Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1884

      

11. Vortrag: Professfeier: Das Ordensleben ist die Quelle des Glücks

Sonntag, 14. September 1884

Meine Kinder, der Tag eurer Profess ist ein großer Tag für euch. Ihr kommt nicht nur, um den lieben Gott zu bitten, euch in seine große Familie aufzunehmen, die aus denen besteht, die das Glück haben, die Kinder Gottes zu sein und ihren Namen zu tragen. Ihr kommt, um ihn zu bitten, immer mehr in seiner Vertrautheit zu leben, ihm schneller, vollkommener zu dienen. Um die Liebe, die ihr ihm entgegenbringt, mehr zu sichern, werdet ihr euch ihm durch die drei Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams weihen. Das ist etwas Großes, wenn wir es vom Standpunkt des Glaubens aus betrachten. Wir verstehen, dass diese Selbstaufopferung sehr vollständig ist. Es ist eine Schenkung, eine radikale Opferung, die bewirkt, dass ihr nichts für euch behalten könnt. Natürlich gesprochen kann man sich schrecken und fragen, ob es nicht tatsächlich etwas ist, das gegen die Ordnung Gottes, gegen die Ordnung der Natur, gegen das Glück ist, das Gott jedem Wesen, das auf der Welt lebt, zugesteht. Ihr wisst, meine Kinder, was ihr davon zu halten habt. Ich werde meinen Zuhörern nur sagen, nicht zu erschrecken, wenn man gleich sieht, dass euch das Leichentuch zudeckt, während man die Gebete sprechen wird, die man gewöhnlich an einem Grab spricht. Diese Dinge sind weit davon entfernt, traurig zu sein, sie sind sehr tröstend.
Durch das Gelübde des Gehorsams zum Beispiel gibt man zwar seinen eigenen Willen auf, aber ich möchte wohl wissen, in welcher Situation die christliche Frau in der Welt die Freiheit über ihre Handlungen hat. Die Nonne, die sich nach einem langen Noviziat entschlossen hat, die Partei des Gehorsams zu ergreifen, ist sie nicht die freieste Person der Welt? Wird sie vom Herz aus Opfer bringen müssen? Nie. Wird man von ihr verlangen, etwas außerhalb ihres Willens zu machen? Nie. Alles, was sie macht, wollte sie, schon lange will sie es. Man fordert also nichts von ihr, sie selbst geht vor dem Willen ihrer Oberen und sagt ihnen: „Was wollt ihr, das ich mache?“ Der Gehorsam ist das freieste.
In jeder Familie herrscht ein besonderer Geist. Da sind wunderbare Eltern, sie haben beide ein Siegel der Strenge, der gerechten, aber strengen Forderungen. Dennoch sind ihre Kinder glücklicher als die, welche von ihren Eltern verwöhnt werden. Es ist eine Familie, in der der Befehl etwas Strenges hat. Ist es hier ebenso? Nein, der heilige Franz von Sales ist die Milde selbst. Für den Gehorsam fordert er nichts. Er bestimmt den Willen so, dass man sagt: „Vater, befehle mir etwas, ich möchte dir meine Zuneigung mehr bezeugen.“ Sein Diener sagte ihm manchmal: „Monseigneur, Sie befehlen nichts. Man langweilt sich bei Ihnen. Ich möchte, dass Sie mich ein wenig schelten.“ Und der heilige Bischof antwortete ihm: „Franz, mein Freund, trinken Sie ein kleines Glas Wein weniger, das wird Ihnen gut tun. Nicht ich verlange das von Ihnen, sondern der liebe Gott.“ Alles ist beim heiligen Franz von Sales immer gut und würdevoll. Er lässt den Willen immer dem lieben Gott zuwenden. Er war in seinem Haus mit seinem Klerus ganz sanft, ganz milde und wollte nie jemandem Nein sagen. Das ist der Geist der Familie, in die ihr eintretet. Euer Gehorsamsgelübde ist nichts anderes als zu sagen: „Mein Gott, ich schenke dir mein Herz, ich lege meine Seele wieder in deine Hände, aber lass mich nicht lange, ohne etwas von mir zu verlangen.“
