Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1881

      

12. Vortrag: Über die wesentlichen Frömmigkeitsübungen

Sonntag Vormittag, 4. September 1881

Meine Kinder, der heilige Franz von Sales sagt, dass man, um seine Seele in der Liebe Gottes zu erhalten, wenn sie von der Sünde beschmutzt und getrübt wurde, sie so behandeln müsse, wie Früchte, die man aufbewahren will. Wenn sie ein wenig beschädigt sind, werden sie bald verderben. Und wenn man sie aufbewahren will, muss man sie in Zucker einlegen. Daher rät unser seliger Vater [Franz von Sales] die Seele mit dem Zucker der Frömmigkeit zu umgeben, um sie in der Gottesliebe und in der Übung seiner Pflichten zu erhalten.
Auch wir müssen unsere Seele und die Früchte der Exerzitien bewahren. Zum Abschluss werde ich euch heute das Mittel angeben, dorthin zu gelangen: die Frömmigkeit oder besser gesagt die verschiedenen Frömmigkeitsübungen, die in der Kirche angewendet werden. Es sind unzählige, aber ich nehme sechs wesentliche, die allein oder gemeinsam dieses Aroma erzeugen können, das unsere guten Gefühle, unsere guten Vorsätze aufbewahren muss. Ich vergleiche sie mit den Lilien, die in unseren Gärten stehen. Die Blüte der Lilie besteht aus sechs Blättern, die uns an die Frömmigkeitsübungen erinnern werden, von denen ich heute Vormittag zu euch sprechen werde.
Wenn ich diese Frömmigkeitsübungen mit den sechs Blütenblättern der Lilie in Verbindung bringe, befolge ich nur den Rat unseres Herrn. Sagt er uns nicht im Evangelium: „Lernt von den Lilien, die auf dem Feld wachsen“ (Mt 6,28). Es ist bemerkenswert, dass unser Herr diesen Ausdruck „lernt“ in keinem seiner Gleichnisse verwendet. Er will nicht nur, dass wir die Lilien sehen, dass wir im Vorbeigehen einen Blick auf sie werfen, sondern dass wir von ihnen lernen. Er will also, dass wir sie betrachten, dass wir sie anschauen, diese Blume, zu der seine heilige Mutter eine besondere Liebe hatte. Deshalb stellen die Künstler gerne eine Lilie neben sie.
Wie ist also diese schöne Lilie, meine Kinder, die ich euch nur zur Betrachtung anbieten will? Ich habe euch gesagt, dass jedes Blütenblatt eine Frömmigkeitsübung darstellt.
Die erste Frömmigkeitsübung ist die, welche in der Kirche am meisten genehmigt wird. Das erste Blütenblatt der Lilie ist die Verehrung des Allerheiligsten Altarssakraments. Sie bringt uns dazu, unseren Herrn in der Heiligen Eucharistie anzubeten. Sie führt unsere Heist und unser Herz zum Tabernakel, wo er wohnt. Unsere Blicke gehen zum Fenster, wo wir wie die gute Mutter Marie de Sales Chappuis in Soyhières die kleine Lampe leuchten sehen, die seine Gegenwart anzeigt. Wie die Gemahlin im Hohelied der Liebe betrachten wir unseren Herrn in seinem Sakrament der Liebe von weiter weg als wir sind. Wir sehen ihn mit den Augen unserer Seele, wir beten ihn überall an, in unserer Zelle, in unserer Gemeinschaft, während der Erholungszeit. Wir betrachten unseren Herrn durch das Fenster, wir fühlen, dass er da ist. O, das schöne Blütenblatt der Lilie! Der heilige Alfons von Liguori (1696-1787) behauptet, dass die Verehrung des Allerheiligsten Sakraments des Altares für die Seelen ein Unterpfand der Vorherbestimmung ist. Der Heiland, den sie geliebt haben, wird sie bis zum Thron seines Ruhmes, seiner Glückseligkeit bringen.
Das zweite Blütenblatt: die Verehrung des Heiligsten Herzens Jesu, die besonders der seligen Margareta Maria Alacoque [1647-1690; sie wurde 1864 selig gesprochen, ihr Heiligsprechung erfolgte erst 1920] geoffenbart wurde. Ich knieten in Paray-le-Monial an dem Platz nieder, wo sich der Heiland der Seligen sichtbar zeigte, während sie mit den Augen des Glaubens das Allerheiligste Altarssakrament anbetete. Er offenbarte ihr sein Herz, seine Liebe, was er für das Heil der Seelen vorbereitet hatte, die sein Heiligstes Herz verehrten.
Meine Kinder, wer hat gesagt: „Lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig“ (Mt 11,29)? Wer hat dem untreuen Jerusalem gesagt: „Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt“ (Mt 23,37). Wer hat über Lazarus, seinem Freund, geweint? An welchem Herzen ruhte der geliebte Jünger? Ist es nicht das Herz Jesu?
O meine Kinder, welche Bleibe, welche Ruhestätte ist das Herz Jesu! Der heilige Bernhard von Clairvaux (um 1090-1153) sagte: „O Herr, wie gut ist es, in der Wunde deines Herzens zu ruhen, in den Wunden deiner Füße, die den verlorenen Schafen nacheilten, in den Wunden deiner Hände, die so viele Wunder wirkten, aber vor allem in der Wunde deines Herzens! Da ist es immer gut zu verweilen!“
