irgendwie vor der Kirche und vor Gott für eure Fehler verantwortlich und ich versichere euch, dass das schwer ist!,
Der gute Bischof von Troyes, Bischof Jacques-Louis-David de Seguin des Hons (1760-1843), verehrte die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis. Diese drückte ihm eines Tages ihr Bedauern aus zusehen, dass die Ordensregel bezüglich der Klausur nicht gut beachtet wird. „Sehr geehrter Herr Bischof“, sagte sie, „es gibt Internatszöglinge, die Täglich ein und ausgehen, und dadurch kann die Ordensregel nicht gut gewahrt werden.“ „Aber, meine Gute Mutter, wenn es nicht so wäre, würden Sie alle Ihre Schülerinnen verlieren und das Internat ist die Haupteinnahmequelle des Klosters. Sie müssen jedoch wie die anderen essen.“ „Herr Bischof, wir werden handeln wie sie es möchten, aber ich verlasse mich auf ihre Größe.“ „Ah, meine Gute Mutter, Sie möchten mir die Sünden der anderen aufladen? Nein, nein, ich habe mit den meinen genug davon.“ Meine Kinder, was der gute Bischof sagte, sage auch ich zu euch, ich habe sehr genug mit meinen Sünden, ohne für eure einstehen zu müssen, vor allem in so schweren, so schrecklichen Angelegenheiten.
Also, meine Kinder, die ihr nun bald eure Gelübde ablegen werdet, nehmt ihre Wichtigkeit, ihre Schwere gut in euch auf, so dass ihr äußerst sensibel seid, dass ihr Angst habt, irgendwie dagegen zu fehlen. O, wenn ihr diese Anlagen habt, wie gut wird dann Gott zu eurer Seele sein! Der Gott Israels ist so gut zu denen, die eine gerade Seele haben!
Ich stand am Totenbett von Schwester Paul-Séraphine Laurent (Oberin des Heimsuchungsklosters von Troyes). Sie hatte einen sehr harten, sehr mühsamen Weg gehabt, aber es war eine große, äußerst großmütige Seele. Bevor sie starb, faltete sie die Hände und sagte vor allen Mitschwestern, die bei ihr knieten: „O wie wahr ist das Wort unseres Herrn! Wie gibt er doch das Hundertfache jenen Seelen, die sich ihm weihen! Aber für mich besagt das nichts. Ich habe unendlich mehr als das Hundertfache erhalten.“ Sie sagte das mit einem Ausdruck von Glück, der mir aufgefallen ist. Ich hatte sie immer sehr leidend gesehen. Ihr Ordensleben war für sie sehr mühsam gewesen. Sie hatte eine sehr tatkräftige Natur und einen großen Unternehmungsgeist. Daher war das Leben im Kloster der Heimsuchung für sie besonders hart. Sie sagte mir manchmal ein wenig im Spaß: „Habe ich mich nicht geirrt, als ich Heimsuchungsschwester wurde? Ich hätte in den Karmel eintreten sollen. Da wäre ich sogleich durch diese große Strenge gestorben, während man hier ständig zwischen zwei Matratzen erstickt wird. Man hat keine Zeit Atem zu schöpfen.“ Das ist die Seele einer wahren Nonne. Dreißig Jahre lang sah ich sie dem lieben Gott mit dieser Großmut dienen. Daher versteht ihr, wie hart es für mich wäre, wenn ich das nicht auch unter euch wiederfinden würde.
Meine Kinder, wenn ihr Gelübde ablegen wollt, bitte ich euch im Namen der Liebe Gottes und im Namen der Zuneigung, die ich für euch habe, sie aus Liebe zu unserem Herrn abzulegen. Fast also einen festen Entschluss, damit ihr an den schweren Tagen, an den Tagen der Mutlosigkeit – wer hat sie nicht? – macht, was König David so gut in einem seiner Psalmen ausdrück: „Ich bin wie der einsame Vogel auf dem Dach. Mein Herz leidet, meine Seele sieht nicht mehr, fühlt nicht mehr, aber ich warte auf die Hilfe des Herrn und sie wird kommen.“ (Vgl. Psalm102). O, wie ist man also nach diesem Augenblick der Wirrnis, des Sturms beim lieben Gott gut aufgehoben! Welch Frohsinn und Wonne! Und dieser auf Erden begonnene Frohsinn wird die ganze Ewigkeit andauern!
Denkt wohl an die Dinge, die ich euch soeben sagte. Unser Herr hat sie mir eingegeben. Er ist da und ich nehme ihn als Zeugen. Ich konnte sie nicht im Vorhinein vorbereiten, ich denke sie erst, in dem ich sie euch sage. Ich glaube also, dass ich mich euch als treuer Dolmetscher erweisen kann, ich bürge dafür. Und wenn ich ihn fragte: „Soll ich so zu ihnen sprechen?“ würde er mir sicher „Ja“ sagen.
O, meine Kinder, noch einmal: Wie beglückwünsche ich euch, wie seid ihr glücklich! Sind die Gelübde, die ihr als Oblatinnen des hl. Franz von Sales ablegt, Gelübde wie die anderen? Aber nein, wir lieben sie mehr als die anderen. Sind es Gelübde zu eurer Belastung? Gewiss nicht, sie sind ganz zu eurer Entlastung. Durch den Gehorsam werdet ihr von eurem Willen entlastet; durch die Armut habt ihr nicht mehr die Sorgen um die Dinge dieser Welt, und durch die Keuschheit habt ihr die Freiheit, euer ganzes Herz, eure ganze Liebe und all eure Gefühle Gott zu schenken. Was ist größer als das? Was macht glücklicher als das?
