Vorbereitungstriduum für die hl. Exerzitien im Kloster der Mariä Heimsuchung zu Reims vom 01.-03.09.1879

      

1. Vortrag: Das Ordensleben in der Heimsuchung Mariä

Meine lieben Schwestern!

Heute vor vier Jahren zur selben Stunde stand ich unserer Mutter Marie de Sales (Anm.: „Maria Salesia Chappuis“) in ihren letzten Kämpen und ihrer Todesnot bei. Ich empfing aus ihrem Munde ihre letzten Worte, ihr letztes Testament und erkannte mit tiefer Überzeugung, dass der Weg, den diese heilige Seele gegangen ist, der sicherste und demütigste, kurz der wahre Weg der Töchter des seligen Vaters (Anm.: „Franz v. Sales“) ist. Er gibt ihnen die Gewissheit, auf demselben zum Himmel zu gelangen und unterdessen auf Erden ständig von ihrem himmlischen Bräutigam begleitet zu werden, ihm in allem zu gefallen und seine kostbarsten Gnaden zu empfangen.

Da ich die Liebe unserer Guten Mutter zu Ihnen geerbt habe, so komme ich heute zu Ihnen mit Worten der Liebe und des Friedens. Ich habe eben, als ich vor dem Tabernakel kniete, den Herrn gebeten, jene Worte auf meine Lippen zu legen, die am besten geeignet sind, Sie zu trösten und zu ermutigen zu jenem heiligen Leben, zu dem Sie sich bei der Gelübdeablegung verpflichtet haben. Meine lieben Töchter, meine teuren Schwestern, erlauben Sie mir, mich mit Ihnen wie Ihr älterer Bruder zu unterhalten, Ihnen der Vermittler der Wahrheit zu sein, die ich von Gott die Aufgabe habe zu Ihrer Seele zu reden, um Ihnen das zu sagen, was Ihnen am nützlichsten ist, um Ihnen weiter zu helfen auf dem schwierigen, dornenvollen Wege des Ordenslebens.

Dieses schöne Ordensleben hat zu allen Zeiten seine Schwierigkeiten gehabt. Doch heutzutage kann man sagen, dass die Dornen, die es umgeben, sich vervielfältigt haben und dass die mit diesem Leben unzertrennlichen Prüfungen länger und größer sind denn je. Gott will nämlich starke Seelen heranbilden, die allen Schlägen zu widerstehen vermögen. Das Ordensleben gleicht in diesen Zeiten einem mit fast reifen Früchten beladenen Baum. Wenn er heftig vom Winde geschüttelt wird, werden Sie alsbald sehen, wie alle nicht ganz gesunden Früchte zur Erde niederfallen. Wir sind bei jener Zeit angekommen, auf die die Apokalypse hinweist, wo die Versuchungen die Erde bedecken sollen. Wundern Sie sich also nicht, erschrecken Sie nicht, wenn Sie Versuchungen begegnen, wenn Schwierigkeiten, Unmöglichkeiten, zahlreiche Ursachen zur Entmutigung, zur Erbärmlichkeit, zur Schwäche Sie anfechten. Alle diese Dinge sind vorausgesagt, Sie müssen sie annehmen, wie Gott sie zulässt. Und wenn Sie sich bemühen, trotz allem ständig treu zu sein, so sind diese Prüfungen für Sie das mächtige Mittel zu Ihrer Heiligung. Fassen Sie also neuen Mut. Denn Ihr Anteil ist gewiss der beste unter Tausenden und Zehntausenden. Das Leben der Heimsuchung, jenes schöne Leben, das Ihnen von unserem seligen Vater vorgeschrieben ist, es ist das sicherste und glücklichste von allen. Es ist das sicherste, weil es ganz eingegeben ist vom Geiste Gottes. Unser hl. Stifter hat nichts verlangt, nichts vorgeschrieben, was wir nicht leicht zu tun vermögen, wenn wir mit unserem ganzen guten Willen, mit ganzem Herzen an die Ausführung gehen. Der Orden, den er gestiftet hat, wird unverändert fortbestanden bis zum Ende der Welt. Denn der Geist Gottes hat über unserem seligen Vater geschwebt und ist das wahre Licht für diese letzten Zeiten gegeben. Darum ist dieser Orden der vollendetste, um zum lieben Gott zu gehen, der sicherste für Ihre Heiligung.

Preisen Sie also unaufhörlich den Herrn, dass Sie so sehr begnadigt hat. Und was Sie auch fühlen und empfinden, was Sie auch hören mögen, glauben und nehmen Sie nichts anderes für sich an, als was ich Ihnen jetzt sage, um Ihnen verständlich zu machen, dass Sie sich in dem vollkommenen Gut befinden, in dem nichts zu ändern und umzugestalten ist. Alles, was Ihren Beruf betrifft, ist schön, ist sicher, ist glücklich. Sie brauchen nur fortzufahren, ihn auszuüben, und mit neuem Mut Gott treuer denn je zu sein.

