Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1877

      

4. Vortrag: Über die Gewissenserforschung über die Übung des Gelübdes der Keuschheit und über die Verpflichtungen Gott gegenüber

Mittwoch Abend, 12. September 1877

Meine Kinder, setzen wir unsere Gewissenserforschung fort, damit ihr, wenn ihr eine gute und vollständige Beichte gemacht habt, von diesen Exerzitien wirklich Nutzen ziehen könnt, dass ihr Eindruck in eure Seele bleibt, wenn diese Tage der geistigen Einsamkeit vorbei sein werden und sich euer Wille immer mehr festigt.
Das Gelübde der Keuschheit besteht daraus, sich von sich selbst zu trennen, nicht seine eigenen Befriedigungen, die materiellen wie die geistigen, zu suchen, da die Keuschheit daraus besteht, nicht nur unseren Körper, sondern unseren Geist und unser Herz rein zu halten. Schauen wir also, ob wir nicht zu sehr an unseren Annehmlichkeiten, an unseren persönlichen Befriedigungen hängen, ob wir nicht ein wenig Befriedigung beim Essen und beim Trinken gesucht haben, ob wir es nicht als die Hauptsache für uns betrachtet haben. Schauen wir, ob wir nicht unsere Befriedigung in unserer Kleidung gesucht haben, ob wir nicht gesucht haben, gekleidet zu sein, wie wir es uns wünschen, ob wir uns nicht wünschten, geliebt, angesehen, beachtet zu werden. Schauen wir, ob diese Wünsche in unserem Ordensleben nicht Platz hatten, ob diese Gedanken nicht einen so großen Platz einnehmen, dass sie die Pflicht zur Keuschheit beeinträchtigen.
Keuschheit (castitas) käme, sagen die alten Autoren, von einem lateinischen Wort, das Kastanie (castanea) bedeutet. Die Kastanie ist von einer Schale umgeben, die von spitzen Stacheln bedeckt ist, so dass man sie nicht berühren kann, ohne sich zu stechen. So besteht die Keuschheit darin, von uns die Suche nach unseren Neigungen zu entfernen, nicht der Neigung unserer Natur zu folgen, die uns dazu bringt, geliebt, gesucht, geschätzt zu werden zu wünschen. Die reine Seele, die das Gelübde der Keuschheit abgelegt hat, fühlt, dass sie nicht all das behalten darf, sondern dass sie es Gott opfern muss. Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen (Mt 5,8). Und wann werden wir dich sehen, Herr? Wird es erst sein, wenn wir im Himmel vor dir sein werden? Nein, meine Kinder, die von unserem Herrn versprochene Seligkeit ist schon für die Erde: die sehr reinen, sehr einfachen Seelen sehen Gott auf der Erde. Die sehr demütigen, sehr kleinen, sehr unschuldigen Seelen, verstehen ihn sogar hier herunten. Wenn ihr euch wünscht, unseren Herrn zu sehen, seid rein, seid heilig und ihr werdet ihn sehen, wie ihn die reich beschenkten Seelen sehen.
Die gute Mutter Marie de Sales sah unseren Herrn oft. Woher kam das? Von ihrer großen Reinheit, ihrer großen Unschuld, ihrer großen Entfernung von den sinnlichen Dingen, den menschlichen Zuneigungen. Sie war in dieser Hinsicht so treu, dass ich nicht weiß, ob es eine reinere Seele als ihre gab. Deshalb machte sich Gott für sie sichtbar. Wenn wir wie sie sein wollen, müssen wir machen, was sie machte, müssen wir in einem Zustand großer Loslösung leben.
Wenn wir Suche beim Essen und Trinken, bei unseren Neigungen halten, wenn wir die Befriedigung unseres Herzens suchten, wenn wir in den Gefühlen unserer Seele, in unseren Zuneigungen nicht abgetötet waren, wenn wir uns mit uns beschäftigt haben, wenn wir uns wünschten, zu sehr beachtet zu werden, haben wir gegen unser Gelübde der Keuschheit gefehlt. Wir müssen in unserem Leben alle diese Gefühle abweisen.
Erforscht also euer Gewissen, meine Kinder, schaut, ob eure Seele von all dem rein ist. Selig, die in ihren Gefühlen, in ihren Gedanken, in ihren Wünschen und in ihren Handlungen reinen Seelen, Gott wird sie liebevoll anschauen.
