3. Vortrag: Das innerliche Leben der Heimsuchungsschwester vor, während und nach den Exerzitien.
Meine lieben Schwestern!
Unsere Mutter Maria Salesia Chappuis gab Ihnen gelegentlich der Besuche, die Sie das Glück hatten, von ihr zu empfangen, eine Anempfehlungen, die sie Ihnen jedes Mal wiederholte. Und sie tat es mit immer größerer Eindringlichkeit und versicherte, wenn Ihre Gemeinde die Lebensweise, die sie Ihnen angab, gut befolge, so werde sie voll und ganz den Absichten Gottes entsprechen.
„Das eine Notwendige für Sie“, sagte unsere gute Mutter, „besteht darin, im Inneren und nicht im Äußeren zu leben.“ Indem sie das sagte, wollte sie Ihnen keineswegs vorwerfen, dass Ihr Leben ein nach außen sich ergießendes sei durch irgendwelche Verbindungen mit der Welt. Nein, gewiss nicht. Sondern sie wollte Ihnen sagen, dass Sie nicht vertraulich genug mit dem lieben Gott im Innersten Ihres Herzens wohnen. Sie wollte nicht, dass Sie von Ihrem Amt leben, dass Ihr Leben geteilt sei zwischen dieser und jener Meinung.
Ihrer Amtsschwester oder Ihrer eigenen. Sie wünschte, dass Sie nicht auf das Gesicht jener sehen, mit denen Sie zusammen sind, dass Sie Ihrer inneren Verfassung, Ihren Neigungen, Ihrem augenblicklichen Elend keine Beachtung schenken. Dies alles müssen Sie meiden, um innerlich zu leben. Ebenso verhält es sich mit jeder Sorge über das, was Sie für Ihre Seele notwendig halten an Trost, Kraft und Stütze. Sie wünschte, dass Ihr Leben ganz im Inneren sich abspiele, zwischen Gott und Ihnen, ohne, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Mittel richten und auf die innere Hilfe, die Ihnen vielleicht fehlt. Sie sollten vielmehr vollständig abhängig sein von Gott in Ihnen und Gott mit Ihnen. Deshalb sprach sie so oft zu Ihnen vom Kurz-Abschneiden.
Kurz abschneiden über die Vergangenheit, indem Sie nicht mehr mit Ihren Fehlern sich beschäftigen, nachdem Sie dieselben in der Beichte bekannt oder darüber Rechenschaft abgelegt haben. Kurz abschneiden über die Zukunft und die beunruhigenden Ursachen, die Sie Ihnen einflößen könnte Denn das ist das nach außen sich ergießende Leben. Leben Sie im Innersten.
Was ist dies innere Leben? Das ist das wahre Ordensleben. Sie sind hier für Gott allein. „Weshalb bist hierhergekommen, als du die Welt verließest?“ Diese Frage stellte sich oft der hl. Bernhard während seines Noviziates und auch später noch inmitten seiner vielen Arbeiten. Weshalb sind Sie hierhergekommen? Nicht für sich. Wenn Sie hergekommen wären, um sich zu suchen, so könnten Sie sich nur finden, um eine Last für sich selbst zu sein. Das war aber nicht Ihr Ziel. Als Sie hierherkamen, suchten Sie nur eines, die Vereinigung mit Gott, die in dieser Zeitlichkeit beginnt, um fortzudauern durch die ganze Ewigkeit. Das ist für Sie das einzige Notwendige, was Sie unfehlbar finden durch eine vollkommene Treue in Ihrem Berufe. Die Heimsuchung ist die Vereinigung des Himmels. Sie unterscheidet sich nur durch das Licht. Der Himmel ist der Ort, wo Gott ist. Im Paradies werden wir Gott sehen, doch wir werden nicht näher bei ihm sein als im Kloster. Das mag seltsam klingen, ist aber durchaus theologisch wahr. Der Unterschied besteht nicht in Wirklichkeit, sondern im äußeren Schein gemäß den Worten des hl. Paulus: „Hier auf Erden ist Gott bei uns und wir sehen ihn nur im Bilde. Im Himmel aber sehen wir ihn ohne Schleier und wie er ist.“ Die Gegenwart Gottes, die Vereinigung mit Gott ist beiderseits ebenso wirklich, ebenso wesentlich, aber nicht ebenso genussreich. Das Kloster ist mehr als irgendein anderer Ort der Erde jener, wo Gott sich gern finden lässt.
