12. Vortrag: Über die Keuschheit - Fortsetzung
Dienstag Abend, 6. September 1887
Meine Kinder, ich verpflichte euch, für die Seelen unserer Mitschwestern, unserer beiden Verstorbenen zu beten, die fast zur gleichen Zeit vor dem lieben Gott erschienen sind. (Eine weitere Schwester war etwa zur gleichen Zeit wie jene von Morangis in Troyes gestorben.) Ich hoffe, dass sie in das Erbarmen des Heilands aufgenommen werden, und dass sie das Angesicht unseres Herrn gut und väterlich für sie in dem Augenblick gefunden haben, als sie vor diesem höchsten Richter erschienen sind. Betet also für sie und bittet Gott, diese große von seiner Vorsehung gegebene Belehrung zu nutzen, die immer so aufmerksam über uns wacht, obgleich sie uns manchmal schmerzlich heimsucht. Ich lasse eure Seelen über diese große Lektion des Todes nachdenken.
Heute Abend, meine Kinder, beende ich das am Vormittag begonnene Thema, die Keuschheit. Wenn ihr wirklich keusch seid, wenn euer Herz nichts Schlechtes in seinen Zuneigungen hat, wenn ihr wirklich Gott sucht, übt ihr tatsächlich das Gelübde der Keuschheit, denn dieses Gelübde besteht nicht nur darin, das Böse zu vermeiden, das Herz nicht natürlich erfassen zu lassen, sondern darin den Heiland zu lieben.
Der heilige Franz von Sales sagt euch ein kurzes Wort, das aber einen tiefen Sinn hat: Sie dürfen nur für den himmlischen Gemahl atmen. Ihr atmet ungefähr fünfundzwanzig Mal in der Minute. Das ist also mehr als drei Tausend Mal am Tag, dass ihr für den himmlischen Gemahl atmen sollt. Jeder Atemzug von euch soll wie ein Liebesbeweis sein. Ihr dürft euch von dieser Seinsweise nicht abwenden, es ist die Regel. Wenn ihr unseren Herrn nicht liebt, wenn euer Herz nicht für ihn erglüht, was macht ihr dann im Ordensleben? „Mein Vater“, werdet ihr mir sagen, „es gibt ein großes Hindernis. Ich habe kein Gefühl der Andacht, ich fühle nie etwas, ich habe nie etwas gespürt außer unter einigen ungewöhnlichen Umständen, was soll ich machen?“
Meine Kinder, die Liebe zu unserem Herrn wird in Marta und Maria verkörpert. Maria lauschte der Stimme des Heilands. Sie schenkte ihm rückhaltlos die Liebe ihres Herzens. Sie wurde durch sein Wort zu Tränen gerührt. Sie verstand ihn, sie verlangte nichts von ihm. Als sie nach dem Tod des Lazarus dem Heiland entgegengeht, sagt sie ihm einfach: „Herr, wenn du da gewesen wärest, wäre mein Bruder nicht gestorben“ (Joh 11,21) [Louis Brisson hat hier leider Marta mit Maria verwechselt.] Sie bittet ihn nicht, ihn aufzuerwecken, sie sagt ihm das wie eine einfache Überlegung. Es ist ein Wort der Liebe, die nichts verlangt und nichts zu bitten scheint.
Marta, ihre Schwester, liebte den Heiland ebenso, da das Evangelium sagt: „Jesus liebte Marta und Maria“ (Joh 11,5). Er liebt sie mit einer gleichen, göttlichen Liebe. Weil er scheinbar mehr für Maria hatte, so weil die Art der Liebe von Maria mehr zur Wechselseitigkeit der Gefühle beitrug, aber im Grunde war die Liebe unseres Herrn für beide Schwestern gleich. Ihr habt kein Gefühl der Andacht, wollt ihr unseren Herrn lieben? Liebt ihn wie Marta. Sie war sehr darauf bedacht, sich hinzugeben. Wacht also über euch, um immer pünktlich zu sein. Wacht über eure Zunge, um sie nicht in schwatzhaften Worten ergehen zu lassen, in Worten gegen den Nächsten. Ihr werdet so Gott mit einer starken wahren Liebe lieben, und Gott wird euch auch mit einer starken, wahren Liebe lieben. Ihr werdet ihn wirklich lieben.