O ja, euer Anteil ist sehr schön. Der Heiland hat es selbst gesagt. Als sich Maria von Betanien zu seinen Füßen aufhielt und Marta sich abmühte, sagte unser Herr gütig: Eines nur ist nötig, sagte er zu ihr, Maria hat den besseren Teil erwählt. Er wird ihr nicht genommen werden (Vgl. Lk 10,38-42). Hat sich der Heiland getäuscht, oder wollte er uns täuschen? Kommt dieses Wort nicht aus der Wahrheit selbst? Wo ist denn der bessere Teil? Er ist da, in den Ordensgelübden, in der Vereinigung mit unserem Herrn. Bittet wohl den lieben Gott um das Verstehen dieser Dinge. O, wie wünschte ich mir alle vertraulichen Vereinigungen mit ihm, alle in seinem göttlichen Herzen. Ich werde euch sagen, ihr sollt wie die Apostel, die Jünger, die ersten Christen sein, nur einen einzigen Willen haben, seinen, ein einziges Gefühl, seines, dann wohnt der Heiland wirklich in uns. Unser Sein verliert sich irgendwie in ihm und wir handeln durch ihn. Das ist die Wirkung der Gelübde in der geraden und gut veranlagten Seele.
Wie sollen die, die ihre Profess bereits gemacht haben, diese Exerzitien verbringen? Als die Apostel nach einer langen und mühsamen Reise zu unserem Herrn zurückkamen, sagte er ihnen: „Kommt mit mir an einen einsamen Ort und ruht ein wenig aus.“ (Mk 6,31). Kommt auch ihr, meine Kinder, zum Heiland. Er ist hier in der Kapelle während der Betrachtung, während der Heiligen Messe, er ist in den Alleen des Parks, er ist überall. Er lädt euch ein, zu kommen, um bei ihm eure Seele, euer Herz auszuruhen. Macht heute nur das. O wie ist es gut, sich beim Heiland aufzuhalten, ihn anzuschauen, ihm zuzuhören! Aber, ihr werdet mir sagen: „Ich sehe nichts, ich höre nichts.“ In der Nacht sahen ihn die Apostel auch nicht. Und dennoch waren sie glücklich, weil der Meister da war. Wenn sie fern von ihm waren, hörten sie sein Wort nicht, aber sie erfreuten sich wenigstens an seiner Erinnerung, an seiner Liebe.
Lassen wir unseren Geist nicht in Aufruhr geraten, stellen wir nicht viele Überlegungen an. Heute wünsche ich mir, dass ihr ruhig bleibt, dass ihr euren Tag zu Füßen unseres Herrn verbringt, in Gesellschaft der Freunde des Heilands. Bleiben wir da zusammen mit der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis, beruhigen wir unsere Seele, damit sie ganz ruhig, ganz in den Händen des lieben Gottes hingegeben ist. Meine Kinder, eines, das ich euch sagen muss, das ich euch am Beginn aller Exerzitien wiederhole, weil es sehr wichtig ist, dass ihr euch gut daran erinnert, ist, dass vor allem die Zurückgezogenheit die Exerzitien ausmacht. Seid sehr getreu bei den Übungen. Der liebe Gott wird ganz da sein, um mit euch in Verbindung zu treten, wenn ihr befolgt, was ich euch empfehle. Ihr habt nichts anderes zu tun als euch sehr gesammelt zu halten, um die Mitteilungen des Heiligen Geistes, der göttlichen Weisheit und Liebe zu empfangen. Noch einmal, wie seid ihr doch glücklich! Ich würde gerne die Worte unseres Herrn an seine Apostel an euch richten, wie viele Profeten wollten hören, was ihr hört, und haben es nicht gehört, sehen, was ihr seht, und haben es keineswegs gesehen! (Vgl. Mt 13,17). Wie viele Seelen in der Welt, Seelen von Ordensleuten und Priestern wollen hören, was ihr hört und hören es keineswegs.
Was ich euch da sage, meine Kinder, sage ich mit allen gerechten und aufrichtigen Seelen, die Gott lieben und die fürchten, ihn zu beleidigen. Wer sagt das Gegenteil? Ist es der gute oder der böse Geist? Ist es Gott oder der Satan? Wer versteht diese Lehre der Liebe und passt ihr seine Handlungen an? Es ist die einfache und treue Seele. Wer verwirft sie? Es ist die untreue Seele. Also, meine Kinder, ich sage es noch einmal: Ihr seid sehr glücklich zu sehen, was ihr seht, zu hören, was ihr hört. Als euch der liebe Gott erwählte, gab er euch eine Gnade, für die ihr ihm nie genug danken werdet können, weder auf Erden noch im Himmel. Die Vorrechte, die euch Gott gewährt, sind größer als die, welche er vielen Heiligen zugestanden hat. Aber wenn ihr viel empfangt, müsst ihr auch viel geben. Werden eure Herzen jetzt keinen Aufschwung der Liebe und Dankbarkeit für unseren Herrn haben? Werden sie gefühllos bleiben? O nein, dessen bin ich mir sicher!
Das sollt ihr also heute machen. Und jetzt, meine Kinder, bleibt in der Ruhe der Exerzitien, haltet Stille und Frieden in eurer Seele, um den ganzen Tag in der Vertrautheit des Heilands zu verbringen. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.