Exerzitien für Jungarbeiterinnen, August 1870

      

5. Das Gebet

Meine Kinder, die Tage unserer Exerzitien sind wahrhaftig zu kurz. Wir müssten gemeinsam die verschiedenen Fragen durchgehen können, die unsere Seele betreffen, um sie aufzurichten, sie zu bessern. Es ist aber schwierig, in drei Tagen so viele Fragen zu behandeln. Ich habe mich daher auf das Notwendigste beschränkt.

Eines Tages waren die Apostel um ihren Meister versammelt. Sie schauten auf ihn und hörten ihm zu. Einer von ihnen sprach die Gedanken aller anderen aus und sagte: „Meister, lehre uns beten.“ Wir sind wie Kinder, wir verstehen nicht zu beten. „Nun gut“, antwortete Jesus daraufhin, „wenn ihr beten wollt, sollt ihr sprechen: ‚Vater unser im Himmel…‘“ Indem er sie das Vaterunser lehrte, belehrte er sie, was sie von Gott erbitten müssten, um ihm zu gefallen. Meine Kinder, ich wünschte, dass ihr Jesus im Tabernakel aufsucht, denn da ist er ebenso wirklich gegenwärtig wie er es damals inmitten seiner Jünger war. Sagt ihm: „Herr, lehre mich beten.“ Das Gebet ist so schön, so beglückend für eine Seele, die es versteht.

Man kann zwei Arten von Gebet unterscheiden: das Pflichtgebet und jenes, das ich das vertrauliche Gebet nennen will. Das Pflichtgebet ist jenes, zu dem wir unter Sünde verpflichtet sind. Das vertrauliche Gebet ist jenes, zu dem wir nicht verpflichtet sind, das aber zwischen Gott und uns eine sehr liebevolle Beziehung unterhält, die unsere Seele auf Erden glücklich macht.
Das ist vor allem das Pflichtgebet des Sonntags, die Teilnahme am hl. Messopfer. Das darf man nie unterlassen, außer aus sehr schwerwiegenden Gründen, z.B. wenn ihr krank seid. Wenn ihr aber nicht ernsthaft verhindert seid, dürft ihr es nie versäumen. Wenn ich ein Mädchen treffe, das nie freiwillig die Messe versäumt hat, dann sage ich, dass seine Seele das Unterpfand seines künftigen Glückes hat, denn sein Gewissen ist in Ordnung, und wenn es ausdauernd ist, wird es sicher in den Himmel kommen.

Meine Kinder, ich beschwöre euch, dispensiert euch nie von der Messe ohne höhere Gründe. Glaubt, ja glaubt an die Gebote Gottes und der Kirche. Tut nicht, was sie verbieten, und der Friede wird in eurer Seele sein, die Engel werden euch nahe sein und euch dienen, sie werden euch auf Händen tragen, damit ihr euch nicht an den Steinen der Prüfungen stoßet. Sie werden euer Leben mit ihrem Schutz umgeben. Glaubt meiner Erfahrung. Ich habe viele Leben gekannt, und sie vor mir abrollen gesehen. Nun, die Glücklichsten waren stets die Leute, die die Gebote Gottes und der Kirche beobachtet haben.

Dann gibt es das Morgen- und Abendgebet. Sie sind nicht so verpflichtend wie die Sonntagsmesse und man begeht nur eine lässliche Sünde, wenn man sie unterlässt, aber man darf sie trotzdem nicht unterlassen. Ich weiß, dass man am Morgen viel zu tun hat. Ich verlange auch nicht dreiviertel Stunde von euch, nicht einmal eine Viertelstunde, nicht fünf Minuten Gebet, sondern nur eine Minute. Kniet nieder, betet das Vaterunser, das Ave Maria, das Glaubensbekenntnis, einen Akt des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, dann fügt hinzu: „Mein Gott, ich lege meine Seele, meinen Willen in deine Hände. Ich bitte um deine Gnade. Segne mich, verlass mich während dieses Tages nicht. Ich habe keine Zeit, dir jetzt viel zu sagen, aber ich werde im Lauf des Tages zu dir zurückkommen.“

Das dauert nicht lange. Unterlasst es aber nie. Es gibt Leute, die sich an die Arbeit begeben, ohne ihr Gebet gemacht zu haben. Sie sind wie Kinder, die ohne Frühstück in die Schule kommen, wie Seeleute, die sich für eine Reise einschiffen, ohne den notwendigen Proviant mitgenommen zu haben. Macht also euer Gebet, meine Kinder. Macht es so kurz, wie ihr wollt, aber macht es.