Meine Kinder, das Gelübde der Keuschheit soll euren Geist und euer Herz in eine reine und fröhliche Atmosphäre erheben. Dieses Gelübde verlangt von euch, nur für Gott zu atmen, den lieben Gott so zu lieben, dass ihr in eurem Herzen keine andere Liebe als seine habt. Heißt das, dass eine Nonne ihren Vater nicht mehr lieben wird, dass sie ihre Mutter, ihre Geschwister, ihre Freunde nicht mehr lieben wird? O nein! Weil sie sich dann dem Geist des heiligen Franz von Sales widersetzen würde. Ich behaupte, dass man nie sah, dass jemand seinen Vater, seine Mutter, seine ganze Familie so sehr liebte, wie es die Kinder des heiligen Franz von Sales machen. Früher war es eine Liebe, jetzt ist es ein Kult. Früher war es ein guter Gedanken, eine zarte Aufmerksamkeit, jetzt ist es eine Atmosphäre, in der man lebt. Das Mädchen, das Nonne wird, wird nicht nur an die denken, die sie in der Welt lässt, sie wird auch wie von ihrer Liebe durchflutet sein. Ihre Gebete, ihre Opfer werden sich den Ihren zuwenden. Das Herz der Oblatin des heiligen Franz von Sales liebt ihre Verwandten mit einer unvergleichlichen Liebe. Es ist etwas Ruhiges, Reines, Frohes. Es ist eine Liebe, die vom Himmel kommt und zu der sich die Vollkommenheit der Gottesliebe hinzufügt. Es ist, was Gott im vierten Gebot befiehlt: Du sollst Vater und Mutter ehren. Obgleich ihr Gelübde der Keuschheit sie von jeder fremden Zuneigung entfernt, ist es für sie eine Notwendigkeit, die Ihren zu lieben und mit ihnen in Herzensverbindung zu sein. Ohne Zweifel bedarf es einer besonderen Berufung, um diesem Weg zu folgen. Nicht jeder ist dazu berufen, aber selig die Seelen, die es sind!
Im Allgemeinen weint die Familie, wenn ein Mädchen Nonne wird. Es wird scheinbar eine Trennmauer zwischen ihr und den Ihren errichtet. Bemerkt wohl, die Nonne weint an diesem Tag nicht und die Familie wird nicht mehr um sie weinen. Während das Mädchen am Tag ihrer Hochzeit weint. Sie geht einer ungewissen Zukunft entgegen. Sie hat kein Direktorium, keine Ordensregel, um ihr zu raten wie zu handeln ist. Sie weiß nicht, ob sie ihrem Gutdüngen wird folgen können, sie hat ihren Weg nicht vorbereitet, sie schließt die Augen. Früher gab man den Mädchen am Tag ihrer Hochzeit einen sehr dichten Schleier, damit sie nichts um sie herum sehen konnte. Das war ein Symbol, das etwas Richtiges hatte, denn das Mädchen, das heiratet, weiß nicht, was sie später machen wird. Aber die, die sich Gott schenkt, weiß es. Wenn in der Familie etwas Schweres ist, geht man zur Nonne und teilt es ihr mit. Sie war vielleicht die Jüngste in der Familie, sie wird ihre Stütze. Jeder verbeugt sich vor ihr. Sie führt, sie tröstet, sie herrscht sogar, man weint nicht mehr, oder wenn man Tränen vergießt, sind es Tränen, deren Ursache sie nicht ist.
Die Armut! Ihr habt nichts, ihr besitzt nichts, aber ihr seid sicher, dass ihr an jedem Tag eures Lebens das Notwendige haben werdet. Am Tag der Krankheit, in euren letzten Augenblicken wird euch nichts fehlen. Ihr werdet euch immer ermutigt, unterstützt fühlen. Das ist eure Armut. Liegt das Glück im Genuss des Vermögens? Nein, es ist ein Feuer, das immer verlangt, und diejenigen, die im Überfluss leben, haben mehr Ärgernisse als ihr. Ihr werdet euch nie um die Verwaltung eurer Geschäfte kümmern müssen oder um die Versorgung eurer Kinder. Ihr seid frei wie der Vogel, der in den Lüften schwebt. Er hat sein Nest, in das er von Zeit zu Zeit kommt, um auszuruhen, dann fliegt er wieder weg. Das ist euer Los, während die, die das Gelübde der Armut nicht ablegen, tatsächlich arm sind; arm, weil ihre Wünsche nicht erfüllt werden, arm, weil sie allem irdischen Elend ausgesetzt sind. Euer Gelübde der Armut ist ein Gelübde der Freiheit.
