3. Vortrag: Über den Geist der Liebe und der Verschwiegenheit
Donnerstag Vormittag, 2. September 1886
Wappnet euch während der Exerzitien mit Mut. Die Hitze ist mühsam. Nachts schläft man nicht. Tagsüber kann man sich nicht ausruhen. Die Übungen sind zahlreich. Sammelt all das ein, bietet es dem lieben Gott als Sühne für eure Fehler, eure Sünden an, die ihn betrübt haben. Gebt es dem Herzen unseres Herrn als Entschuldigung dafür, dass ihr bis jetzt zu wenig Nonnen gewesen seid. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis sagte: „Gott gibt jeder Seele, was sie braucht, um eine Heilige und eine große Heilige zu werden.“
Gestern, meine Kinder, sprach ich zu euch über eure Verpflichtung, in den Augen von jedermann Nonnen zu sein. Heute Vormittag werde ich euch etwas über eure Verpflichtung sagen, untereinander sehr fromm zu sein, die Liebe, die Verschwiegenheit zu wahren und euch jede Rechenschaft darüber abzulegen, was ihr in dieser Hinsicht zu machen habt, um dem Geist eurer Berufung zu entsprechen.
Der Geist der Nächstenliebe ist ein Geist, der bewirkt, dass wir uns nicht nur über den Nächsten nicht ärgern, ihm nicht weh tun, sondern dass wir ihm aufrichtig und getreu die Hilfe, Achtung und allen Beistand gewähren, die ihnen gebühren.
Meine Kinder, das muss man verstehen, es ist der wesentliche Charakter unserer Berufung. Man hat seine Sympathien, seine Abneigungen, seine Schwierigkeiten. Es ist nicht leicht, sich mit gewissen Personen zu verstehen. Diese Mitschwester nervt uns, weil sie langsam ist. Diese andere hat einen eigenartigen, schwierigen Charakter. Sie ist fordern, wenig angenehm. In einer Gemeinschaft stößt man auf das alles. Man muss also den Nächsten ertragen, wie immer er auch sei. Wie aber soll man das machen? Man kann es nicht auf natürliche Weise. Man braucht viel Tugend und übernatürliche Motive. Der erste Grund ist, dass Gott es befiehlt. Der heilige Johannes sagt: „Wenn ihr sagt, dass ihr Gott liebt, euren Nächsten aber nicht liebt, verführt ihr euer Herz und euren Geist.“ Liebt Gott über alles und euren Nächsten wie euch selbst. Das ist das große Gebot. Die Gottesliebe und die Nächstenliebe gehen Hand in Hand. „Aber wer ist dieser Nächste?“ „Jedermann!“ „Aber wie soll ich denn den Nächsten lieben, wenn er nicht liebenswert ist?“ Wir könnten denken, dass wir selbst nicht immer liebenswert sind. Wir haben nicht genug Anmut, um jedem zu gefallen. Diese Überlegung ist ein wenig philosophisch. Denkt daran, wenn ihr wollt, aber hier ist eine andere. Gott liebt diesen Nächsten, diese Mitschwester. Er schenkt sich ihr wie euch, er teilt ihr seine Gnaden mit, er liebt sie vielleicht mehr als euch. Und wenn sie euch in gewissen Punkten sehr tadelnswert scheint, kann sie in anderen sehr tugendhaft sein und viel mehr als ihr. Habt also Achtung für sie, habt diese Achtung, die der heilige Franz von Sales verlangt, und für die zu zeugen er von uns will.
In einer gut erzogenen Familie achtet man einander, behandelt man sich nicht wie Leute ohne Erziehung. Achtet also einander. Jede hat diesbezüglich eine große Gewissenserforschung zu machen, denn man macht sich oft Illusionen. Wenn man ein Ärgernis hat, fühlt man sich deshalb sehr mitgenommen, man setzt sich auf einen kleinen Schmerzensthron und glaubt sich im Recht, die Regeln der Höflichkeit zu übertreten. Aber dann ist euer Herz nicht mehr das Reich des Heilands, das Reich unseres mit Dornen gekrönten Herrn. Wenn ihr Mühen habt, ist das ein Grund mehr, demütig zu sein. Gott schickt euch Mühen, um euch sanft und demütig zu machen, und ihr hingegen benützt es, um die Herrin, die „Ich befehle!“ zu spielen. Ihr habt Mühen! Aber wer hat keine? Ihr seid weniger wert als euer Nächster. Er hat welche, und er erträgt sie. Aber ihr erträgt sie nicht. Die Lieblosen sind schlecht. Ich sage es euch von Gott her. Sucht die Quelle des Bösen nicht anderswo, sie ist in eurem Herzen, in eurem Willen. Ihr seid abscheulich. Sagt euch das vor und ihr werdet euch nicht täuschen. Die Liebe ist geduldig, und ihr habt keine Geduld. Sie ist milde und wohlwollend, und ihr habt weder Milde noch Wohlwollen. Sie handelt nicht aus dem Geist der Rache, sondern sucht alles zu besänftigen, und ihr macht das Gegenteil. Euer Herz ist böse, ihr befolgt nicht den Rat eures Herrn: „Seit sanft und demütig von Herzen, und ihr werdet die Ruhe eurer Seele finden“ (vgl. Mt 11,29). Daher habt ihr die Ruhe nicht in euch. Noch einmal sagt ihr: „Ich habe recht, ich bin böse, schuldhaft.“ Und ihr sagt die Wahrheit.
