Kapitel vom 08.12.1899: Über die Treue
Meine Freunde, unser Geist ist in hervorragendem Maße ein Geist der Treue gegenüber dem lieben Gott. Ein Diener gebraucht treu seine Zeit, geht sparsam mit dem Geld seines Herrn um, ergreift in schwierigen Angelegenheiten die Partei des Hauses und empfindet im tiefsten Herzen jederzeit eine ehrliche Anhänglichkeit an dieses. Und dem entspricht genau unser Geist Gott gegenüber. So ist der wahre Ordensmann beschaffen, den Bischof Simon unaufhörlich von mir erbittet: „Schicken Sie mir“, so schrieb er mir noch dieser Tage, „gute Ordensleute, die nach dem Direktorium leben. Ohne das verlässt man sich ausschließlich auf seine eigene Kraft, fällt in alle möglichen Fehler und ist allein und ohnmächtig.“
Ohne Unterlass predigte die Gute Mutter die Treue: „Gott ist getreu“, sagte sie. Wenn er etwas verspricht, hält er sein Wort. Seien wir also vollkommen, wie unser himmlischer Vater vollkommen ist, bis in die kleinsten Kleinigkeiten hinein… Was ist schon ein Wort? Nichts, nicht wahr? Sagt ihr es aber aus Liebe zu Gott nicht, wird es zu einer wichtigen Sache. Vielleicht wird eine Seele, die im Begriff steht, in die Hölle zu kommen, gerettet, weil ihr dieses Wort unterdrückt habt. Die Gnade, die ihr durch dieses Opfer der betreffenden Seele erwirkt habt, wird vielleicht für sie zum Anfang des Heiles. Wer vermag schon die Reichweite und Wirkung einer Gnade Gottes zu berechnen? Glaubt mir, meine Freunde, ich bin alt und kenne nicht erst seit heute Ordensleute und Seminaristen. Und so habe ich es erfahren.
Gestern hielt ein Jesuitenpater im Dom eine Predigt über das Werk der Glaubensverbreitung. Um ein Missionar zu sein, bedarf es vieler Dinge, führte er da aus: Wissenschaft, Geld, Mut und Tugend. Dieser Tugend wird man aber nur auf Grund des Gebetes gewürdigt, und die Treue des Missionars ist die sicherste Garantie für Bekehrungen. Am Schluss beglückwünschte er Bischof de Pelacot, dass er die Funktionen deines Bischofsamtes eröffnet hatte durch die Weihe eines Missionsbischofs.
Seien wir also treu, seien wir ernste Männer, die achtgeben auf die kleinen Übungen. Unsere Schutzengel sammeln diese, und eines Tages begegnet ihr ihnen wieder, wenn es darum geht, eine Seele auf den rechten Weg zurückzuführen. Dann wird euch die Gnade zur Verfügung stehen. Wenn ihr bloß wüsstet, was es bedeutet, Priester zu sein… Unser Herr bleibt nicht mehr auf dieser Erde. Der Priester ersetzt ihn. Durch Treue erwirbt man aber die nötige Kraft, die Seelen zu gewinnen, zu retten, zu tun, was unser Herr getan und sein Werk zu vollbringen. Darüber drücken sich die Theologen ganz formell aus. Wie können wir also unserem Herrn helfen? Indem wir gewissenhaft die kleinen, unbedeutenden Dinge verrichten, die unsere Pflicht uns vorschreibt. Denn die kleinen Dinge führen zu den großen. Neulich, glaube ich, sagte ich euch: Die Regierung setzt eine Steuer auf die Streichhölzer. Diese ist zwar sehr gering, für das einzelne Streichholz gar nicht wahrzunehmen. Jeder Raucher aber leistet dazu, ohne es zu ahnen, seinen Beitrag, und der Staat erntet Millionen. Kümmern doch auch wir uns um unseren kleinen „Streichhölzer“! Es geht bei uns weniger darum, große Dinge zu vollbringen als vielmehr darum, kleine gut zu verrichten. Denn diese kleinen führen zu den großen, ja selbst zum Martyrium, indem sie die Seelen stärken und ihren Mut entfachen.
Oh, dass wir doch Gott liebten! Es gibt solche, die ihr Herz nicht zart, sondern gefühllos haben möchten. Doch was sie auch sagen mögen, sie lieben doch jemand, nämlich sich selbst, ihre kleine Person. Wir haben ein Herz, und das ist zur Liebe da: „Gott ist die Liebe.“ Und der hl. Johannes lehrt: „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott.“ Seien wir darum voller Liebe zu Gott und zum Nächsten, wie es unser Herr gewünscht hat. Und wenn wir seinen Willen tun, ist Gott mit uns und wir geben ihn an die Seelen weiter. Unsere bloße Gegenwart und unser Tun führt zur Gottesliebe.