Das ist euer Gelübde der Keuschheit. Es ist nichts anderes für euch als das Gelübde der Liebe zu unserem Herrn. Was werdet ihr machen, um ihn zu lieben? Werdet ihr jenseits des Meeres gehen? Aber jenseits des Meeres werdet ihr wieder allein sein, werdet ihr sein, was ihr hier seid. Meine Kinder, wenn ihr die ergebene Marta seid, die nicht gegen ihre Ordensregel fehlt, die sich ohne Berechnung wahrhaftig hingibt, werdet ihr den Heiland lieben. Versteht ihr nun, was die Liebe ist? Wollt ihr euer Gelübde der Keuschheit ausführen? Hier ist das Mittel dazu. Wenn ihr bis jetzt nicht genug geliebt, eure Liebesschuld nicht genug bezahlt habt, wenn ihr im Augenblick eurer Erstkommunion, zu Beginn eures Ordenslebens nicht gläubig genug gewesen seid, und um euch zu bestrafen, Gott euch das Gefühl für seine Liebe genommen hat, nimmt er euch nicht das Mittel, ihn durch die Beobachtung der Ordensregel zu beweisen, dass ihr ihn liebt. Ihr habt auf einer Seite gefehlt, werft euch von der anderen zurück. Denn durch euer Gelübde der Keuschheit seid ihr zur Liebe des Heilands verpflichtet. Ihr legt das ewige Gelübde der Keuschheit ab, ihr sprecht also ein ewiges Gelübde der Liebe aus. Der Herr sagt: „Ich habe euch mit einer beständigen Liebe geliebt.“
Möge jede darüber nachdenken. Wenn ich euch wiederhole, dass ihr unseren Herrn nicht genug liebt, soll dieses Wort für euch kein Rätsel sein. Es will sagen, dass ihr weder Marta noch Maria seid. Wenn Gott nicht will, dass ihr Maria seid, seid Marta. Zwischen der einen und der anderen gibt es keinen Unterschied. Marta beklagt sich nicht bei unserem Herrn darüber, dass er Maria mehr liebt. Sie sagt ihm nur: „Herr, du achtest also nicht darauf, dass meine Schwester mich die Arbeit ganz allein machen lässt?“ (vgl. Lk 10,40).
Meine Kinder, wenn ihr so euer Gelübde der Keuschheit gut übt, wird euer Ordensleben gut sein. Eure Zunge wird verschwiegen sein, um zu behalten, was ihr behalten sollt. Wenn ihr keusch seid, werdet ihr euch die Keuschheit bewahren. Wenn ihr keusch seid, folgt ihr nicht euren Neigungen, eurer Redseligkeit, eurer Lust zu klagen, zu sagen: „Unser Vater [Louis Brisson] oder unsere Mutter [die Generaloberin] hat dies, hat das gesagt“, ohne an die Folgen zu denken, die schrecklich sein können. Es gibt ein Sprichwort, das sagt: „Das Schwert hat viele Leute getötet, die Zunge hat deren viel mehr getötet.“ Das ist nicht nur moralisch, sondern auch physisch wahr. Da ist eine Ordensschwester, die ihr durch eure Schwatzhaftigkeit verletzt habt. Ihre Gesundheit kann darunter leiden und das kann den Tod herbeiführen. Beim Jüngsten Gericht wird euch eure Mitschwester sagen: „Sie haben mich getötet. Sie haben einen Stein aus dem Fenster geworfen, als ich vorbeiging. Ich habe nicht die Zeit gelebt, die ich leben sollte.“ Wenn ihr keusch seid, werdet ihr nicht die Versuchung haben, drauflos zu sprechen. Die keusche Seele bleibt beim Heiland. Sie begibt sich nicht in leichte Dinge, sie fühlt sich in nichts frei.
Nach der Meinung einiger alter Autoren kommt Keuschheit (lateinisch Castitas) von dem Wort Kastanien. Die Kastanie ist in eine Hülle mit spitzen Stacheln eingehüllt. Diese Hülle bewahrt und beschützt sie bis zu dem Tag, an dem sie dienen soll. Um eure Keuschheit zu schützen, habt ihr nichts. Hütet also eure Zunge, euer Herz, eure Saugen, eure Neigungen. Wenn ihr keusch seid, könnt ihr eure Zunge, eure Augen, eure Ohren Schweigen auferlegen. Das alles ist ein Teil der Ausübung der Keuschheit. Ihr könnt den Neigungen eures Herzens, eurer Suche nach Eigenliebe Stille gebieten. Castissima Virgo – Keuscheste Jungfrau. Es muss die Jungfrau sehr keusch sein und nicht nur meiden, was böse scheint, sondern auch was für sie und für den Nächsten eine Gelegenheit zur Sünde sein könnte, denn es heißt in der Heiligen Schrift: „Gott hat euch die Seele eures Bruders anvertraut.“ Übt also euer Gelübde der Keuschheit, das meinte die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis, als sie sagte: „Kurz abschneiden!“ Das bedeutet: „Unterbrecht sofort eure Neigungen, eure Suche nach Eigenliebe, euer Bedürfnis zu sprechen, euch mitzuteilen.“
Meine Kinder, ihr versteht doch wohl die Verpflichtung eures Gelübdes der Keuschheit? Es ist die Verpflichtung zur Liebe. Das Gelübde der Keuschheit ist das Gelübde der Liebe. Das Mädchen, das heiratet, gibt seinen Willen auf, um den eines Gatten zu folgen. Ihre Güter vermacht sie ihm, sie hat nichts mehr zu ihrer Verfügung. Das sind die Gelübde des Gehorsams und der Armut. Sie gelobt, nur ihren Gatten zu lieben, ihn allen anderen vorzuziehen. Das ist ihr Gelübde der Keuschheit. Für euch sind die drei Gelübde das selbe für den lieben Gott.
