Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1873

      

2. Vortrag: Über die Abtötung

Montag Abend, 22. September 1873

Meine Kinder, um euer apostolisches Amt gut zu erfüllen, braucht ihr drei Dinge: die Gottesliebe, die Nächstenliebe und die Selbstliebe. Die Selbstliebe verstanden, wie es sich schickt, die Nächstenliebe ebenfalls gut verstanden und vor allem die Gottesliebe als Band zwischen den beiden anderen Liebesweisen. Schauen wir schon heute Abend, wie ihr die Selbstliebe verstehen sollt. Dann werden wir im Laufe dieser Exerzitien über eure Pflichten gegenüber Gott und den Nächsten sprechen.
Zuerst also, wie ist die Selbstliebe zu verstehen? Meine Kinder, ihr müsst eure Seelen heiligen, und um sie zu heiligen, müsst ihr die Abtötung, den Verzicht üben, euch mit dem Gedanken an den Tod vertraut machen, euch in euren Wünschen, Gedanken und Sinnen abtöten. Eure Bleibe muss auf Kalvaria gegründet sein. Wen finden wir tatsächlich an diesem Ort? Unseren aus Liebe zu uns leidenden und sterbenden Herrn, der die bei sich hat, die er am meisten liebt: seine heilige Mutter, den heiligen Johannes und die heilige Maria Magdalena.
Seid gut abgetötet, meine Kinder. Liebt die Abtötung sehr. Zuerst die Abtötung in euren Beziehungen zum Nächsten. Oft mögen wir diese oder jene Person nicht, weil unser Charakter mit ihrem nicht im Einklang ist; oder auch dass wir von einer anderen einige unangenehme Worte bekommen. Schenken wir alles unserem Herrn, denn es sind kleine Blumen von Kalvaria, die der heilige Franz von Sales so sehr liebt und die mit dem Blut des Herrn begossen werden. Um eine wahre Oblatin des heiligen Franz von Sales zu sein, muss man abgetötet sein. Ich befehle euch nicht, zu fasten oder Bußübungen wie die Einsiedler zu machen, nein, aber macht die von der Regel befohlenen Abtötungen und macht sie gut.
Was bedeutet das Wort Oblatin? Im Alten Gesetz waren die Oblationen die Gott dargebrachten Opfer. Man opferte die Opfer. Nun, meine lieben Töchter, seid unserem Herrn geopferte Opfer, bringt ihm Opfer eures Herzens, eurer Gedanken, eurer Neigungen. Heißt das, dass man das Kreuz, die Heimsuchungen, die Widerwärtigkeiten suchen muss? O Nein! Als unser Herr in seiner Angst am Ölberg die Last unserer Sünden und, was er zu leiden hatte, fühlte, sagte er seinem Vater drei Mal diese Worte: O mein Vater, möge dieser Kelch an mir vorüber gehen, ohne dass ich ihn trinke! … Aber, fügte er sogleich hinzu, mein Vater, dein Wille geschehe, nicht meiner! (vgl. Mt 26,39) … Ihr seht, dass selbst unser Herr keine natürliche Anziehung zum Kreuz hatte, nur weil es der Wille seines Vaters war, dass er litt, nahm er es großmütig an.
Macht es ebenso, meine liebe Töchter. Sagt unserem Herrn, wenn ihr eine Heimsuchung zu erdulden habt: „O Vater, wie ist dieses Kreuz schwer und drückend! Nie werde ich den Mut haben, es zu tragen. Dennoch, Herr, dein Wille geschehe und nicht meiner. Hilf mir, gib mir, was notwendig ist, um es gut anzunehmen und zu leiden.“ Seid wohl großmütig zu unserem Herrn, gebt ihm von Herzen alles, was er von euch verlangt. Ich wiederhole es: Ich will nicht, dass ihr von euch aus unseren Herrn um ein Kreuz bittet. Lasst ihm es euch selbst geben! Er weiß besser, was ihr braucht. Habt auch nicht zu viel Freude, es sogleich zu tragen, denn es könnte sich ein Grund von Stolz und Eitelkeit einschleichen. Man soll nicht wollen, es besser zu machen als der gute Meister, der selbst Widerwillen empfand beim Gedanken an sein Kreuz während seiner Angst in Getsemani. Ihr könntet Befriedigung oder Ehre empfinden, ein schönes und großes Kreuz zu tragen, aber da ist ein kleines, mehr demütigenderes als schmerzhaftes, das sich sogleich bieten wird, und ihr werde Mühe haben, es zu tragen. Nehmt großmütig alles an, was euch