Das müssen Sie während der Exerzitien tun: Sie müssen Gott finden. Deshalb rate ich Ihnen als Defi, im Inneren zu leben, vertraulich, allein mit dem Heiland. Zerstreuen Sie sich nicht anderswo, unter keinerlei Vorwand. Nein, bleiben Sie bei ihm. „Bleibe bei mir.“ Leben Sie mit Jesus im Inneren der Seele. Hören Sie, was der Verfasser der Nachfolge Christi sagt: „In deinem Herzen rufe den Vielgeliebten zu dir. Verschließe gut die Türe, damit nichts in dieses Heiligtum eindringen könne, wo du allein mit Jesus bist.“ Oh, wie gut und vorteilhaft ist es, sich in dieser Sammlung, in dieser Trennung von den äußeren Dingen zu halten. Dann hören wir die Stimme des Vielgeliebten. Sie ist klar und verständlich, denn kein fremder Einfluss schwächt sie. Sie hat ihre ganze Salbung, denn nichts nimmt ihren Geschmack und ihre Süßigkeit.
Noch einmal also, leben Sie gut im Inneren während Ihrer Exerzitien. Machen Sie Ihre Gewissenserforschung ohne Unruhe, ohne ängstliches Nachgrübeln, ohne in die Zukunft zu blicken. Die Vergangenheit ist die Vergangenheit. Sie gehört nicht mehr Ihnen. Überlassen Sie sie der Barmherzigkeit Gottes. Die Zukunft gehört auch ihm, rühren Sie nicht daran. Am ersten und zweiten Tag Ihrer Exerzitien beschäftigen Sie sich sanft damit zu erkennen, was Gott für Sie gewesen ist während dieses Jahres, was er Ihnen gesagt hat, was er Ihnen getan hat, was er Ihnen gegeben hat. Ahmen Sie die erste Retraite des hl. Petrus und des hl. Johannes nach als sie dem Heiland begegnet waren. Sie fragten ihn: „Meister, wo wohnest du?“ Jesus antwortete ihnen: „Kommt und sehet.“ Sie folgten ihm in seine Wohnung und blieben drei Tage bei ihm. Was sagten sie ihm? Was erkannten sie in diesen drei köstlichen Tagen der Einsamkeit bei Jesus? Sie erkannten alles, was der gute Meister für sie bis dahin gewesen war und sagten ihrerseits, was sie für ihn sein wollten. Tun Sie dasselbe, meine lieben Töchter, während der zwei ersten Tage der Exerzitien. Am dritten Tage erforschen Sie sich über Ihre Fehler nach der natürlichen Ordnung, nach den Sakramenten, den Gelübden, den Übungen des Tages. Diese Methode ist sehr klar und wird Ihnen einen Gesamtüberblick über Ihre Fehler geben. Ermüden und beunruhigen Sie sich aber nicht, um sie gut zu erkennen, sondern fragen Sie Jesus um Rat. Er sage Ihnen Ihre Nachlässigkeiten, Ihre Versäumnisse, Zerfahrenheiten, Lauheiten, und Zerstreuungen. Lassen Sie sich von ihm sagen, wie schuldbefleckt Sie sind. Und nach dem, was Sie durch die vertraulichen Worte Jesu erkannt haben, legen Sie Ihre Beichte ab, einfach und offenherzig. Sagen Sie alles, wie der Heiland es Ihnen gesagt hat. Wiederholen Sie Wort für Wort, wie er es Sie hat verstehen lassen in der Tiefe des Herzens. Dann wird Ihre Beichte ausgezeichnet sein und Früchte des Lebens und der Erneuerung bringen. Sehen Sie, wie wir immer im Inneren bleiben und nicht nach außen gehen.
In den folgenden Tagen bleiben Sie noch weiter bei Jesus allein. Fragen Sie ihn, was er von ihnen wünscht. Er ist immer bei Ihnen, er geht mit Ihnen. Schauen Sie auf ihn. Er ist da. Sprechen Sie mit ihm und er wird Ihnen antworten oder wenn er nicht antwortet, oh, wie gut ist dann sein Schweigen: Martha und Maria sind beide bei Jesus am Grabe des Lazarus. Martha beunruhigt sich und macht viele Worte. Jesus antwortet ihr. Hören Sie, wie schön das ist. Welch erhabene Dinge sagt er und vernimmt sie! Maria, im Gegenteil, sagt nichts und begnügt sich damit, im Inneren Ihres Herzens zu beten und Tränen der Liebe zu vergießen. Ihr Schweigen aber rührt das Herz Jesu. Die Tränen Marias ziehen Tränen in die Augen Jesu. Er weint mit ihr. Es ist eine vollständige Verschmelzung. Das Wort Gottes scheint sich zu verschmelzen mit den Tränen, mit den Gebeten und der Liebe dieser schweigsamen Seele. Bei Maria ist alles im Inneren konzentriert, während Martha äußerlich handelt. Maria ist jedoch nicht untätig. Ihre Tätigkeit aber bleibt im Inneren, ihre Worte sind im Inneren. Ihre Tränen, ihre Blicke allein verraten ihre Gedanken. Doch das genügt, das trägt den Sieg davon. Der gute Meister erhört ihr Gebet.
