Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1879

      

9. Vortrag: Über die gute Aufnahme der Postulantinnen. Zurückhaltung und gute Beziehung, die die Nonnen haben sollen

Freitag Vormittag, 29. August 1879

Meine Kinder, während dieser Exerzitien habe ich euch die Größe eurer Aufgaben, eurer Verpflichtungen als Nonnen nicht verschleiert. Ich hoffe, dass ihr mit der Gnade des lieben Gottes diese Verpflichtungen verstanden habt, und dass ihr den festen Vorsatz gefasst habt, euch wieder Gott hinzugeben, da ihr wohl wisst, dass sich eine gute Nonne nicht mehr sich selbst gehört, sondern dass sie unserem Herrn gehört.
Ich habe euch in diesen Tagen Dinge gesagt, die wohl im Stande waren, euch zu rühren. Ich will euch jedoch nicht erschrecken. Bittet alle, bitten wir alle um Verzeihung für die Fehler, die wir begangen haben. Bitten wir vor allem um Verzeihung für die, die für das Werk Gottes in den Seelen ein Hindernis sein könnten.
Heute habe ich euch noch eine sehr ernste Empfehlung für die Art der Aufnahme der Postulantinnen zu geben. Ohne Zweifel seid ihr nicht direkt dazu beauftragt, aber man muss ihnen Interesse bezeugen, ihnen ein kleines herzliches Wort sagen, ihnen sogar einen kleinen Dienst erweisen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, mit einem Wort, sie fühlen lassen, dass sie schon zur Familie gehören. Und was ich für die Postulantinnen sage, sage ich auch für die eurer Schwestern, die aus einem anderen Haus kommen. Wie auch immer die Person ist, die ankommt, man muss herzlich zu ihr sein, sich mit ihr beschäftigen, versuchen, sie einzugewöhnen. Das macht man überall, das ist eine einfache Höflichkeit. Es gibt nichts Einfacheres. Wenn man eine gute, sehr demütige Nonne ist, fühlt man so gut, wie man sich geben soll, um gut und herzlich zu sein. Ein Bischof sagte: „Was es am angemessensten, am liebenswertesten gibt, ist ein guter Ordensmann.“ Und tatsächlich, wenn ihr gute Nonnen seid, beschäftigt ihr euch nicht mit euch selbst, und die ankommen werden, werdet ihr nicht isoliert lassen, was schmerzhaft ist und nur einen ärgerlichen Eindruck machen kann. Wenn man ins Kloster eintritt, fühlt man sich ein wenig fremd, man muss sich an neue Gewohnheiten, neue Gestalten gewöhnen, man leidet am Opfer der Trennung, man hat also ein Recht darauf, mit Güte und Zuneigung aufgenommen zu werden. Ich weiß wohl, dass man in der Gemeinschaft unter sich mit einer gewissen Einfachheit, mit einer gewissen Offenheit handeln muss, wie das unter den Kindern derselben Familie herrscht, aber dennoch bedarf es – ich wiederhole es – dieser Achtung, dieser Ehrerbietung, dieser Herzlichkeit, die der heilige Franz von Sales so sehr empfiehlt.
Meine Kinder, wenn ihr sehr sanft, sehr demütig seid, werdet ihr zu den Postulantinnen und zu euren Mitschwestern liebenswürdig und herzlich sein. Ihr werdet herausfinden, was zu sagen angebracht ist. O, ich empfehle es euch sehr: mögen die neu Angekommenen mit aller Aufmerksamkeit, aller wünschenswerten Zuvorkommenheit empfangen werden, sonst ist es schlecht für sie, sehr schlecht. Hört das Evangelium des heiligen Johannes: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden“ (Joh 1,11-12). Wenn eine Postulantin in die Gemeinschaft kommt, muss man sie herzlich empfangen, die notwendigen Aufmerksamkeiten für sie haben, und so handelt man wie die Kinder Gottes, wie die Geliebten Gottes.
Fürchtet sehr den Egoismus, meine Kinder, er ist so hässlich, so abscheulich, so erbärmlich in den Augen des lieben Gottes. Hütet euch also sehr davor. In allen Gemeinschaften nimmt man die Fremden gut auf. Aber das muss vor allem in unserer der Fall sein, wo man kund tut, nach dem Geist des heiligen Franz von Sales zu leben.