Vor allem euer Gelübde der Keuschheit hat die Besonderheit, dass es die Grenze eurer Liebe ist. Es bindet euch an einen einzigen und „dieser Einzige“ ist unser Herr. Ihr liebt nicht deren zwei, ihr könnt nicht ihn und euch lieben, ihr wäret nicht mehr keusch. Ihr könnt nicht ihn und eure Neigungen lieben, ihn und die Freiheit eurer Blicke, Gedanken und Worte, ihr wäret nicht mehr keusch. Ich komme wieder darauf zurück. Müssen sich die unter euch, die keinen Geschmack an den frommen Dingen finden, die nicht die Zärtlichkeit göttlicher Liebe, den göttlichen Frohsinn fühlen, der Gabe der Liebe beraubt glauben? Gewiss nicht. Ihrer sind Treue und Pünktlichkeit, und dadurch werden sie viel Liebe beweisen, viel mehr vielleicht als die anderen. Ihr Weg ist sicherer, bestimmter. Wenn unser Herr sie empfangen wird, wird er ihnen sagen: „Weil ihr in den kleinen Dingen treu ward, werde ich euch über größere einsetzen“ (vgl. Mt 25,21). Die Liebe wird durch die Treue bezeugt, und die höchste Treue ist die höchste Liebe.
Meine Kinder, ich werde euch heute Abend nicht mehr darüber sagen. Bittet unseren Herrn, eure Seelen zu erleuchten, um euch die Übung der Liebe zu lehren, um euch verstehen zu lassen, wie süß und glücklich die letzte Stunde ist, wenn man lange darauf vorbereitet ist. O, wie glücklich sind die Seelen, die diesen letzten Augenblick erreichen, nachdem sie durch ihre Treue in sich die Liebe des Heilands erhalten haben! Dann wird ihnen Gott mit einem Blick unendlicher Liebe, mit einem Gesicht göttlicher Fröhlichkeit erscheinen, mit dem Ausdruck der ganzen Liebe, die er denen entgegenbringt, die ihn mit ihrer ganzen Seele geliebt haben, und die er mit der Ewigkeit der Liebe und des Frohsinns belohnen wird. Meine Kinder, das ist das Endziel, versucht hinzugelangen. Das letzte Stück Weges gleicht dem schon zurückgelegten Weg. Ihr müsst also diesen Weg der Liebe einschlagen. Geht hin, folgt ihm und kommt zu diesem höchsten Augenblick, der euch mit dem Heiland vereinen wird. Wie die Heiligen Könige Jesus Gold, Weihrauch und Myrrhe brachten, werden wir ihm den Weihrauch unseres Gehorsams, die Myrrhe unserer Armut, das Gold unserer Keuschheit bringen. Bringen wir dem Heiland sehr vollständige Geschenke. Halten wir sie in den Händen, um vor ihm zu erscheinen, und dann werden wir sehr glücklich sein.
Sage ich euch die Wahrheit, meine Kinder? Ist der Weg, den ich euch zeigte, wohl der, dem ihr folgen sollt? Ist an dem, was ich euch sagte, etwas zu ändern, abzuwandeln? Nein, denn diese Worte inspirierten sich an denen unseres Herrn und sind von nun an für euch Geist, Wahrheit und Leben.
Möge unser Herr durch die Fackel seiner Gnade die erleuchten, die ihn sehr lieben wollen, er möge in euch meine Worte festigen, sie in eure Herzen legen, und dass ihr einen einzigen Geist habt, dass ihr nicht mehr nur an ein einziges Wort nicht glaubt, dass ihr nur mehr ein einziges Leben habt, das Leben des Heilands in euch, das Leben der Liebe, das Leben der Keuschheit, das jetzt beginnt, sich aber in Ewigkeit für das Glück aller fortsetzen wird. Das ist unsere Hoffnung, das ist unser ganzes Vertrauen. Teilt dieses Vertrauen, schlagt diesen Weg ein, damit ihr dem, der uns gesagt hat: „Kommt!“, antworten könnt: „Herr, da bin ich, ich komme, lass mich nicht mehr gehen. Mit dir will ich heute, morgen und alle Tage meines Lebens bis zu meinem letzten Seufzer gehen. Ich bin bei dir, ich werde dich nicht mehr verlassen.“ Amen.
Gott sei gebenedeit.