Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1878

      

11. Vortrag: Über die Nächstenliebe – Fortsetzung. Glückliche Früchte der Erziehung nach dem Geist des heiligen Franz von Sales in den Internaten und Arbeiterinnenwerken

Samstag Vormittag, 7. September 1878

Meine Kinder, die Tage der Exerzitien vergehen zu schnell für alle Themen, die wir zu behandeln hätten. Wir müssen uns also einschränken und uns an die Themen halten, mit denen wir uns bis jetzt beschäftigten.
Ich wiederhole, dass wir unsere Berufung verstehen müssen. Wir sind eingesetzt, um uns Gott und dem Nächsten zu widmen. Wir müssen also in der Abhängigkeit von Gott leben und in unserem Nächsten alle Mittel zur Heiligung und zur Vervollkommnung finden, die wir brauchen. Daher sage ich es euch noch einmal: da ihr nicht alle Strengheiten der anderen Ordensgemeinschaften habt, müsst ihr in ganz besonderer Weise die Nächstenliebe üben. Sie ist abtötend, die Nächstenliebe. Sie ist schwer, sie ist demütigend, sie ist unterwerfender als alles andere. Aber das ist unser Markenzeichen, das besondere Kennzeichen unseres Institutes. Diese Nächstenliebe muss sich vorrangig auf eure Mitschwestern erstrecken, dann auf die Kinder, mit denen ihr betraut seid, denen ihr euch widmet.
Es gilt das besonders für die Kinder, für die Mädchen. Wenn ihr eurer Berufung treu seid, die Ordensregeln beachtet, wenn durch das Direktorium der liebe Gott in euch lebt, werdet ihr sie ändern, werdet ihr aus ihnen lebende Abbilder unseres Herrn und der heiligen Jungfrau machen. Euer Leben wird dadurch eine Art Predigt halten. Der liebe Gott vertraut euch die Aufgabe an, aus euren Mädchen ernste Seelen, gläubige Seelen zu machen. Und ihr habt alles, dessen es bedarf, damit diese Aufgabe gelingt, denn die Mittel, die der heilige Franz von Sales gibt, sind die sichersten und wirksamsten. Die lange Erfahrung hat ihn das gelehrt. Daher gab die Heimsuchung Frankreich wunderbare Frauen, deren christlicher Geist einen Kontrast bildete zu den weltlichen Verführungen, die sie umgaben. Erzieht eure Mädchen im Geist unseres seligen Vaters [Franz von Sales] und ihr werdet die tröstenden Ergebnisse sehen, die ihr erhalten werdet.
Ihr könnt sicher sein, meine Kinder, wenn ihr eure Ordensregeln treu beobachtet, werden die Seelen, die ihr ausbilden werdet, fest tugendhaft sein. Ihr habt dafür den Beweis in den Werken der Mädchen. Ich will dazu nicht sagen, dass ihr es immer gut gemacht habt. Stellt dennoch die Ergebnisse fest. Da ist in ihnen ein tiefer Glaube, und das ist etwas! Während so wenig Glaube in der Welt bleibt, dass alles fahl ist, dass die meisten Seelen wie Werg geworden sind, ist es sehr außergewöhnlich, dass die Herrschaft Gottes so grundlegend, so fest, so vollkommen errichtet ist wie in diesen jungen Seelen dieser Arbeiterinnen. Das liegt an der Lehre des heiligen Franz von Sales, an den Mitteln, die er angibt, und die sehr wirksam sind.
Bemüht euch also bei der Führung der Mädchen, mit denen ihr betraut seid, betet für sie, sucht nicht lange, was ihr ihnen zu sagen habt. Sagt ihnen, was euch der liebe Gott in die Seele, ins Herz legt, sagt es ganz einfach. Wenn ihr gut beim lieben Gott, bei eurem Direktorium seid, werdet ihr ihnen gegenwärtig alles geben, was der liebe Gott für sie in euch gelegt hat, ihr werdet ihnen alles geben, was sie brauchen. Wenn ihr so handelt, übt ihr die Nächstenliebe und ein wahres Apostolat.
Jedes Mal, wenn wir aus Leidenschaft, aus Antipathie, aus Zuneigung handeln mit einem Wort, weil uns etwas gefällt oder missfällt, verlieren wir unsere Zeit wie ein Kind, das versucht, Schach zu spielen. Wenn wir sehr ernst sind, wenn wir in unserer Seele den Gedanken des Direktoriums haben, wenn wir unsere Handlungen dem angleichen, was es von uns in jedem Augenblick verlangt, können wir den Seelen mitteilen, was Gott ihnen geben will. Wenn wir eine Beziehung zu ihnen haben und treu sind, teilen wir ihnen etwas vom lieben Gott mit. Gutes tut weniger, was man sagt, als was man ist. Daher muss unsere Treue beständig sein, um zu verdienen, dass Gott selbst euch eingibt, was ihr sagen sollt, dass er euch das Gefühl für das gibt, was ihr eure Mädchen lehren sollt. Diese ganz übernatürliche Handlungsweise trägt Früchte für die Ewigkeit. Diese