Wenn man die Liebe nicht hat, hat man keine Verschwiegenheit. Man spricht über diese, über jene. Meine Kinder, ich habe es unbedingt verboten. Es tötet den Atem Gottes in einer Gemeinschaft. Und um ihn zu töten, genügen vier oder fünf Personen, die so handeln. Diejenigen, die das tun, werden eine furchtbare Strafe bekommen. Ich möchte beim letzten Gericht nicht an ihrer Stelle sein, denn sie zerstören den Geist der Gemeinschaft. Sie zerstören den inneren Geist bei sich und bei den anderen. Ohne Zweifel muss man dem Anteil der menschlichen Schwäche Rechnung tragen, aber sie verdienen es, hart getadelt zu werden. Sie ziehen die Strafe Gottes an sich und stehlen der Gemeinschaft göttliche Gnaden. Die Gemeinschaft ist nämlich eine Vereinigung von Seelen. Diese Seelen bilden einen moralischen Körper, dem sich Gott mehr oder weniger mitteilt. Und wenn es in einer Gemeinschaft eine gewisse Zahl von diesen bösen Geistern gibt, kann man nichts Gutes tun. Der liebe Gott ist nicht mehr da. Diejenigen, die diesen Charakter haben würden, o, mögen sie darauf achten! Das Fehlen der Nächstenliebe ist der Schimmel auf einem verdorbenen Lebensmittel. Es ist nicht angenehm anzuschauen. Berührt es, welchen Ekel flößt euch das ein! Nun, das ist der Mangel an Liebe. Diejenigen, die sich in dieser Neigung berauscht, hat eine böse Grundlage, sie wird zur Unmäßigkeit, zur Sinnlichkeit, zu allen möglichen traurigen Fehlern getrieben. Ich spreche ausführlicher darüber, aber es ist ein kleiner Kreis, ich würde es nirgends als vor euch sagen.
Die Lüge ist etwas sehr Hassenswertes. Man sagt, dass sie der Knecht aller Laster sei. Wenn man zornig ist, lügt man, um sich zu rächen. Wenn man stolz ist, von sich eingenommen, lügt man, um sich zu entschuldigen, um geschätzt zu werden. Wenn man wenig aufrichtig ist, lügt man, um seine Handlungen zu verschleiern. Nun, der Mangel an Liebe ist etwas noch Schlimmeres. Durch den Mangel an Liebe möchte man dies oder jenes wiederholen. Man spricht von den Oberinnen, den Mitschwestern, den Häusern. Es ist der gänzliche, der völlige Zerfall der Gemeinschaft. Um die Versuchung zu entschuldigen, sind da die Charakterschwierigkeiten, die Antipathien, die Sympathien. Etwas gefällt uns, etwas anderes ist Gegenstand der Abneigung. Das ist alles natürlich, aber fühlen und dem Gefühl nachgeben, sind zwei verschiedene Dinge. Selbst stark zu fühlen und dennoch nicht nachgeben macht und Gott nur angenehmer.
Es wäre für mich weniger schmerzlich, irgendeinen anderen Fehler in der Gemeinschaft zu sehen. Das würde mich weniger schmerzen, als wenn ich jene Dinge sähe. Wenn ihr dazu Neigungen hättet, würde ich euch sagen: Um die Liebe unseres Herrn willen flehe ich euch an, gebt nicht nach. Wenn man so nachgibt, übt man da sein Geistliches Direktorium? Was ist in der Seele? Nichts mehr, keine Liebe zu unserem Herrn mehr, und das als Folge des Mangels an Liebe. Das ist der Ausgangspunkt, die Quelle des Bösen.