Ich füge nur einige sehr wichtige Bedingungen hinzu, damit Ihr Leben den Wünschen unseres seligen Vaters entspricht. Ich will Ihnen ein Wort anführen, welches die Juden den Spartanern schrieben, mit denen sie verwandtschaftliche Beziehungen hatten. Sie befanden sich im letzten Stadium ihrer äußeren Macht. Sie standen ebenso wie die Juden unter dem Drucke der revolutionären Prüfung. Es war die Zeit der Makkabäer, die viel Ähnlichkeit hatte mit der Zeit, in der wir leben. Die Regierung war in den Händen der Gottlosen, die überall Schulen eröffneten, um die Kinder vom Glauben ihrer Väter abzuziehen. Das ist so recht das Merkmal der Verfolgung, die wir erleiden und die der hl. Johannes deutlich in der Apokalypse bezeichnet hat, indem er erklärt, dass die letzten Zeiten Zeiten von Verführern seien. Ja, man verführt und vergiftet jetzt alles, die Jugend, die Kinder, die Lehre, die Seelen, um sie unmerklich durch geheime Mittel um Tode zu führen.

Die Juden schrieben also den Spartanern in ihren Leiden: „Wir haben wenigstens den Trost unserer hl. Schriften.“ Auch Sie, meine Töchter, haben, welches auch immer Ihre Prüfungen sein mögen, den Trost Ihrer hl. Schriften, die Ihnen umso teurer sein müssen, als sie einen um sichereren Anspruch auf Ihre Hochschätzung haben, seitdem unser seliger Vater zum Kirchenlehrer ernannt worden ist. Alles, was er gesagt hat, kommt unmittelbar nach den hl. Evangelien. Es ist auch das Wort Gottes, das göttliche Wort, widergegeben von einer Seele, die auserwählt war, das Organ des hl. Geistes zu sein. Ihre heiligen Schriften und das, was Ihre Seelen nähren und erfreuen will. Sie sind Ihr tägliches Brot, ein verborgenes Manna, das Sie stärken und aufrecht halten soll auf dieser Erde der Prüfung. Sie sind wirklich Ihr Nazareth. Oh, Haus des Brotes, wo die Nahrung kräftig, reichlich köstlich ist, wo wir in allen Nöten vollkommene Sättigung all unserer Fähigkeiten finden! Oh, wie gut ist dieses Brot! Wie sehr habe ich alle seine Eigenschaften bewundert im Leben unserer Mutter Maria Salesia de Chappuis. Denn man kann sagen, dass sie nur vom Direktorium lebte. Daher war sie ganz durchdrungen vom Geist unseres hl. Direktoriums. Sie schwamm in diesem Ozean, sie war davon erleuchtet. Wie oft bemerkte ich, wenn sie die Betrachtung verließ, wie sie umgeben war von einem Strahl von Glorie und der Liebe. Sie schien mir ganz umgewandelt.

Wir haben das Glück an der gleichen Quelle unseres geistlichen Lebens zu schöpfen. Heute will ich Ihnen nur ein Wort sagen über jene unserer Schriften, die am häufigsten in unserer Hand und unter unseren Augen, vor allem in unserem Herzen und in unseren Handlungen sein soll, das Direktorium. Diese Schrift hat unsere gute Mutter so groß und so heilig gemacht. Man kann von ihr sagen, dass sie das personifizierte Direktorium war. Vom Beginn ihres Ordenslebens an hatte das Direktorium sie schon zu jenem Zustand des Lebens in Gott geführt, den unser seliger Vater Liebe des Wohlgefallens nennt. Alles, was Gott wollte oder zuließ, jeder Akt seiner Macht oder selbst seiner Gerechtigkeit war für sie ein Gegenstand eines Wohlgefallens ohne Einschränkung, ohne Grenzen. Sie nahm alles liebevoll an, ohne irgendwelche Umschweife oder menschliche Rückblicke. Ihr gewöhnliches Leben war der ständige, vollständige Ausdruck des Direktoriums. Sie hatte sich während ihres Noviziates so sehr bemüht, das Direktorium zu üben, dass ihre Gesundheit darunter litt. Sie würde sich nicht erlaubt haben, eine Viertelstunde des Tages davon abzuweichen. Deshalb hat der Heiland, der immer freigebig ist, sie belohnt mit der Fülle seiner Liebe. Welche Gnadenströme erfüllten ihr Herz, welches Licht ihren Geist, welch himmlische Süßigkeiten ihre Seele! Und dies alles hatte sie geschöpft im Direktorium. Sie verkostete es nur durch das Direktorium.

