11. Vortrag: Über den Eifer, die Frucht der Nächstenliebe
Sonntag Vormittag, 28. September 1873
Meine Kinder, gestern Abend begann ich, über die Aufgaben der Nächstenliebe zu euch zu sprechen. Ich werde nicht weiter darauf eingehen; wir werden später darauf zurück kommen. Heute Vormittag werde ich nur über die Frucht der Nächstenliebe sprechen.
Die Liebe erzeugt den Eifer. „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!“ (Lk 12,49). Man findet in der Heiligen Schrift nicht oft, dass unser Herr sagt: „Ich will.“ Hier sagt er „wie froh wäre ich!“. Er musste nie „Ich will“ sagen in dem kleinen Haus von Nazaret, wo er uns ein Beispiel an Arbeit und Demut gab. Hier aber will er förmlich den Eifer befehlen. Er will, dass wir seine Botschaft, seine Liebe in die Seele tragen.
Wie war der heilige Franz von Sales von diesem Liebeseifer belebt! Am Beginn seiner Tätigkeiten sehen wir ihn, wie er die Gletscher der Alpen durchschritt, diese felsigen Berge durcheilte, um die unwissenden Armen zu bekehren und das Licht zu diesem derben Volk zu bringen, das den katholischen Glauben nicht kannte und unseren Herrn vergaß. Es lag ihm so am Herzen, die Seelen für den lieben Gott zu gewinnen, dass er ausrief: „Herr, ich würde dich bitten, alle Qualen der Hölle zu erleiden, um dir Seelen zu gewinnen, wenn ich dort nicht von dir getrennt sein müsste.“ Und wie brannte auch die Heilige von Chantal von diesem Eifer für die Seelen! Man sieht, wie sie das Werk der Priester des heiligen Franz von Sales eifrigst unterstützt, wie sie ganz Eifer, ganz Flamme, ganz Aktion ist, um seine Ordensgründung weiterzuentwickeln oder wenn es um den Nächsten ging! Wie ermutigte und half sie mit ihren Ratschlägen, ihren Gebeten, ihrer Geldbörse den Priester bei ihren apostolischen Aufgaben! Sie betete unaufhörlich für das Wohl und die Fortschritte der heiligen Kirche.
Meine Kinder, ihr seid mit den Werken der Mädchen beauftragt. Übt euren Eifer mit immer neuer Glut aus! Gewöhnt euch nicht daran, die Personen, die euch umgeben, gleichgültig zu betrachten. Macht es nicht zu einer Art Routine eurer Andacht, eurer Beschäftigung. Gewöhnt euch nicht an die Gestalten, die ihr ständig um euch habt, erweitert vielmehr euren Eifer. Seid nicht lau! Man gewöhnt sich manchmal zu leicht an die Menschen, mit denen man ständig lebt und man sieht Vieles nicht, wenn man nicht den hellsichtigen Eifer für das Heil der Seelen hat. Wenn man euch ein Mädchen empfiehlt, geht zu ihr, beschäftigt euch mit ihr, mit ihrem Inneren. Ich will nicht sagen, dass ihr ihr ständig predigen müsst, dass ihr immer auf sie einsprechen sollt, nein, das würde schließlich lästig werden. Aber es möge ihr eure Miene, euer religiöses und gesammeltes Äußeres etwas Gutes in die Seele legen. Sprecht zu allen, mit denen ihr zu tun habt, die unser Herr euch anvertraute, die ihr führen sollt, die ihr zu leiten habt, beschäftigt euch mit ihnen. Erstreckt euren Eifer auf diejenigen, die nicht mehr zum Werk kommen, informiert euch über sie und was aus ihnen wird. Bedient euch des Fürsprechers der Mädchen, um sie zurückzuführen, und um andere zu gewinnen. Beschäftigt euch auch mit denen, mit denen ihr nicht unmittelbar zu tun habt, betet für sie, gebt ihnen bei Gelegenheit einen guten Rat, sagt ihnen ein gutes Wort, legt ihnen auch etwas Gutes ins Herz. Macht keine einzige Betrachtung, wohnt kein einziges Mal der Heiligen Messe bei, ohne an sie zu denken, ohne für sie zu beten. Habt eure Litanei und nennt sie alle dem lieben Gott.