Bemüht euch sehr, meine Kinder, verschwiegen zu sein, keine Geschichten zu erzählen. Es kann einige geben, die alle Neuigkeiten kennen und wissen müssen, ob man dieses oder jenes gemacht hat. Diese Neugierde ist der völlige Zerfall des Ordensgeistes. Ihr müsst plaudern. Werdet Pförtnerin, ihr werdet eine Loge bekommen, ihr werdet am Strick ziehen und ihr werdet über eure Nachbarinnen ratschen. Ihr werdet leicht verstehen, dass man mit dieser Redseligkeit nicht den Gemeinschaftsgeist hat. Was würdet ihr mit eurem Direktorium machen, wenn ihr so plaudert? Wo wäre die rechte Absicht all eurer Handlungen, eure Gedanken an den Tod, euer Streben zu unserem Herrn, zu unserer lieben Frau, zu eurem Schutzengel? Wo wäre das? In der Portierloge. Fasst gute Vorsätze, um nicht gegen die Nächstenliebe, die Verschwiegenheit zu fehlen, um nicht diesen vulgären Geist der Neugierde und der Geschwätzigkeit zu bekommen, diesen niedrigen, herabgesetzten Geist, während die wahre Nonne etwas so Schönes, so Göttliches hat, etwas von der Würde der heiligen Jungfrau, unseres Herrn.
Gibt es ein Mittel gegen die Versuchung gegen die Nächstenliebe und die Verschwiegenheit? Ja, es gibt eines. Der Oberin Rechenschaft zu geben über die Ausführungen des Geistlichen Direktoriums, der äußeren Ordensregeln. Artikel für Artikel geben wir Rechenschaft darüber. Ihr habt keine Sympathie für die Oberin, ihr habt sogar eine Abneigung gegen sie? Ah! Ihr möchtet es also mit einer Mitschwester zu tun haben, die euch hätschelt, die euch schmeichelt? … Seid ihr also deswegen in den Orden eingetreten? …
Ich muss etwas aus euch machen, euch in eine Höhe erheben, in der ihr sein sollt. Ich verlange nichts Außergewöhnliches von euch. Ich verlange, dass ihr einfache, kleine Oblatinnen des heiligen Franz von Sales seid, kleine Blumen zu Füßen des Kreuzes hingestellt, die unser Herr gerne sieht. Ihr seid Nonnen und ihr folgt euren Abneigungen? Also geht schnell weg, wenn ihr sonst keine Kraft mehr habt. Ihr liebt nur euch, und außer euch gibt es nichts mehr. Hat der liebe Gott einen kleinen Platz in eurem Leben? Ist die Beobachtung der Ordensregel für euch wie eine Vogelscheuche? Ihr möchtet den lieben Gott nicht tödlich beleidigen, schwere Fehler machen, wie sich der Vogel den Früchten nicht nähert, weil er die Vogelscheuche fürchtet. Ihr liebt die Beobachtung der Ordensregel nicht mehr als der Vogel die Vogelscheuche liebt. Deshalb habt ihr diesen Widerwillen und dennoch könnt ihr nur dadurch Nonnen werden. Ihr könnt euch nur durch dieses Mittel dem Willen Gottes ergeben. Ich beharre darauf, meine Kinder, denn anders gibt es kein Band mehr unter euch, jede geht auf ihre Seite, und wenn ihr kein Ordensband habt, werdet ihr die Gnade eurer Berufung verlieren. Eine Oblatin ist eine Nonne, die das Geistliche Direktorium und die Nächstenliebe übt, sich von sich selbst löst, sich ganz vergisst. Wenn sie das nicht macht, ist sie keine Oblatin, ist sie überhaupt nichts.
Seht, meine Kinder, wie notwendig es ist, dass ihr gute Exerzitien macht. Prüft euch heute bezüglich der Nächstenliebe, eurer Abneigungen, die ihr in euren Beziehungen zur Oberin gehabt haben könntet. Ihr werdet mir sagen: „Ich kann nicht zu meiner Oberin gehen, ich habe eine solche Antipathie zu ihr, dass mich das kleinste Wort, das sie mir sagt, nervt.“ Sie haben sehr zarte Nerven, meine Schwester. Sie haben ein außergewöhnliches Wesen. Sie sind sehr unglücklich, nicht verstanden zu werden. Nicht jedermann ist auf eurer Höhe. Eine Nonne muss wie jede andere die Ordensregeln erfüllen können. Auf alles, was eine Ausnahme ist, muss man achten. Es verbirgt am Grund etwas, das nicht gut ist. Meine Kinder, bittet den lieben Gott, er möge euch die Erkenntnis dieser Dinge geben, damit ihr gute und heilige Nonnen werdet. Empfehlt euch deshalb unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis. Sie war hervorragend in der wahren Nächstenliebe und im kindlichen Vertrauen zur Oberin, denn sie berichtete das Geringste mit einer unvergleichlichen Treue. Versteht gut, was ich euch sage, meine Kinder. Identifiziert euch mit meinen Gedanken. Gebt euch Rechenschaft über meine Wünsche. Ihr beginnt die Kongregation. Wenn man gut beginnt, geht es auch gut weiter. Deshalb gab der heilige Franz von Sales den Anfängen der Heimsuchung eine so große Wichtigkeit und drängte so sehr die ersten Schwestern, sich dem zu fügen, was er von ihnen verlangte. Sie haben gut verstanden und folgten seinem Wunsch. Macht es wie sie, meine Kinder, und ihr werdet gesegnet werden. Amen.