Unser Herr liebte also seine Apostel, aber er liebte noch mehr den heiligen Johannes wegen seiner Reinheit. Deshalb machte er ihn zu seinem Freund und nannte ihn seinen geliebten Jünger. Er liebte seine Reinheit, diese Tugend, die sein Herz am meisten eroberte. Der heilige Johannes nennt sich selbst den Jünger, den Jesus liebte (vgl. z. B. Joh 19,26).
Um diese Keuschheit, diese Reinheit gut zu üben, werden wir den lieben Gott versprechen, über unsere Gedanken, über unsere Worte zu wachen, um keine sinnlichen, keine bösen zu haben. Uns, meine Kinder, sollte das nicht betreffen, es bezieht sich eher auf die Gebote Gottes.
Wir werden also die gefährlichen Worte aus unseren Gesprächen entfernen. Wir müssen unsere ganze rein und engelhaft führen. Deshalb werden wir sorgfältig über unsere Worte wachen, damit uns nichts entschlüpft, das diese schöne Tugend auch nur ein bisschen verletzen könnte. Sie muss für uns sein, was sie für die Engel des Himmels ist. Der heilige Franz von Sales sagt, dass unser Gespräch makellos und engelhaft sein soll. O, wie würde er empört sein über Nonnen, die Worte im Mund haben, die gegen die Tugend der Reinheit wären, zu frei, zu vulgär! Man möge darauf achten, besonders jetzt, wo die Ausschweifung so groß ist. Das macht, dass sogar in den Familien, die einander achten, die Kindheit nicht frei von Gefahren ist. In der Hölle verdanken 90 von 100 Seelen ihre Verlorenheit einem Skandal, dessen Zeugen sie waren, einem Wort, etwas zu freizügigem, das sie in ihrer Kindheit gehört haben, und das wie eine vergiftete Quelle in ihrer Vorstellung blieb.
Ich wiederhole, meine Kinder, der heilige Franz von Sales will, dass unsere Gespräche makellos und engelhaft sind. Merkt euch diese Wörter gut. Euer Gespräch soll engelhaft, aber ohne Geziertheit mit dieser Einfachheit und Zartheit sein, die bewirkt, dass ihr euch von den bösen Dingen abwendet wie vom Kot, der auf eurem Weg liegt. Wenn man auf der Straße auf Kot trifft, wendet man sich ab, man betrachtet ihn nicht, man lässt ihn, was er ist. Nun, macht es ebenso bei allem, was die heilige Tugend der Reinheit betrifft. Meidet alles, was schlecht ist in ganz besonderer Weise. Ich empfehle euch das, damit eure Seelen, eure Lippen vor dem lieben Gott sehr rein sind und auch vor dem Nächsten. Ihr werdet euch also sehr ernsthaft über euer Gelübde der Keuschheit prüfen.
Ich setze die Gewissenserforschung fort. Ich habe schon genug über die Sakramente und die Gelübde gesagt, ich werde einige Worte über alles hinzufügen, was die Beobachtung der Ordensregel berührt.
Die Nonne hat nicht nur ihre Gelübde einzuhalten, sie hat auch noch andere Verpflichtungen, Verpflichtungen an allen Tagen, in jedem Augenblick. Diese Verpflichtungen, von denen ich sprechen will, betreffen Gott, den Nächsten und uns selbst. Wir werden heute Abend nur von den Verpflichtungen sprechen, die Gott betreffen. Die, welche den Nächsten und uns selbst betreffen, werden Gegenstand unserer anderen Gespräche sein.
Die Verpflichtungen, die Gott betreffen, sind: das Gebet, die Betrachtung, die Übung des Direktoriums, der Gedanke an den Tod, das Stundengebet, die Gewissenserforschung.
In unserer Gewissenserforschung, meine Kinder, werden wir sehen, ob wir bei den Übungen, die Gott betreffen, uns nichts vorzuwerfen haben. Haben wir heute morgen beim Aufwachen die Gedanken des Direktoriums gefasst? Haben wir unsere Betrachtung gut gemacht? Haben wir sie gemacht, wie uns gesagt wird? War sie nicht eher eine Abschweifung unseres Geistes, unseres Herzens, das sich an alles andere als an Gott hängt? Machten wir nicht unsere Betrachtung, als wir mit uns selbst beschäftigt waren, anstatt mit dem lieben Gott über die Bedürfnisse unserer Seele, die Gnaden, die er uns gewährte, zu unterhalten? Welche Vorsätze haben wir gefasst? Wenn wir jetzt vor dem lieben Gott erscheinen würden, hätten wir uns diesbezüglich nichts vorzuwerfen?