Meine Kinder, ihr habt auch euren Teil des Apostolates zu erfüllen. Denkt nicht nur an euch, beschäftigt euch nicht nur mit euch allein. Der Profet verflucht den Priester, der nur an sich denkt; würde er nicht auch die Nonne verfluchen, die nur an sich denkt? O, achtet gut darauf! Hört gut zu: Der Eifer ist das Ziel eures Lebens, die Zusammenfassung eurer Ordensregel. Er muss immer in euch brennen. Schlummert nicht ein, schlaft nicht! Ihr müsst der heiligen Kirche helfen, das ist eure Berufung. Eure Ordensregel, eure Aufgabe ist das Heil der Seelen. Und wenn ihr diesen Eifer nicht habt, seid ihr keine Oblatinnen des hl. Franz von Sales, seid ihr nicht in eurer Berufung. Bischof Mermillod sagte es mir wieder, als ich ihn das letzte Mal in Versailles sah: „Die Oblatinnen müssen am Heil der Seelen arbeiten, der heiligen Kirche helfen. Sie müssen Hilfskräfte des Klerus sein.“ Er sagte mir: „Ich muss in Kürze nach Rom zurückkehren. Unser Heiliger Vater, der Papst, wird mich ohne Zweifel bald zurückrufen. Ich werde ihm von den Oblaten und den Oblatinnen des heiligen Franz von Sales erzählen.“
Meine Kinder, der Heilige Vater selbst bringt euch ein großes Interesse entgegen. Er zeigt es durch das Breve, das er uns schickte, als ich ihm schrieb. Ich bat ihn nur um einen Segen, und er schickt uns ein Breve, durch das er unsere Werke lobt und segnet. Ich habe mir das nicht erwartet. Ich dachte, er würde mir meinen Brief zurücksenden, dass er es machen würde, wie er es gewöhnlich macht, dass er einfach unten ein kleines Wort schreiben würde. Das muss uns ermutigen, wir müssen uns glücklich schätzen, von so hoher Stelle beschützt zu werden. Unser Heiliger Vater, der Papst, drückt den Wunsch aus, dass ihr euch mit den Werken und vor allem mimt den armen Mädchen beschäftigt.
Übt auch, meine lieben Töchter, den Eifer des Gebetes. Eure Ordensregel befiehlt es euch. Sonst würdet ihr keine guten Oblatinnen sein, würdet ihr nicht im Geist eurer Berufung sein. Manchmal sagt man: „Ich kann nicht beten, ich fühle nichts, der liebe Gott gibt mir nichts.“ Nun, ich glaube wohl, dass ihr eure Pflicht nicht erfüllt, dass ihr keine Nonnen seid. Ihr seid ein gutes Mädchen, ihr seid fromm und gehorsam, aber ihr habt nicht den Eifer für das Heil der Seelen. Der liebe Gott belohnt in euch die Tugenden einer gewöhnlichen Person, er belohnt nicht, was ihr ihm nicht gebt. Zum Beispiel: Ich beschäftige einen Erdarbeiter. Er arbeitet, er ist ein ehrenwerter Mann. Ich gebe ihm seinen Lohn. Ich belohne seine Arbeit, nicht seine Fähigkeiten. Ebenso wird unser Herr nicht eure guten Anlagen belohnen, sondern eure Arbeit, euren Eifer, die erreichten Ergebnisse. Man sagt wohl: „Ich möchte, ich wünsche, ich bin gut veranlagt.“ Aber man bewegt sich nicht, manch macht nichts. Das genügt nicht! Man muss eifrig sein! Habt wohl darauf Acht, ihr habt noch viel zu tun! Kommt nicht vor unseren Herrn, ohne etwas gemacht zu haben, kommt nicht zu ihm mit leeren Händen! O, achtet wohl darauf, meine Kinder. Vielleicht wird euer Leben nicht lang sein, seid also eifrig, solange ihr es könnt! Eure Berufung verlangt es.
Bittet den heiligen Franz von Sales, dass er euch hilft! Sagt ihm: „O mein guter Vater, hilf mir, der du dich im Eifer für das Heil der Seelen verzehrtest. Du, den unsere Gute Mutter Marie de Sales vor unserem Herrn sah, eine neue Aufgabe empfangend, um fortzuführen, was du in der Welt gemacht hast, und uns Oblatinnen wählend, um deine Werke des Eifers für das Heil der Seelen fortzusetzen, o, hilf uns, bitte für uns! Amen.“