Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1877

      

10. Vortrag: Mittel, die Früchte der Exerzitien zu sichern

Samstag Abend, 15. September 1877

Meine Kinder, wir sind nun ans Ende dieser Exerzitien gekommen und es scheint mir, dass wir erst am Anfang sind. Es gibt im Ordensleben so vieles zu erlernen, dass der Unterricht noch lange dauern könnte, ja sogar das ganze Leben lang. Und im Augenblick des Todes wären wir noch immer erst am Anfang. Aber es kommt nicht so sehr auf das Wort an, das unterweist, als auf die Übung dessen, was uns gesagt wird. Hier ist zum Beispiel ein kleiner Tischler. Ihr gebt ihm einen Hobel und eine Säge in die Hand. Haltet ihm zehn Jahre lang schöne Reden über die Kunst, das Holz zu bearbeiten. Wenn er sich nicht ans Werk macht, wenn er die Unterweisungen, die er empfangen hat, nicht umsetzt, wird er in zehn Jahren nicht mehr wissen als am ersten Tag.
Für die Nonnen ist es dasselbe. Sie verstehen ihre Verpflichtungen nur, wenn sie Hand ans Werk legen. Eine Nonne, die ihr Ordensleben nicht übt, ist keine bessere Nonne als ein Arbeiter kein geschickter Arbeiter in seinem Beruf ist, wenn er nicht arbeitet. Die Nonne muss sich selbst absterben, jeden Tag daran arbeiten, den Sarg zu zimmern, in den sie nach ihrem Tod gelegt wird. Sie muss ihn nach ihrer Größe machen.
Meine Kinder, sicher müsst ihr belehrt werden, denn man macht viele Fehler aus Unwissenheit. Gott verzeiht die Unwissenheit den Leuten der Welt, aber er verzeiht sie nicht den Nonnen, denn sie dürfen nicht unwissend sein, sie müssen über ihre Pflichten informiert sein. Aber das wäre vergeblich, dass ihr lest und euch informiert, wenn ihr nicht Hand ans Werk legt.
Die Frucht dieser Exerzitien dient also dazu, dass ihr euch merkt, was ich euch gesagt habe, es euch mit dem Gedächtnis des Geistes und mit dem Gedächtnis des Herzens einprägt, um es auszuführen. Das ist die gute Art zu lernen und sich zu merken. Sonst würdet ihr nichts wissen, ihr hättet nichts dem lieben Gott zu sagen und euer Leben würde ohne Glück vergehen. Die Seele, die nicht mit dem lieben Gott spricht, ist nicht glücklich. Macht, was euch gesagt wird und ihr werdet euch des Gespräches des lieben Gottes mit eurer Seele erfreuen. Er wird zu euch sprechen, er wird euch sagen, was ihr zu machen habt. Er wird euch sagen, ob er zufrieden ist, ob ihr es gut macht. Erinnert euch also alle gut daran, worüber wir uns während der Exerzitien unterhalten haben. Jede wird sich vor allem merken, was ihr am nützlichsten sein soll und wird es üben.
O ja, meine Kinder, nützt gut die Vorträge, die euch gehalten wurden, nützt gut alles, was euch gelehrt wurde. Man liest im Evangelium: „Maria bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach“ (Lk 2,19). Die heilige Jungfrau merkte sich alles, was sie gehört hatte, sie erinnerte sich an alle Geschehnisse, sie beschäftigte sich damit. Es ist äußerst wichtig, sie nachzuahmen, weil eure Berufung sehr ernst ist. Was euch gelehrt wird, ist für euch von größter Wichtigkeit. Bittet also unseren Herrn im Allerheiligsten Sakrament, er möge euch verstehen lassen, was euch gesagt wurde. Heftet euch an seine Ausführung, an seine Umsetzung, dann werdet ihr es verinnerlichen, und wenn es notwendig sein wird, es zu lehren, werdet ihr wissen, wie dies zu machen ist, ihr werdet es anderen sagen können. Vergesst das nicht, es ist sehr wichtig.
Meine Kinder, hört mir gut zu. Es wird von unserem Herrn gesagt, dass er mit der Praxis begann und dann lehrte. Musste unser Herr studieren, lernen, sanft und demütig von Herzen zu sein? Und dennoch wollte er es tun, ehe er es lehrte. Man muss so handeln, meine Kinder, man muss sich dazu aufmachen. Der Grund, warum wir es machen müssen, ist, dass wir das Beispiel unseres göttlichen Meisters haben, das Beispiel der Heiligen, die im Himmel sind: sie haben gelernt zu handeln, ehe sie die anderen belehrten. Unser Herr lehrt es uns selbst durch diese Worte. Es sind nicht die, die „Herr, Herr“ sagen, die in das Himmelreich eingehen werden, sondern die, die den Willen des Vaters tun, der im Himmel ist (vgl. Mt 7,22-24). Selbst wenn ihr während der Exerzitien sehr gesammelt gewesen wäret, würden euch diese Tage der Gnade wenig nützen, wenn ihr dann nicht anwenden würdet, was euch gesagt wurde. Sicher rechne ich damit, dass diese Exerzitien einen sehr großen Einfluss für die Zukunft haben werden, denn ihr habt sie in der Sammlung, in der Stille, der Vereinigung mit dem lieben Gott gemacht. Ihr habt unseren Herrn gesucht, ihr habt euch ihm geschenkt. Aber das genügt nicht: zu eurer Gabe muss man die Treue hinzufügen. Es ist diese Treue, die euch helfen wird zu handeln, wie euch gesagt wurde.