Die Heilige Messe, wie haben wir sie gefeiert? Hören wir sie, wie es der heilige Franz von Sales wünscht, hören wir sie nach dem Direktorium?
Die Gute Meinung, haben wir sie genau gemacht? Wir oft machen wir sie am Tag? Warum machen wir sie nicht? Ist es aus Nachlässigkeit, aus Faulheit, weil es uns Mühe macht? All das kann Stoff zur Beichte sein. Prüfen wir also gut alles, was Gegenstand unserer Gewissenserforschung sein soll.
Der Gedanke an den Tod, wie oft am Tag fassen wir ihn? Unsere Gewissenserforschung, sind wir genau, sie morgens und abends zu machen? Machen wir sie oberflächlich? Waren wir treu, am Ende unserer Gewissenserforschung einen Vorsatz zu fassen, wie es die Ordensregel angibt?
Unsere geistliche Schriftlesung, machen wir sie genau? Machen wir sie zu angegebenen Zeit? Sind wir davon ohne Erlaubnis befreit? Das Stundengebet, wie sprechen wir es? Befolgen wir alle Ordensregeln, alle Punkte, wie sie angegeben sind? Sprechen wir das Stundengebet zu seiner Zeit? In all dem kann Stoff zur Beichte sein. Wir fügen also zu unserer Gewissenserforschung von gestern die der Keuschheit und der Übungen, die Gott betreffen, hinzu.
Meine Kinder, versteht wohl die große Wichtigkeit dieser Verpflichtungen. Sündigt ihr, wenn ihr die Gute Meinung nicht macht? Nein, es ist keine Sünder an sich, sie nicht zu machen, aber warum macht ihr sie nicht? Vielleicht aus Nachlässigkeit, aus Faulheit? Die Faulheit ist eine Sünde. Ist es aus Sorge um euch selbst, aus Eigenliebe? Die ungeregelte Eigenliebe ist eine Sünde für die Leute der Welt und noch mehr für eine Nonne. Bei der Beichte muss man auf den Motiven beharren, die uns in allen Punkten der Ordensregel fehlen ließen, denn oftmals sind sie der Grund dieser Verfehlungen, die Sünde sind, als die Verfehlungen selbst.
Wenn wir diese Dinge gut verstanden haben, halten wir uns gesammelt vor dem lieben Gott und erkennen wir bei ihm, wo wir gefehlt haben. Und wenn wir von unseren Fehlern überzeugt sind, fassen wir den Entschluss, es besser zu machen. Wenn es bei dieser Gewissenserforschung eine Bitternis für unsere Seele gibt, wird dieser augenblicklichen Heimsuchung, dieser Bitternis unseres Herzens ein tiefer Friede folgen und dazu dienen, unserem Herrn näher zu kommen. Ihm zu Füßen werden wir das Bündel unserer Fehler und Unvollkommenheiten niederlegen.
„O Herr Jesus, in deinem Sakrament der Liebe gegenwärtig, geh nicht weg, bleib da, du wirst nicht – wenn ich mich so auszudrücken wage – am Gehorsam fehlen, den dir der Priester gab. Bei der Heiligen Messe steigst du in dem Augenblick herab, den er dir gibt, du fehlst nicht! Du bist da im Tabernakel und wartest, dass man kommt, um dich anzubeten, dich zu empfangen! Du bist immer da, und ich bin oft abwesend vom übernatürlichen Ort, wo ich sein sollte! … O mein göttlicher Meister, ich werde ganz nahe zu dir kommen! Gib mir, zeige mir, was ich gemacht habe, was ich sagen soll, was ich machen soll, sprich, und ich werde hören. Wenn du mir sagen wirst: ‚Schau, was du gemacht hast’, werde ich den Entschluss fassen, treuer zu sein. Und ich fasse ihn schon jetzt. Ich werde in allem treu sein, was dich betrifft, damit du und ich nicht zwei Handlungsweisen, zwei Seinsweisen haben, sondern eine einzige, damit wir nicht mehr zwei Leben haben, sondern ein einziges Leben, nicht zwei Atmungen, sondern eine einzige. Du willst, dass ich dein treues Abbild bin, dass ich all dem gleich bin, das du bist. Sprich, Herr, sprich zu mir wie zu Maria Magdalena. Meine Seele wird vor dir aufgehen, wie das Wachs in der Sonne schmilzt, und ich werde die Form annehmen, die du mir geben wirst. Sprich, Herr Jesus, mein Herz wird deinem Wort lauschen. Es will keinen anderen Willen mehr haben als deinen. O Jesus, sei gebenedeit, solange ich lebe und für immer!“ Amen.