Das dritte Blütenblatt: die Verehrung des Kreuzes, die Verehrung des gekreuzigten Jesus. Meine Kinder, wie sehr liebte unser seliger Vater [Franz von Sales] diese Übung der Frömmigkeit. Er schrieb eine ganze Abhandlung – die „Verteidigung der Kreuzesfahne“ (DASal 11,15-236) –, um zu zeigen, welch mächtige Hilfe, welcher Ort der Zuflucht das Kreuz ist in den Tagen der Heimsuchungen und Schmerzen. O, wie ist es heilsam, die Ängste, den Todeskampf des Heilands zu betrachten! Wie ist es gut, das Kreuz auf den Lippen zu tragen und zu betrachten, was unser Herr gelitten hat! Wie belebt fühlen wir uns bei der Berührung unseres Kruzifixes! Es ist die Verehrung der Leidenden, es ist die Verehrung derer, die sich darauf vorbereiten, gut zu sterben.
Und schließlich, meine Kinder, wer wird im Augenblick unseres Todes unseren letzten Atemzug entgegennehmen? Wer wird die letzten Ängste unserer Seele zählen? Wer wird unsere letzten Worte hören, wenn nicht der gekreuzigte Jesus? … Vergesst es nicht, die Verehrung des Kreuzes ist ein mächtiges Mittel, um die Erinnerung an die Gnaden Gottes, die Erinnerung an unsere Exerzitien zu bewahren.
Die Verehrung der heiligen Jungfrau und Gottesmutter Maria ist das vierte Blütenblatt dieser schönen Lilie. Bildet die Verehrung der heiligen Jungfrau nur ein einziges Blatt? Diese Verehrung ist so groß, so verbreitet, so vielfältig, dass es eigentlich aller unsere Maiglöckchen bedarf, um uns an die Tugenden, die Schönheiten, die unendlichen Liebenwürdigkeiten dieser guten und göttlichen Mutter zu erinnern. Also die Übung des Rosenkranzes, der Angelus und vor allem die Verehrung zur Vertrautheit mit der heiligen Jungfrau. Arbeiten wir bei ihr, betrachten wir mit ihr. Wie viel Verehrung muss sie bekommen! O, wie gut ist es, bei der heiligen Jungfrau zu sein. Betrachten wir diese schöne Lilie, um ihren Duft zu genießen. Wollte der heilige Franz von Sales nicht zeigen, wie sehr seine Töchter die heilige Jungfrau verehren sollten, da er sie Schwestern der Heimsuchung Mariens nannte?
Das 5. Blütenblatt: die Verehrung der heiligen Engel. Wir haben diese Verehrung nicht genug, wir verstehen es nicht, bei den heiligen Engeln unsere Zuflucht zu nehmen. Der liebe Gott gab nicht nur jedem von uns einen Engel. Er stellte auch welche zum Schutz für jede Stadt und jedes Haus zur Verfügung. Wir rufen sie nicht genug an, wir nehmen nicht genug Zuflucht zu ihnen. Früher lehrte die christliche Mutter ihrem Kind, am Morgen, am Abend und in den Versuchungen zu seinem Schutzengel zu beten. Ist nicht Gott von seinen Engeln umgeben? Bringen nicht sie uns die Gnaden des Himmels? Und sind nicht wieder sie es, die unsere Gebete zu Gott tragen? Sie sind die Boten des Himmels auf Erden und der Erde im Himmel.
Der heilige Victor von Plancy (+ 7. Jahrhundert) hörte den Gesang der Engel und sprach mit ihnen. Als der heilige Bernhard vom heiligen Victor sprach, sagte er, dass er sich zu einem sehr hohen Grad der Betrachtung erhoben habe, weil er von den Engeln unterwiesen wurde.
Das sechste Blütenblatt der Lilie: die Verehrung der Heiligen des Himmels, unserer Patrone, unserer heiligen Beschützer. Es ist unmöglich, dass wir nicht erhalten, worum wir einen Heiligen bitten, wenn wir mit einem lebendigen Glauben beten. Wenn wir etwas Schwieriges zu erhalten haben und einen Heiligen damit beauftragen, unser Fürsprecher zu sein, werden wir es erhalten, so unmöglich es uns auch erscheint, vorausgesetzt jedoch – ich wiederhole es – dass wir mit einem lebendigen Vertrauen, einem absoluten Vertrauen bitten. Der Pfarrer von Ars (1786-1859) wirkte viele Wunder durch die Fürsprache der heiligen Philomena (+ 302), die er als Beschützerin bei Gott erwählt hatte. Er erhielt von ihr alles, worum er sie bat.
Das, meine Kinder, sind – sehr kompakt und kurz dargelegt – die wesentlichen Frömmigkeitsübungen, aus denen die schöne Lilie besteht und die zu betrachten unser Herr empfiehlt. Ihr werdet sie immer bei euch haben, ihr werdet ihren Duft annehmen, und dann werdet ihr ihn allen vermitteln, die bei euch sein werden, weil in dieser Lilie alle Düfte des Lebens des Heilands sind. Ihr werdet euch so die Früchte der Exerzitien bewahren, in dem ihr jedes Blütenblatt dieser schönen Blume getreu betrachtet.
O, Herr Jesus, möge deine göttliche Mutter selbst uns diese Lilie in die Hand geben! Wir werden sie aufmerksam betrachten. Sie wird uns an alles erinnern, was du uns während dieser Exerzitien gesagt hast. Sie wird unser getreuer Gefährte sein. Sie wird unser Leben teilen. Sie wird unsere letzten Augenblicke mit dem Duft deines Geistes, deiner heiligen Liebe umgeben. Sie wird den Duft vor allem in dem Augenblick verströmen, wenn du uns die Tür des Himmels öffnen wirst, um sich deiner von Ewigkeit zu Ewigkeit zu erfreuen. Amen. Amen!

Gott sei gebenedeit!