zu schicken Gott gefallen wird, aber immer im Geist der Sanftmut und der Demut. Sagt nach dem Beispiel des heiligen Andreas: „O gutes Kreuz, das ich immer sehr liebte, so sehr wünschte, nimm mich an, wie du meinen göttlichen Meister angenommen hast! … Als die Hohenpriester wollten, dass du heruntersteigst, wolltest du in Kenntnis des Willens deines himmlischen Vaters dort bleiben. Nun gut, Herr, möge es ebenso mit mir sein. Du willst, dass ich daran befestigt bin, dass nichts auf der Welt mich zum Heruntersteigen veranlasst, gewähre mir, dort zu bleiben und dort zu sterben, denn du weißt es, geliebter Vater, ich will nichts tun als deinen alleinigen und einzigen Willen.“
Wir sollen oft an den Tod denken. Warum? Weil es nichts Demütigenderes, nichts Schrecklicheres gibt als den Tod. Deshalb empfiehlt der heilige Franz von Sales seinen Töchter so sehr, diesen Gedanken stets vor Augen zu haben, der uns vernichtet und zu uns selbst zurückkehren lässt.
Meine Kinder, lebt und seid nicht wie die Menschen der Welt, liebt nicht zu sehr euer Wohlbehagen. Wir alle, wie wir sind, lieben es zu sehr, wir hängen uns zu sehr daran. Seid gut abgetötet in allen euren Wünschen, in eurer Seinsweise, in eurem Inneren und eurem Äußeren. O meine lieben Töchter, das Übel unserer Zeit, das Übel im Ordensstand, im geistlichen Stand, das Übel der ganzen Welt ist die Sinnlichkeit. Man beschäftigt sich nur damit, seine Vorlieben, seine Neigungen, seine Wünsche, seine Sinne zu befriedigen. Mit einem Wort, man kennt nicht Gott, man will nicht von ihm reden hören, er ist für niemand mehr etwas; also hängt man sich an die Vergnügungen, an das, was den Sinnen schmeichelt. Wenn ihr wahre Oblatinnen des hl. Franz von Sales sein wollt, ahmt unseren seligen Vater [Franz von Sales] nach, tötet euch ab wie er. Wenn man den heiligen Franz von Sales sieht, so hat er nicht das Aussehen, als würde er Abtötungen machen, aber nach Meinung derer, die ihn kannten, war keiner mehr abgetötet als er.
So könnt ihr also in euren Sinnen, euren Wünschen, in euren Beziehungen zur Welt alle Mittel ergreifen, um euch abzutöten. Ihr fühlt euch nicht wohl in eurem Bett, auf eurem Stuhl, euch ist zu warm in euren Gewändern, euch ist zu kalt, ihr würdet einiges brauche, ihr könnt es nicht bekommen, weil ihr zu arm seid, denn eine Nonne soll arm sein … was weiß ich? In all dem könnt ihr dem lieben Gott geben, in dem ihr euch von Morgen bis zum Abend abtötet. Ihr müsst das Kreuz nicht nur auf eurem Herzen, sondern in eurem Herzen einpflanzen und immer mit ihm leben. Der heilige Franz von Sales sagte oft, dass er nie so zufrieden war, als wenn er kaum zufrieden war. Nun, meine lieben Töchter, sagt, dass ihr nie so glücklich seid, als wenn ihr kaum glücklich seid; macht es wie unser seliger Vater.
Bleibt zu Füßen des Kreuzes wie die drei treuen Freunde unseres Herrn. Seid ein kleines Veilchen, dessen Duft bis zu unserem Herrn gelangt, der als Geruch nur den Essig hat, den man ihm zu trinken gibt. Nehmt teil an all seinen Leiden. Seid wieder dieses kleine Veilchen, das man in das Zimmer eines Kranken stellt, wenn er nahe daran ist, seine Seele Gott zurückzugeben, um ihm seine letzten Augenblicke zu mildern.
Seid auch sehr bescheiden, meine Kinder, in euren Blicken. Lasst eure Augen nie hinschweifen, wo sie nicht sein sollen. Eine Nonne soll in ihrem Aussehen, in ihrem Gehabe, auf ihrem Gesicht die Einfachheit, die Sanftmut, die Bescheidenheit unseres Herrn darstellen. Seid die getreuen Nachahmerinnen dieses guten Meisters, seid nach diesem göttlichen Vorbild geformt. Seid mit einem Wort demütige und einfache Seelen, nehmt teil an den Leiden unseres Herrn auf dieser Erde, wenn ihr eines Tages an seinem seligen Ruhm teilnehmen wollt, was ich euch aus ganzem Herzen wünsche. Amen.