Meine Kinder, fasst gute Vorsätze am Ende dieser Exerzitien und gebt euch nicht damit zufrieden, sie auf die Täfelchen eurer Herzen zu schreiben, sondern schreibt sie auch kurz auf das Papier, um sie nicht zu vergessen. Wenn ihr Augenblicke der Mutlosigkeit habt, werdet ihr sie wieder lesen, und das wird euch gut tun. Die heilige Teresa [von Ávila] schrieb auch ihre Vorsätze auf, sie trug sie stets bei sich. Und wenn sie am Ende ihrer Kräfte war, wenn die Zahnschmerzen, die Ermüdung der Nerven sie so sehr befielen, dass sie ihr jeden Schlaf raubten und sie schwach werden ließen, legte sie, um ihren Mut neu zu beleben, die Hand auf diese Papiere, die sie auf ihrem Herzen trug und sagte zum lieben Gott: „Herr, was da ist, ist immer in meinem Willen.“
Schreibt also eure Vorsätze auf, mit dem Wunsch sie auszuführen, mit dem Wunsch, sich einen ständigen Willen zu bewahren, sie auszuführen. Durch Handeln kommt man weiter, nicht durch Sprechen. Wenn ihr nichts macht, werdet ihr nie etwas wissen. Eine Nonne, die nichts aus ihrem Ordensleben macht, ist wie ein Automat, eine Maschine, wie eine Drehorgel. Damit es nicht so ist, meine Kinder, werden wir handeln, werden wir machen, was uns gesagt wird. Wir werden nicht wie Drehorgeln ohne Herz und ohne Verstand sein.
Werden wir allein handeln können? Nein. Die Vorsätze sind etwas Gutes, aber man muss sie einhalten. Um also ihnen treu zu sein, werden wir sie dem Herzen unseres Herrn anvertrauen, wir werden ihm sagen: „O mein göttlicher Meister, du wirst handeln, ohne dich können wir nichts tun. Wir vertrauen dir unsere Vorsätze an, du wirst uns an sie erinnern, in dem Augenblick, wenn wir sie ausführen müssen.“
Ihr werdet euch zur heiligen Jungfrau begeben. Empfehlt euch ihr und sagt: „O meine gute Mutter, das erste von deinem Sohn in Kana öffentlich gewirkte Wunder hast du erhalten! Und dachte unser Herr nicht an dich, als er mit der Witwe von Naim Mitleid hatte? Und es war sicher der Gedanke an dich, der ihn dieses Wunder wirken ließ. Und wie viel andere Wunder sind der Erinnerung an dich und deiner Fürsprache zu verdanken? O meine gute Mutter, wir liebe dich, wir werden zu dir gehen, damit du uns hilfst, treu zu sein.“
Meine Kinder, wir werden nicht nur Andacht zu unserem Herrn im Allerheiligsten Sakrament, zur heiligen Jungfrau haben, sondern auch zum heiligen Franz von Sales, der sich innigst wünscht, uns als gute Nonnen zu sehen. Wir werden auf eine tiefe Andacht zur heiligen Johanna Franziska von Chantal haben, die für uns so eifrig, so mächtig bei unserem Herrn ist. Wir werden auch unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis bitten, aber wir werden es vermeiden, sie ganz laut in der Gemeinschaft anzurufen, denn wenn man der Kirche in der Ehre vorgreift, die man den Heiligen erweist, das kann ihre Heiligsprechung verhindern. Ihr werdet euch gut daran erinnern.
(Anmerkung: Der selige Louis Brisson gibt durch diese Zeilen seinen geistlichen Töchtern zu verstehen, dass sie sich nach seinem Vorbild an die Dekrete von Papst Urban VIII. bezüglich der Heiligsprechungen halten müssen.)
Rufen wir also die Gute Mutter an, rufen wir unsere Freunde des Himmels an, unsere heiligen Namenspatrone, alle, die wir lieben, damit sie uns helfen, unsere Willen in der Pflicht der Beobachtung der Ordensregeln zu erfüllen.
Meine Kinder, ihr werdet gut darauf achten zu denken, dass ihr unbedingt alles machen müsst, was euch gelehrt wurde, denn ihr werdet nie Nonnen sein – ich wiederhole es – wenn ihr nicht macht, was euch empfohlen wurde. Erinnert euch, dass unser Herr schon alles ausgeführt hatte, was er dann lehrte. Nonnen, die nicht ausführen, was sie gelehrt wurden, ähneln Arbeitern, die einen Baum fällen möchten, ohne die Hand an die Axt zu legen: sie vergeuden wohl ihre Zeit. Also, meine lieben Kinder, ihr werdet euch an alles erinnern, was euch gesagt wurde, um es treu auszuführen.
Ich schließe. Das beste mittel, das ihr zu ergreifen haben werdet, um dorthin zu gelangen, wird sein, eure Vorsätze dem Herzen unseres Herrn, dem der heiligen Jungfrau, des heiligen Franz von Sales, der heiligen Johanna Franziska von Chantal, aller unserer Patrone und Fürsprecher anzuvertrauen. Ihr werdet sie bitten, dass sich, was ihr gehört habt, in eure Seele eingräbt und in euer ganzes Benehmen einfließt, damit ihr wahre Oblatinnen werdet, sehr angenehm unserem Herrn, dem Ehre und Liebe sei von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Gott sei gebenedeit!