Am Ende der Exerzitien fassen Sie Ihre Vorsätze, jene, die Jesus selbst Ihnen diktiert, Sie können sie aufschreiben, wenn es Ihnen nützlich ist. Es ist manchmal gut, sie vor Augen zu haben, obwohl sie tief im Herzen sind. Folgen Sie darin dem Rat, der Ihnen gegeben wird. Ihre Exerzitien sind beendet. Doch sie müssen das Jahr hindurch den Weg fortsetzen, den Sie hier betreten haben. Sie müssen leben von dem, was Sie hier empfangen haben. Ihr ganzes Jahr soll die Fortsetzung ihrer Einsamkeit sein ohne sich davon zu unterscheiden.
Auf diesem Wege führen wir ein Leben im Inneren, vor, während und vor allem nach den Exerzitien. Möge es so sein! Der Schutz des Allmächtigen gewähre Ihnen diese Gnade. Er verleihe Ihnen einen lebendigen Glauben, Willenskraft und den Reichtum seiner Gnaden. Auch die Gabe des so innerlichen Gebetes, der so vollkommenen Vereinigung mit Gott, die unsere Mutter Maria Salesia Chappuis besaß, möge Ihnen reichlich mitgeteilt werden. Sie sind die Kinder der Heiligen. Ihr Erbteil gehört Ihnen. Sie haben das Recht, es zu verlangen. Bitten Sie den guten himmlischen Vater durch die Vermittlung des seligen Vaters unserer Seelen, unseren hl. Stifter, bitten Sie ihm, Ihnen Ihre Erbschaft zu geben: „Oh Herr, wir sind die Kinder der Heiligen, lass uns unser Erbe nicht entgehen. Wir sind arm, gib uns unseren Anteil. Wir bitten Dich nicht um außergewöhnliche Gnaden, sondern um jene, welche Du Dich gewürdigt hast in der Schatzkammer unseres Ordens niederzulegen. Nimm, und gib uns.“ Wenn Sie so mit Eifer und Vertrauen beten, bin ich gewiss, dass Sie erhört werden. Und jede Einzelne wird jenen Anteil erhalten, der jede andere Gabe übersteigt und der für sie niedergelegt ist im Herzen Gottes. Und eines Tages werden Sie im Himmel ausrufen: „Ich bin auf dem Gipfel des Glücks, oh Herr, weil Du mir einen kostbaren Anteil bereitet hast.“ Dann wird der Vater unseres Herrn Jesus Christus einer jeden einen kostbaren Stein übergeben, auf welchem ihr Name geschrieben steht, ein neuer Name, der besagt, was Sie für Gott sind und was Gott für Sie ist, ein Name, der Sie glücklich macht, der Ihr ganzes Sein umwandelt und verklärt und alle Geheimnisse Gottes für Sie auf Erden offenbart. In seligem Jubel drücken Sie ihn an Ihr Herz und für immer mit Jesus vereint, wünschen und verlangen Sie eine immer innigere Vereinigung mit ihm. Mit dem Lieblingsjünger rufen Sie: „Komm, oh Herr Jesus.“
So fließen die Tage der Ewigkeit dahin, wie wir die Tage der Einsamkeit der Exerzitien und die Tage der Verbannung verbracht haben. „Einst“, so sagen Sie dem lieben Gott, „habe ich allein mit Dir gelebt. Heute, da Du so gut, so mächtig, so überfließend von Wonne und Liebe bist, darf ich noch dasselbe Leben leben, ein Leben, einzig mit Dir und in Dir. So war die Erde. Der Himmel ist nicht anders.“
Auf diese Weise leben Sie, meine lieben Töchter, schon jetzt das innere Leben, das Leben des Himmels, das einst Ihr überreichlicher Lohn sein wird. Amen.
GOTT SEI GEBENEDEIT!