Am Abend könnt ihr es etwas länger halten. Dann erforscht euch über die Fehler des Tages, und ihr werdet sehen, ob ihr gegen eure guten Vorsätze gefehlt habt. Bittet dann Gott um Vergebung und versetzt euch in den Zustand, in dem ihr sein möchtet, wenn ihr, statt in eurem Bett zu erwachen, in der Ewigkeit aufwachen müsstet. Wie viele Menschen sterben in der Tat in der Nacht! Wie viele plötzliche Todesfälle sieht man. Sie sind jetzt an der Tagesordnung. Jeden Morgen erhebt sich eine Unzahl von Menschen nicht mehr und man legt sie in ihren Sarg.

In dieser Verfassung muss man das Abendgebet machen, das man nie unterlassen darf, ebenso wenig wie die anderen Pflichtgebete. Wenn man darin treu ist, erwirbt man viele Gnaden und man ist sicher auf dem Weg, der zum Himmel führt.

Nun will ich euch etwas über das vertrauliche Gebet sagen. Ich fühle, dass es unter euch viele Herzen gibt, die mich verstehen, und die nicht nur denken und schätzen, was ich euch sagen werde, sondern die es seit langem üben.

Was ist das vertrauliche Gebet? Es ist das Gebet, das echte Gebet, das wir unter allen Umständen des Lebens an Gott richten, um ihn zu bitten, uns zu helfen. Das Gebet, das am Beginn der Arbeit Gott bittet, sie zu segnen, das Gott im Augenblick der Versuchung um seinen Beistand bittet und sagt: „Mein Gott, hab Erbarmen mit mir. Ich fühle mich gedrängt, mich zum Zorn gehen zu lasen. Komm mir zu Hilfe.“ Das ist das vertrauliche Gebet. Man erinnert sich, dass Gott in unserem Herzen ist. Man sagt ihm ein kleines liebevolles Wort. Man wendet sich an die heilige Jungfrau, an seinen Schutzengel, an die Heiligen, die man verehrt.

„Wozu dient dieses Gebet?“ werdet ihr sagen. Wenn ihr eines Tages von einem großen Unglück betroffen wird, wenn ihr den Verlust eines lieben Menschen zu beklagen habt, wer euch trösten, wenn ihr nicht gewohnt seid, eure Zuflucht zu Gott zu nehmen durch dieses vertrauliche Gebet? Wer wird euch etwas von seiner Güte sagen, von der Hilfe, die er der in Schmerz versenkten Seele gewährt? Wenn eine arme Mutter angstvoll an der Wiege ihres Kindes wacht, das im Sterben liegt, das sie unter ihren Augen die Seele aushauchen sieht, wie ist die unglücklich, wenn sie nicht Gott bei sich hat! Sie leidet ohne Trost. Wenn aber der Balsam des Gebetes in ihre Seele dringt, fließen ohne Zweifel noch ihre Tränen, aber diese Bitterkeit ist nicht ohne Linderung, ohne Hoffnung.

Vielleicht wachen wir voll Unruhe bei einem sehr lieben Menschen, Vater, Mutter oder Bruder. Vielleicht fühlen wir schon den herzzerreißenden Schmerz, den man empfindet, wenn man sich von jenen trennen muss, die man liebt. Woran soll sich unsere Seele klammern, wenn uns das Gebet fremd ist? Die vernunftlosen Wesen sterben, und für sie ist alles aus. Wir aber fühlen, dass wir nicht ganz sterben müssen, und wir müssen uns mit denen vereinigen, die uns verlassen haben, die nicht mehr bei uns sind.