Als ich das Schloss von Thorens besuchte, traf ich an der Eingangstür zwei kleine Kinder, die soeben ihr Gebet gesprochen hatten. Ich sagte zu ihnen: „Habt ihr soeben zum lieben Gott gebetet?“ „Nein“, antwortete mir das kleine Mädchen, „wir haben den heiligen Franz von Sales gebeten.“ Der Hausherr, der ein Urgroßneffe des heiligen Franz von Sales ist, war abwesend. Aber die Diener nahmen mich mit allen nur möglichen Zuvorkommenheiten auf, als ob der gute Heilige noch dagewesen wäre. Sie hatten für mich diese Herzlichkeit, diese Achtung, die der Glaube für einen Geistlichen eingibt, selbst wenn er nicht bekannt ist. Alles roch nach diesem Duft der Milde, der Heiligkeit unseres seligen Vaters [Franz von Sales]. Es schien mir, als würde ich ihm begegnen. Man zeigte mir, was man von ihm aufbewahrte, seine Kleiner, seinen bischöflichen Schmuck.
Seht, meine Kinder, die Macht der Tugenden des heiligen Franz von Sales! Nach mehr als zweihundert Jahren findet man in seinem Haus noch diesen Duft der Liebe, die der Liebreiz seines Lebens war. Wenn man euch nicht als zu seiner Familie gehörend erkennen würde, wenn eine fremde Person in euch nicht seine Lebensweise wiederfinden würde, wäre es besser, dass ich euch wegschicke und die Diener des Schlosses von Thorens nehme! Gebt darauf gut Acht, weil wir denen ähnlich sein müssen, die die Stifter, die Gründer unseres Ordenslebens sind. Ich sage nicht, dass man sich der Postulantinnen oder der Mitschwestern aufdrängen soll, die da kommen, um sie zu leiten, das steht der Oberin oder der Novizenmeisterin zu, aber ihr sollt sehr zuvorkommend, herzlich, achtungsvoll sein. Das Fehlen an Achtung kündet immer vom Stolz, gibt an, dass man von seinem persönlichen Wert eingenommen ist.
Meine Kinder, ich wünsche, dass ihr darauf gut achtet, es ist ein wesentlicher Punkt. Ich wollte euch heute Vormittag ermutigen, aber es kam mir der Gedanke, euch mit diesem Thema zu beschäftigen, das in den Gedankengang jener eingeht, die wir während der Exerzitien behandelt haben.
Was ich für eure Mitschwester und für die Personen sage, die kommen, um euer Leben zu teilen, sage ich auch für die Fremden. Ihr müsst nur mehr Zurückhaltung walten lassen. Man soll zu ihnen sehr höflich, sehr zuvorkommend sein. Man muss ihnen mit Achtung, mit demütiger Würde antworten. Man soll mit den Personen von draußen nicht vertraut sein, aber höflich und achtungsvoll. Man soll weder die Stimme heben noch sie unterbrechen, wenn sie etwas sagen, das uns nicht passt. Wenn es notwendig ist, ihre Meinung zurecht zu rücken, muss man es achtungsvoll und nach dem Rat der Oberin machen.
Bezüglich der Männer, der Geistlichen muss man sehr zurückhaltend, einfach und bescheiden sein. Man darf keine Verwirrung stiften, man muss sanft und demütig sein, und nicht versuchen, die Blicke auf sich zu ziehen. Der heilige Franz von Sales will, dass die Gespräche seiner Nonnen dem Wasser gleichen, das, wenn es gut ist, keinen Geschmack hat. Er will, dass man beim Weggehen nicht sagt: „Sie sind gut“ oder „sie sind schlecht“. Sondern er will, dass man zufrieden, dass man erbaut ist. Er will nicht, dass man glänzt, aber er will, dass man erbaut. Das ist heikel zu erfassen. Das ließ unser seliger Vater [Franz von Sales] die Leute seines Hauses machen. Dank dem sind die Nonnen in allen Klöstern der Heimsuchung sehr herzlich. Sehr, wie sogar die Laienschwestern einfach und herzlich sind.