Grundlage geht nie verloren. Sehr die ehemaligen Schülerinnen der Heimsuchung. Es ist da eine, die zur Zeit Exerzitien im Kloster macht. Ihre Tochter ist auch dort im Internat. Diese Dame ist fünfunddreißig Jahre alt. Sie hat einen sehr tiefen Glauben, eine sehr große Geradheit der Seele. Ihre Tochter sagte mir, dass sie schon ehe sie ins Internat eintrat, das Innere des Klosters und jede Schwester kannte, weil ihre Mutter ihr alles bis in die Einzelheiten erzählt hatte. Alle Schülerinnen der Heimsuchung erinnern sich glücklich an ihre Lehrerinnen und an die kleinsten Dinge, die im Internat gemacht wurden. Woher kommt das? Das kommt vom Glaubensgeist der Seelen, die sie führten, an der Art, wie sie sie formten. Das band sie du erzeugte in ihnen einen sehr lebendigen und sehr festen Glauben. Sie erinnern sich an die Heiligkeit des Lebens ihrer Lehrerinnen und was sie durch ihre Vermittlung an Göttlichem erhalten haben.
Meine Kinder, um diesen lieben kleinen Nächsten die Liebe angedeihen zu lassen, wie es der heilige Franz von Sales verlangt, müssen wir uns ganz dem hingeben, was der liebe Gott von uns will. Es erzeugt etwas Gutes in diesen jungen Seelen, was wir sind. Ohne das werden wir vergebens handeln, vergebens schöne und gute Worte sagen, es wird nicht bleiben, überhaupt nichts. Es ist also die Liebe, die wir diesen Mädchen zuwenden. Unsere Treue, unsere Empfindsamkeit machen alles. Das Herz eines Kindes ist wie weiches Wachs. Werft dieses Wachs in eine Form. Es wird die Prägung annehmen, die man ihm geben will. Da ist das Mädchen. Nehmt es in euer Herz. Wenn ihr, wie der liebe Gott und der heilige Franz von Sales es von euch verlangen, euer Herz nach dem Bildnis des Herzens Jesu, des Herzens der heiligen Jungfrau geformt habt, wird die Seele dieses Mädchens die Prägung annehmen, die ihr ihr geben wollt, und sie wird sich ebenfalls nach dem Bildnis dieser heiligen Herzen formen. Es ist wohl wesentlich, dass es so ist, das ist ein wichtiger Punkt. Und glaubt mir, es ist das beste Mittel, ein wahres und dauerhaftes Gut zu erhalten.
Vielleicht macht ihr euch nach dem, was ich euch soeben sagte, die Illusion zu glauben, dass ihr es besser macht als die anderen. Nein, wir machen es weniger gut, weit weniger gut, wir haben weniger Tugend, weniger Heiligkeit, aber sicher ist, dass wir behaupten können, dass der heilige Franz von Sales uns ein unfehlbares Mittel gab, um die Seelen zu Gott zu erheben. Die Seelen, die auf diesem Weg geführt wurden, sind von Grund auf fest christliche Seelen, zutiefst gebunden an ihren Glauben, an ihre Pflichten. Der heilige Franz von Sales formte sie nach dem Bild unseres guten Heilands. Ich überlasse diese Gedanken eurer Betrachtung.
Meine Kinder, ich fasse zusammen: Um zu erziehen, muss man nicht den Geist, sondern das Herz verwenden. Um den kleinen Nächsten, mit denen ihr betraut sied, die Nächstenliebe zukommen zu lassen, muss das Bildnis unseres Herrn in euch gebildet sein, das heißt in eurem Herzen. Niemand gibt, was er nicht hat. Durch die innere Anlage und die Treue zum Direktorium machen wir etwas. Lasst die anderen machen. Sie werden es tausend Mal besser machen als ihr, wenn ihr anders handeln sollt als durch euer Direktorium. Seht, wie oft das, was wir machen, unbemerkt geschieht. Unsere Handlungsmittel werden nicht immer verstanden, geschätzt. Man zieht ihnen andere vor, die mehr scheinen. Und dennoch, was der liebe Gott durch euch machen wird, wird eine sehr große Wirkung haben, das Gute wird dauerhaft sein, euer Handeln wird dem des Heilands ähnlich sein, der sanft und mild in den Seelen wirkt.
Möge unser Herr euch, meine Kinder, diese Worte verstehen und lieben lassen, möge sich sein Segen in jede eurer Seelen ergießen! Sagt ihm: „Mein Gott, da ich mit dem Nächsten beauftragt bin, werde ich die Nächstenliebe üben, ich werde mich grenzenlos hingeben. Ich verspreche dir, Herr, mich dem Nächsten jederzeit zu widmen und voll und ganz deinen heiligen Willen erfüllen!“
Möge es so sein, meine Kinder. Mögen diese Exerzitien für euch gut sein, mögen sie euch heiligen, und möget ihr der heiligen Kirche eine wirksame Hilfe sein, in dem ihr viele Seelen rettet, in dem ihr sie zu dem leitet, für den wir arbeiten, und zu dem wir für immer gehen. Amen.

Gott sei gebenedeit.