Dahin gelangt man aber nur durch die Betätigung der Treue, durch die hochherzige Annahme der Mühen, Arbeiten und Schwierigkeiten in den gegenseitigen Beziehungen. Das ist alles. Denn dadurch bleibt ihr in Gott und Gott in euch. Wovon hängt eigentlich unser Leben ab? Doch vom fast unmerklichen Schlagen unseres Pulses. Bleibt er stehen, sind wir tot. Mit dem übernatürlichen Leben verhält es sich ebenso: es hängt vom Schlagen unseres Willens im gleichen Takt mit den Anordnungen der göttlichen Vorsehungen ab. Und auf diese Weise wird man im Noviziat glücklich. Und schickte man euch bis an die Grenzen der Erde, ihr würdet euch immer an diese Gnaden eures ersten Ordensjahres erinnern und sagen: Das hat mir der liebe Gott an dem Tag gegeben! Ich blättere in diesem Augenblick einen dicken Band des Herrn Roizard durch, worin er die Berichte über die Preisverteilungen mehrerer Kollegien zwischen 1829 und 1840 gesammelt hat. Es lässt sich dabei feststellen, dass alle Männer, die sich in unserem Jahrhundert ausgezeichnet haben, schon früh begonnen haben (sich auszuzeichnen). Der Anfang entscheidet über alles oder über fast alles. Einmal in der Treue verankert, könnt ihr nicht mehr von ihr loskommen. Seht den hl. Bernhard an, der sagte: Wenn ich nach Clairvaux zurückkehre, spricht jeder Stein zu mir. Die Bäume haben eine Stimme, der Bach, das Tick-Tack der Mühle, der Wind in den hohen Eichen rufen mir die Erscheinungen unserer Lieben Frau ins Gedächtnis zurück sowie die Konzerte der Engel. Glaubt nicht, er habe damit nur Poesie betreiben wollen… Der hl. Bernhard schwebte nicht immer über den Bergen, er verstand es sehr gut, auf die Erde zurückzukehren und Wilhelm de S. Thierry Rede und Antwort zu stehen, als der ihn fragte, wie er denn sein Leben in der Einsiedelei zubringe, wohin ihn der Gehorsam eingesperrt hatte, um seine zerrüttete Gesundheit zu pflegen. „Es geht mir ausgezeichnet“, sagte er. Bisher haben mir vernünftige Menschen gehorcht, jetzt aber bin ich kraft eines geheimen Urteilsspruches Gottes einem unvernünftigen Tier unterworfen.“
Seht ihr, wie man mit Hilfe der Methode des hl. Franz v. Sales sein eigenes Leben führt, und von allem profitiert! Ganz einfach geht man seinen Weg: ich bin ein Ordensmann für den lieben Gott… Anderenfalls, meine Freunde, wäre es wirklich besser, Hufschmied zu sein. Füllen wir also unseren Beruf aus und leben wir in dieser einfachen und hochherzigen Treue, die der Weg ist zum Herzen Gottes, um die Bekehrung der Sünder und die Heiligung der Gerechten zu erlangen. Hat man ein Herz, dann macht man sich an diese Arbeit und tut es. Das ist der beste Beweis einer großen Intelligenz, das macht uns stark für alles, vor allem für den Dienst in den Missionen. Es ist der richtige Weg, reiche Vorräte zu sammeln für die Zukunft, so wie eine elektrische Straßenbahn ganz allmählich die gewünschte Menge Kraft in ihren Akkumulatoren anspeichert.
Glaubt nur nicht, das sei einzig Sache von Überlegungen und Ideen, und glaubt vor allem nicht, das gehe nur Frauen an. Das ist für alle gut. Seht nur den hl. Bernhard oder Bossuet an. Ich hatte vor nicht langer Zeit in Meaux einen Freund, den Abbé Denis, Spiritual der dortigen Heimsuchung. Er war der gelehrteste Priester der Diözese auf dem Gebiet der Lokalgeschichte. Vor allem hatte er den großen Bischof (Anm.: „den Bossuet“) studiert. Er wies mich darauf hin, wie sehr sich Bossuet bemühte um all die tausend Kleinigkeiten des inneren Lebens. Seine Schriften, besonders seine Briefe bewiesen das immer wieder. Desgleichen der hl. Franz v. Sales: Seht nur seine Werke. Seine Schriften und seine kleinen Arbeiten, alles, was bereits veröffentlicht wurde, oder noch wird. Da staunt man über ihre Vielzahl, besonders wenn man die Schwierigkeiten bedenkt, die er fürs Arbeiten hatte und an die Sorgfalt, nichts zu versäumen. Diese Methode, meine Freunde, gleicht der der Alchimisten, die alles in Gold verwandelt.
Gott sei gebenedeit!