Seien auch Sie, meine lieben Töchter, entschlossen, dieses kostbare Buch in die Hand zu nehmen, es an Ihr Herz zu pressen und zu sprechen: „Mein Gott, das ist meine Nahrung, mein tägliches Brot, mein Leben. Hier will ich lernen, dich recht zu erkennen, dich mehr zu lieben und dir besser und intensiver zu dienen.“ Vielleicht antworten Sie mir: „Aber, mein Vater, wir wissen unser Direktorium auswendig. Seit zehn, zwanzig, dreißig Jahren lernen wir es.“ Ich erwidere darauf, dass dreißig Jahre nicht zu viel sind, um es gut zu verstehen und zu üben. Wenn Sie sich seit dreißig Jahren vollkommen treu üben, so sind Sie gewiss zur Liebe des Wohlgefallens gelangt, die eine vollständige Gleichförmigkeit mit dem Heiland bewirkt, dem Herzen, dem Geist, dem Willen nach, in der Art zu sein, zu handeln, zu leiden, sich zu halten, zu sprechen. Sie bilden nicht mehr zwei Wesen, sondern eines. Oh, welch herrliche Schule ist die des Direktoriums! Welch liebliche und süße Übung! Welch wunderbarer Bau ist diese Zusammenstellung, die uns nicht nur die Vollkommenheit als möglich und erreichbar zeigt, sondern sie in die Seele legt!

Die am meisten begnadeten Ordensfrauen, die ich gekannt habe, sind alle auf diesem Weg gegangen. Ich kenne keinen anderen, der Weg gegangen. Ich kenne keinen anderen, der so viel Segen auf die Seele herabzieht, soviel Blicke seiner Liebe. Fassen wir denn heute den festen Entschluss, uns daran zu heften mit seiner Liebe, mit jener Innigkeit des Herzens, die uns dem Heiland nahe bringt und bewirkt, dass wir nur ein Leben mit Ihm haben. Seien wir Ihm, wie unsere Gute Mutter, treu bis zum Ende. Einige Zeit vor ihrem Tode schien ihr Gott ihre Erkenntnis, ihr Urteil über die Dinge der Erde und selbst über die Vollkommenheit genommen zu haben. Wenn man sie fragte, antwortete sie oft mit köstlicher Unbefangenheit: „Ich sehe nichts, ich weiß nichts mehr.“ Richtete man aber ihr Augenmerk auf Gott allein, auf die Liebe des Heilandes, auf die Rettung der Welt, so war ihre Seele sofort erleuchtet. Man erkannte, dass Gott alle Bande zerrissen hatte, die sie an die Erde hefteten. Die Wolkensäule, die ihre heilige Seele immer während ihrer Pilgerfahrt begleitete, hatte ihre dunkle Seite der Erde zugewandt, sie war aber leuchtend nach der himmlischen Seite. Und ich sah, wie diese vollendete Heilige gleichsam gewebt war aus jedem einzelnen Faden des Direktoriums. Das Direktorium bot die letzten Stufen, um einzugehen in den Vorhof des Himmels.

Oh, wie sehr wünsche ich, dass der Heiland in Ihre Seele die Erleuchtungen über dieses göttliche Buch ergösse, mit denen unsere heilige Mutter überströmt war! Welchen schönen Weg hat es ihr bereitet! Wenn Sie diese drei Tage der Sammlung, größerer Wachsamkeit über sich selbst gut benutzen wollen, so fangen Sie damit an, dieses gesegnete Buch sehr zu schätze und es mehr zu lieben. Es ist für Sie, was für den Lieblingsjünger jenes Buch war, das der Engel ihm gab mit den Worten: „Nimm und iss dieses Buch. Es wird deinem Munde wohl etwas Bitterkeit bereiten. Doch sein Geschmack ist süß und führt zu Jenem, der es dir gibt.“ Auch Sie, meine lieben Schwestern, sind die Lieblinge des Heilandes. Ihnen hat er sein Herz geschenkt, seine Liebe, das Teuerste. Er ist nicht zu anderen gegangen. Er hat es Ihnen gebracht. Als Gegengabe wünscht er, dass Sie das Direktorium in Ihr Fleisch und Blut übergehen lassen, dieses Band der Liebe, welches die Ausstrahlung des göttlichen Herzens Jesu ist. Dann werden Sie stärker und glücklicher denn je sein. Denn die Gnade wird reichlich und voll Süßigkeit in Sie herabsteigen, damit jede erfährt, wie sehr sie geliebt ist und damit Sie Liebe für Liebe geben. Amen.