Was ist der Zweck eurer Kongregation? Denn schließlich hat jede Kongregation eine besondere Aufgabe. Als Monseigneur Mermillod kam, um unseren beiden ersten Müttern den Schleier zu geben, sagte er ihnen: „Meine Kinder, ihr beginnt eine neue Ordensgemeinschaft. Die Kirche besitzt in ihren Ordensgemeinschaften riesige Edelsteine, aber scheinbar fehlt ihrer Krone ein Kleinod. Es gab noch keine Ordensgemeinschaft, die die Hilfskraft des Klerus sein könnte. Ihr seid in diesen wirren Zeiten eingerichtet, wo ihr ungeheure Mühe zu ertragen habt. Ihr seid eingerichtet, um den Geistlichen bei ihrer Aufgabe zu helfen. Und wenn dann Gott den Frieden in meine Diözese Genf zurückbringt, werde ich euch die Unterweisung und die Erziehung der Jugend aller Schichten anvertrauen. Es wäre gut, wenn ihr in einiger Zeit einen höheren Kurs machen würdet, wo ihr die Geschichte der Kirche studieren werdet, die Fragen der Theologie und die Art, den Katechismus privat und öffentlich zu lehren, damit ihr die Jugend auf den Empfang der Sakramente vorbereiten und dem reiferen Alter das Licht geben könnt, die Dinge Gottes zu verstehen. Es ist eure Aufgabe, dem Priester zu helfen. Ihr spendet nicht die Kommunion, aber ihr gebt die Erkenntnis Gottes weiter. Ihr hört keine Beichte, aber ihr wacht über die Seelen. Und ebenso wie der Priester die ganze Gesellschaft umfassen soll, werdet ihr zu den Arbeiterklassen wie zu den höchsten Klassen der Gesellschaft gehen. Ihr werdet ausnahmslos, ohne Unterschied zu allen gehen, wie der Priester, der sich am Bett eines Sterbenden befindet, bald in der düsteren Hütte, bald in den prunkvollsten Gemächern. Es muss der Geistliche an euch eine Hilfe haben, die die er zählen kann.“
Das ist ungefähr der Sinn dessen, was euch Monseigneur Mermillod gesagt hat.
Meine Kinder, aller Anfang ist schwer. Wir haben in Troyes begonnen, dann haben wir durch den guten Gedanken seiner Eminenz Kardinal Joseph Hippolyte Guibert (1802-1886) unseren Sitz der Kongregation in Paris aufgeschlagen, um dem Werk eine größere Ausdehnung zu geben und in einem Zentrum zu sein, wo sich die Berufungen leichter ergeben. Wir werden ihm nie genug für seine väterliche Güte danken können. Meine Kinder, ihr werdet ihm im Gehorsam zurückgeben können, was er uns an Vertrauen und Wertschätzung schenkt. Ihr werdet für alle beten, die euch lieben, vor allem für eure Verwandten. Ihr Teil soll sehr groß sein. Ihr werdet für diesen so lieben Beistand beten. Wenn man dem Himmel nahe, dem liebe Gott ganz nahe ist, wie ihr es heute seid, braucht man nur die Hände auszustrecken, um zu empfangen. Bittet, und ihr werdet empfangen. Bittet für eure Familien, um was ihr wisst, dass sie es brauchen, bittet für eure Schülerinnen, um was ihnen fehlt, bittet den lieben Gott, dass ihr immer auf der Höhe eurer Berufung seid, und dass sich eines Tages alle, die hier sind, in der seligen Ewigkeit vereint finden. Also beglückwünschen wir euch alle und danken euch für das, worum ihr so gut gebetet haben werdet und an diesem Tag eurer Ordensprofess so gut für uns empfangen werdet. Amen.

Gott sei gebenedeit.