Einer der berühmtesten Dichter dieses Jahrhunderts, Lamartine, ist mit großen Gottesgaben zur Welt gekommen. Unglückerlicherweise war er der christlichen Tradition seiner Familie nicht immer treu. Als aber seine letzte Stunde nahte, ließ er einen Priester holen und söhnte sich mit Gott aus. Kürzlich las ich in seinen Schriften die Passagen, wo er erzählt, wie ihn seine Mutter die Grundlagen des Glaubens lehrte und ihn vor allem beten lehrte. Sie war eine große Christin und ihr Leben war gleichsam ganz durchdrungen vom Gebet. Lamartine bezeichnet jene Allee im Garten ihres Hauses, in die sie sich am Abend zurückzuziehen pflegte. Sie bat Gott, ihre Kinder zu segnen, ihnen den Glauben zu bewahren, während der Ernte betete sie, dass die Garben voll und ertragreich seien. Wenn sie den Weinberg sah, bat sie, dass die Frucht erhalten bleibe und reif werde. In Tagen der Prüfung bat sie Gott, den bitteren Kelch in Segen zu verwandeln, der auf das Haupt ihrer Kinder komme. Jede ihrer Handlungen war durch das Gebet gesalbt, und dieses Gebet verließ sie nie.

Ich wollte euch diesen Abend gern das Gebet kennen und lieben lehren, wie es diese fromme Frau verstand und liebte, damit euch das Gebet später im Lauf eures Lebens stets begleite. Bete als Kind, bete als Mädchen, bete in glücklichen Tagen, bete am Tag der Bedrängnis. Das Gebet begleite euch stets, haltet es wie eine Freundin, und es wird euch begleiten über einer Wiege, an einem Grab, überall, weil ihr treu gewesen seid.

Ich komme von einer Wallfahrt zurück, die ich seit langem zu machen gewünscht hatte. Ich besuchte in der Kathedrale von Autun das Grab des Lazarus, des Freundes Unseres Herrn, den er auferweckt hat, und ich hatte das Glück, seine Gebeine zu verehren. An seiner Seite befinden sich die Reliquien von Maria Magdalena und Martha, ein Stück des Armes, mit dem sie Unseren Herrn bedient hat. Es tut gut zu meditieren, was sich in dieser Familie zugetragen hat, in die Jesus so oft kam, um in allem Schmerz zu trösten. Eines Tages kam Martha tatsächlich zu ihm und sagte: „Herr wärest du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.“ Jesus sagte ihr: „Dein Bruder wird auferstehen.“ Martha lässt sich an den Ort führen, wo man Lazarus beigesetzt hat. Und als er sich hier dem Grab nähert, das den barg, den er so liebte, ist er erschüttert. Der Erlöser vergießt Tränen über dem Grab seines Freundes, und die Umstehenden sagen: „Seht, wie er ihn liebt!“ Jesus sagt indes mit fester Stimme: „Lazarus, komm heraus!“ Und Lazarus, der seit drei oder vier Tagen tot war, erwacht, erhebt sich, und kommt zu seinen Schwestern. Er lebte noch lange mit Martha und Maria, und die Überlieferung berichtet, dass er Bischof von Marseille wurde.

Ich kniete also am Grabmal nieder und ich habe von ganzem Herzen um Erfolg für diese Exerzitien gebetet, für euch alle und für jede im Einzelnen. Ich bat Gott euch etwas von dem zu schenken, was es in dieser Familie gab, von dieser brüderlichen Liebe, von diesem so glühenden Glauben, der zu Jesus sagte: „Wärest du hier gewesen, hätte ich nicht diese Prüfung gehabt.“ – „Aber ich war da“, wird euch der Erlöser antworten. „Oh ja, Herr, ich sehe es jetzt, du warst da, um mich zu trösten.“

Meine Kinder, möge euch Gott Tröstungen schenken, die man nur in diesem vertraulichen Gebet empfängt. Sagt Jesus, der euch segnen wird: „Herr, lehre mich beten, dass ich es als kleines Kind das Gebet stammle, dass ich es als Mädchen begreife und dass meine Seele später in meinem Leben Übung in diesem Gebet habe, dass ich in allen Lagen Zuflucht zu ihm nehme, damit es meine Hoffnung sei, mein Frieden und meine Krone.“