12. Vortrag: Über die Eigenschaften der Liebe
Montag Vormittag, 28. September 1873
Meine Kinder, ich habe es gestern Abend sehr bedauert, dass ich mich nicht zu euch begeben konnte. Ich war verhindert durch die Umstände, die sich ergaben. Er blieben mir noch zwei Vorträge, ich wollte noch über den Eifer sprechen, den ihr für das Heil der Seelen haben sollt. Da ich es nicht machen konnte, bittet unseren Herrn, der im Augenblick in euren Herzen gegenwärtig ist, er möge euch erkennen lassen, wie weit ihr dem Heil der Seelen verpflichtet seid, vor allem denen, die euch anvertraut sind.
Heute Vormittag werde ich von der Liebe sprechen, die euren Eifer beleben soll. Damit diese Liebe vollständig ist, muss sie geduldig und wohlwollend sein, nichts Schlechtes denken und sich vergessen. Diese Liebe wird euch von unserem seligen Vater in der Ordensregel, die ihr habt, so sehr empfohlen. Sie ist das besondere Sigel eures Ordenslebens. Diese Liebe, diese Einheit der Herzen müsst ihr zu euren Mitschwestern und vor allem zu eurer Oberin haben.
Heute machen wir die Andacht der Schmerzen Mariens. Begeben wir uns zu Füßen des Kreuzes. Bemerken wir dort die heilige Jungfrau rechts, den heiligen Johannes, den geliebten Apostel, links und unseren Herrn nahe daran, den letzten Atemzug zu tun. Was macht der göttliche Heiland? Er wirft einen Blick auf die Seite zu seiner heiligen Mutter, die da bei ihm ist. Er sagt zu ihr vom heiligen Johannes: Da ist dein Sohn. Dann wendet er sich an seinen Lieblingsjünger: Da ist deine Mutter. Diese Worte sind wie das Testament seines Herzens. Sie mögen auch das Testament eures Herzens sein. Ihr seht daran, wie lieb ihm die Einheit der Herzen in den Familien war. Diese volle und ganze Liebe hat ihre Quelle in seinem letzten Tropfen Blut, in seinem letzten Atemzug. Er wollte uns zeigen, welche Einheit in allen Herzen herrschen muss, damit wir dann sagen können: „Dies ist meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester.“ Mit einem Wort: dass wir uns alle wie ein und dieselbe Familie betrachten. Es wird nicht gesagt, dass unser Herr in seinen letzten Augenblicken etwas anderes gesagt hat. Er wendet sich nur an Gott und sagt: Es ist vollbracht. Das heißt: alles ist zu Ende, alles ist beendet, alles ist erfüllt. Jetzt gebe ich meinen Geist in deine Hände zurück. Und dann starb er.
Meine Kinder, wir werden jetzt ein wenig von den Eigenschaften der Liebe sprechen, die diesen Eifer für das Heil der Seelen beleben muss. Sie ist geduldig, von einer grenzenlosen Geduld: in den Worten, in den Handlungen. Ohne Zweifel ist man manchmal nicht Herr seiner Regungen, vor allem mit diesem kleinen Nächsten, der oft sehr unangenehm ist. Aber bemühen wir uns, unseren seligen Vater nachzuahmen, der bei jeder Gelegenheit und mit allen eine grenzenlose Geduld zeigt.
Die Liebe muss wohlwollend sein: sie soll immer das Gute in einer Seele sehen, sie sogar bewundern. O, welch schöne Eigenschaft ist dieses Wohlwollen, das nie die Fehler sieht, sondern immer die guten Eigenschaften des Nächsten! Bittet um diese Tugend! Die Liebe urteilt nicht schlecht, das heißt sie sieht immer die Seite des Guten. Ihr seht eine Schwester, die manchmal scheinbar nichts Gutes an ihrem Äußeren hat. Aber in ihrem Inneren, wer weiß, was es in den Augen Gottes ist? Sie ist da vielleicht viel höher angesiedelt als ihr. Ihr wisst nicht, wie weit der liebe Gott sie liebt, ihr kennt seine Pläne nicht, die er mit ihr hat, beurteilt sie also gut und liebt sie.
Die Liebe denkt nichts Schlechtes. O nein, sie sieht immer die gute Seite und nie die böse. Wenn also ein Kind schlimm ist, sagt ihr euch: „Aus der wird nie was Gutes werden.“ Nun, die Liebe denkt nicht so, sie sagt: „Der liebe Gott hat einmal diese Seele besucht am Tag ihrer Taufe, am Tag ihrer Erstkommunion.“ Beschäftigt euch mit ihr, lasst sie nicht dort, sprecht mir ihr, seid milde zu ihr; der liebe Gott hält noch mit einer Faser zu ihr.
Die Liebe denkt nicht an sich. O nein, sie denkt nicht an sich, sie beschäftigt sich nur mit Gott, sieht nur ihn in allem und überall. Ihm hat sie sich geschenkt, hat sie sich gewidmet, sie muss also nur an ihn allein denken. Eine Seele, die dem lieben Gott gehört und nur an sich denkt, begeht einen Fehler gegen die Keuschheit des Herzens. Eure Ordensregel empfiehlt euch, keusch zu sein und euch zu vergessen, um euch nur mit Gott zu beschäftigen.
Die Liebe denkt nicht schlecht, das heißt: aus natürlichem Widerwillen, aus einer Laune heraus dürft ihr nicht schlecht von einem Mädchen denken, weil ihr sie nicht liebt, sie unangenehm, unerträglich findet. Es ist euch nur nicht verboten, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, die Vorsicht zu haben, dieses oder jenes Schlechte in einem Mädchen zu verbessern. Es ist euch auch nicht verboten, sie in ihren Neigungen zu überwachen, aber schlecht ist es, sie aus einer natürlichen Abneigung heraus zu tadeln, weil ihr sie nicht liebt.
Das sind, meine lieben Töchter, die Eigenschaften der Liebe in eurer Ordensfamilie und zu den Mädchen, die ihr hier oder draußen zu betreuen habt. Entfaltet bei ihnen all euren Eifer, eure ganze Hingabe, eure ganze Milde. Unser Herr hat das schön geknickte Rohr nicht gebrochen und nicht den glimmenden Docht gelöscht. Er ist ganz milde. Und hat er nicht auch gesagt: Kommt, nehmt mein Joch auf euch! Es drückt nicht und meine Last ist leicht! (Vgl. Mt 11,29).
O meine liebe Kinder, kommt, um die Worte unseres Herrn zu hören: Hier ist dein Sohn, hier ist deine Mutter. Bittet ihn in diesem Augenblick, dass er euch diese Liebe, diese Einheit schenkt, die er mit dem letzten Tropfen seines Blutes besigeln wollte. Sagt ihm: „O Jesus, Quelle aller Liebe, lass mich dich erkennen, damit ich nur in dir und für dich leben!“ Amen.
Gott sei gebenedeit!