Wenn man demütig, einfach, fromm und sanft ist, sind die Beziehungen leicht, selbst zu den Personen höherer Würde. Wenn die Kaiserin von Österreich die Nonnen der Heimsuchung in Wien besucht, was sie sehr oft macht, machen sie weder großes Aufsehen davon, noch stiften sie Verwirrung. Sie wissen, dass der heilige Franz von Sales all das nicht gemacht hätte. Alles geht achtungsvoll, einfach vor sich, und die Kaiserin geht immer zufrieden und erbaut weg. So soll unsere Wesensart sein: große Sanftheit, große Demut, große Erniedrigung unserer selbst. Unser Herr hätte die große Persönlichkeit, den großen König machen können – er hat es nicht gemacht. Er nahm die Sprache der Weisheit, der göttlichen Macht, aber ohne sie zu suchen. Seht das Evangelium, es ist der einfachste Stil, den man finden kann. Versteht das alles gut, meine Kinder. Der heilige Franz von Sales will, dass ihr die allgemeinen Umgangsweisen meidet, dass ihr es vermeidet, eure Stimme zu erheben, dass ihr die Gespräche nicht unterbrecht, das zeugt von fehlender Erziehung. In der Welt schreit und spottet man manchmal, man macht Lärm beim Gehen. Überlassen wir das den Frauen mit schlechtem Geschmack. Das passt zu ihren lächerlichen Figuren, zu ihren Schuhen mit hohen Absätzen, ihrem rhythmischen Gang und ihrer unanständigen Kleidung. Aber vermeidet auch die andere Art, die der Köchin, obgleich ich sie der exzentrischen Frau von heute vorziehe. Ich will, dass ihr weder der einen noch der anderen gleicht.
Ich sage euch das, meine Kinder, weil ich euch vor allem bewahren will, was gegen die christliche Erziehung und vor allem gegen den klösterlichen Geist ist. Eine Nonne darf sich nur in das einmischen, was sie betrifft, sie hat genug damit zu tun, sich mit dem Direktorium und ihrem Beruf zu beschäftigen. Sie hat genug zu tun, sich mit ihrer Klasse, ihrer Küche, ihrer Kleiderstube, ihrer Wäscherei zu beschäftigen. Sie braucht mit den Leuten von Draußen keine Gespräche zu führen.
Wenn unser Herr euch besuchen käme, wenn er sich euch sinnlich zeigte, würde er euch nicht von Glanz umgeben erscheinen wie auf dem Berg Tabor, er würde sich euch zeigen, wie er in dem kleinen Haus von Nazaret war. Sein Wort wäre einfach, sein Blick wäre sanft, seine ganze Person würde Frieden, Sanftmut und Demut atmen. Ich hoffe, dass er eurem Herzen diesen Besuch macht, um euch dorthin zu führen, wohin er euch haben will.
„O Jesus! Erscheine jeder unserer Seelen, und wir werden die Erinnerung an deinen Blick, an deine Bewegungen, an deine Worte, an alles, was du bist, bewahren. Mögen wir wie du sanft, demütig und herzlich sein. Wir wollen dich genug lieben, um dir nicht nur durch unsere Worte, unsere Blicke, unsere Kleidung ähnlich zu sein, sondern auch durch die Anlagen unseres Herzens.“
Ich verlasse euch, meine Kinder (Der hochwürdige Pater Brisson musste vor Ende der Exerzitien abreisen). Aber ich bleibe immer bei euren Seelen. Verbringt diese beiden Tage noch in Einsamkeit, in Sammlung unter dem Blick unseres Herrn. Er wird zu euch sprechen, euch unterweisen, und ihr werdet ihm gut zuhören.
Möge jede auf die Verzeihung der Vergangenheit hoffen. Merkt euch genau, was ich euch empfohlen habe. Ich habe euch die Dinge gesagt, wie sie sind, wie ich sie denke. Ich habe durch die Eingebung unseres Herrn gesprochen, da ich um das bat, was ich euch sagen sollte. Möge es eure tägliche Nahrung sein. Sucht nicht anderswo, es ist das Brot von Betlehem, das Brot, das euch jeden Tag eures Lebens nähren soll, bis euch Gott zur unendlichen Sättigung ruft, die der Lohn für das sein wird, was ihr auf Erden gemacht haben werdet. Amen.

Gott sei gebenedeit.